Wer Ballett im Herzen hat In den Theatern wie im Fernsehen lockt über Weihnachten der Tanz

Ballett ist immer Weihnachten wieder ein Thema

Nachts sind nicht alle Katzen grau – und Städte schon gar nicht. Hier ein Blick auf die Ballettmetropole Hamburg zur Weihnachtszeit, hinten links die Hamburgische Staatsoper. Foto: Gisela Sonnenburg

Jeder kennt das: Wenn man in der Fremde nicht ganz allein unterwegs ist, sondern dort geführt wird, dan kann man sich dem Eindruck des Augenblicks bedenkenlos hingeben. Man muss nicht befürchten, den richtigen Weg zu verfehlen oder sich die Route für den Rückweg nicht mehr merken zu können. Der Eindruck des Augenblicks obsiegt: Das bedeutet, dass man alles außer dem, was auf einen einprasselt, außer Acht lässt und nur das anschaut und innerlich fotografiert – sprich auf die geistige Festplatte spielt – was spontan neu und überwältigend erscheint. Das können sogar Kleinigkeiten sein, wie die Farbe einer Haustür oder der Schattenriss einer Häuserzeile. Wie das ferne Geräusch einer quietschenden Bremse oder die Pracht winterlicher Festbeleuchtung. Wenn man Ballett anschaut, wird man ebenfalls so geführt, dass man sich ganz dem Eindruck des Augenblicks überlassen darf. Was daran liegt, dass keine andere Kunstsparte so viele Charakterzüge des Gesamtkunstwerks trägt wie das Ballett: indem Körper, Ausstattung und Musik viel stärker noch als in der Oper oder am Theater detailliert zusammen wirken. Sekunde für Sekunde, Moment für Moment…

Ob im „Schwanensee“ etwa beim Stuttgarter Ballett oder ob in einer der vielen „Nussknacker“-Varianten, die es landauf, landab gibt.

Ballett ist immer Weihnachten wieder ein Thema

Tannenzweige und Eleganz schließen sich ja nicht aus: Das Ballett-Journal wünscht frohe Weihnachten, im Theater wie vorm Fernsehen! Faksimile von Unbekannt: Gisela Sonnenburg

Ob mit John Neumeiers hehrem „Weihnachtsoratorium I – VI“, das auch im Fernsehen läuft, oder ob mit der schrägen „Alice im Wunderland“, die die Bayerische Staatsoper unsicher macht: Weihnachten ist nicht nur das Fest der Liebe, sondern auch das des Balletts.

Wer den österreichischen ORF empfangen kann, erfreute sich bereits morgens am 24.12. am „Nussknacker“ in der Rudolf-Nurejew-Fassung, die das Wiener Staatsballett am 28.12.2017 auch live in der Wiener Staatsoper tanzt.

3sat setzt zur Primetime an Heiligabend, also am 24.12., Eins drauf und beglückt staatenübergreifend mit dieser gar nicht oft genug anzusehenden „Nussknacker“-Aufzeichnung von 2012, die in der Bildregie von Michael Beyer wirklich absolut empfehlenswert ist. Ludmila Konolova und Vladimir Shishov sind hier die Stars (mehr darüber bitte unter: www.ballett-journal.de/tv-termine-nussknacker-nurejev/). Da macht es gar nichts, dass dieses Vergnügen genau vor zwei Jahren an derselben Stelle geboten wurde, denn wenn etwas richtig gut ist, darf man es auch gern wiederholen und wiederholen und wiederholen…

Ballett ist immer Weihnachten wieder ein Thema

Juchee zur Weihnachtszeit: Springlust der drei Chinesen ohne Kontrabass im „Nussknacker“ von Rudolf Nurejew beim Wiener Staatsballett, zu sehen unter anderem Heiligabend auf 3sat. Aber bitte! Foto: Wiener Staatsballett

Dornröschen“ und „Schwanensee“ vom Royal Ballet aus London werden beim ORF am 25.12. und 26.12. jeweils am Morgen folgen, somit ergibt sich frühstücksnah die Auswahl unter den drei großen Klassikern, die von der unverzeihlich genialen Musik von Peter I. Tschaikowsky begleitet und geleitet werden. Österreich erscheint in dieser Hinsicht wirklich (noch) als vorbildliche Kulturnation!

arte holt dann spät nachts am Heiligabend bzw. früh morgens am Ersten Weihnachtstag auf, was gerade recht ist, wenn man sich ab 1.20 Uhr vorm Zubettgehen noch in aller Ruhe vom allgemeinen Festtagstrubel erholen möchte.

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Das „Weihnachtsoratorium I – VI“ von John Neumeier beinhaltet viele Szenen, die an Weihnachten statt finden könnten, von Begegnungen mit Engeln über das traurige Los eines Obdachlosen bis zu Tango-Anklängen. Ja, und einen kleinen Weihnachtsbaum gibt es auch! Foto: Holger Badekow / Hamburg Ballett

Es läuft (und zwar auch online auf arte.tv, sogar bis zum 31.12.2017): Die erste Hälfte vom „Weihnachtsoratorium I – VI“ von John Neumeier mit dem Hamburg Ballett, in der Besetzung von 2014, mit Lloyd Riggins und Anna Laudere in den Hauptpartien, während man die aktuellen Neubesetzungen des ganzen Stücks etwa mit Edvin Revazov oder mit Yaiza Coll am 26.12. und am 29.12. in der Hamburgischen Staatsoper live erleben kann.

Primaballerina Hélène Bouchet, die eigentlich zwischen den Feiertagen aus der Babypause auf die Bühne zurück kehren wollte, gönnt sich indes noch eine Verlängerung ihrer scheinbaren Auszeit – zur Freude des Nachwuchsstars Yaiza Coll.

Die Stimmung im Stück ist mal festlich, mal getragen, manchmal besinnlich, auch ergreifend – aber meistens so fröhlich und im Bach‘schen Sinne mitreißend, dass ich diese Kreation mal zu Recht ein getanztes Anti-Depressivum genannt habe.

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„Der Nussknacker“ entwickelt sich hier sichtbar von einer kleinen Holzfigur zum ausgereiften Prinzen: in der Version von Nacho Duato beim Staatsballett Berlin. Allerdings nicht am Ersten Weihnachtstag, denn diese beiden Vorstellungen müssen entfallen! Foto: Fernando Marcos

Etwas ganz anderes, aber ebenfalls traditionell Weihnachtliches und auch unbedingt Fröhliches würde die Ballettfans und solche, die es werden wollen, in Berlin verführen, wenn dort nicht eine Havarie in der Deutschen Oper den Vorstellungsausfall erzwingen würde:

Der Nussknacker“ in der teils nostalgisch-poetischen, teils modern-abgespeckten Version von Nacho Duato sollte am Ersten Weihnachtstag gleich zwei Mal locken, nachmittags und abends, zum Staatsballett Berlin in die Deutsche Oper Berlin. Iana Salenko und Dinu Tamazlacaru waren als Stars am Nachmittag geplant, während am Abend Ksenia Ovsyanick und der Newcomer (und von mir schon ausgiebig belobigte) Murilo de Oliveira reüssieren sollten.

Doch dann kam just eben, am späteren Heiligabend, die Nachricht, dass diese beiden Vorstellungen entfallen müssen! Mehr dazu in einem gleich folgenden Extra-Artikel im Ballett-Journal.

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Mit der Anmutung pastellfarbener Playmobil-Figuren: „Der Nussknacker“ von Benjamin Millepied beim Ballett Dortmund hat mal ganz andere Tänze als das klassische Kosakentrio auf Lager. Videostill vom Trailer / Ballett Dortmund: Gisela Sonnenburg

Am Zweiten Weihnachtstag zeigt dann das Dortmund Ballett die ganz anders beschaffene, ein wenig an Ballett im pastellfarbenen Playmobil-Format erinnernde, hypermoderne „Nussknacker“-Version von Benjamin Millepied. Liebenswerte Satire bricht hier die strenge klassische Choreografie auf, und die Kostüme verleihen den Tänzern die Anmutung gegossener, aber nicht starrer Plastik-Skulpturen. Wirklich mal was anderes!

Das Semperoper Ballett in Dresden hingegen verführt immer wieder aufs Erstaunlichste mit seiner speziellen, plüschig-bombastischen Striezelmarkt-„Nussknacker“-Fassung von Aaron S. Watkin und Jason Beechey. Am Ersten Weihnachtstag, nachmittags wie abends, nochmal zu sehen, aber damit leider auch schon zum letzten Mal in dieser Saison.

Ballett ist immer Weihnachten wieder ein Thema

Den Leserinnen und Lesern vom Ballett-Journal sei eine glückliche Hand bei der Auswahl ihres Weihnachtsballettprogramms gewünscht – notfalls helfen ja auch Videos oder Youtube – und insgesamt wünscht Gisela Sonnenburg Ihnen allen: frohe Weihnachten!!! Foto: privat

Wer allerdings Pop-Gefühle zu Weihnachten hat – und das ist durchaus legitim – der begibt sich in den Berliner Admiralspalast, um das kubanische Ballet Revolución mit seiner neuen Ultrashow zu sehen. Na, da wird zu einer Live-Band, die bekannte Hits spielt, das Thema Ballett mal so richtig auf den Kopf gestellt, durchgeschüttelt und umgerührt: Unvergesslich gut tanzen die jungen Talente mit kubanischem Rhythmus im Blut. Wie gemacht für einen Vollrausch, bestehend aus Tanz, Tanz, Tanz, yeah!

Das Stuttgarter Ballett frönt hingegen, ebenfalls am Ersten Weihnachtstag, von allem Frömmigkeits- und Fröhlichkeitsrummel um sich herum ganz und gar unbelastet, der großen, zeitlos gültigen, herzzerreißend schönen Tragik: „Schwanensee“ in der urtraurigen Version von John Cranko wird mit der Superstarbesetzung von Alicia Amatriain und Friedemann Vogel gegeben. Wer eine der Restkarten ergattert, hat großes Glück!

Wer sich vor der bitteren Wahrheit, dass in der Welt zumeist das Böse siegt, lieber noch ein kleines Weilchen drücken will, der kann das bestens am Zweiten Weihnachtstag im Münchner Nationaltheater mit der kunterbunten „Alice im Wunderland“ von Christopher Wheeldon: Das Bayerische Staatsballett tanzt die Klamotte nach dem tiefsinnigen Kinderbuch von Lewis Carroll mit sehr viel Schwung, allen voran die fantastische Ksenia Ryzhkova bzw. die zierliche Maria Shirinkina als Titelfigur.

http://www.bb-promotion.com/veranstaltungen/ballet-revolucion/

„Chaplin“ – unerverkennbar! Mario Schröder kreierte die ballettöse Collage rund um den Filmstar, und der mdr zeigt die Aufzeichnung mit dem Leipziger Ballett. Videostill vom Trailer / Leipziger Ballett: Gisela Sonnenburg

Spät in der Nacht gibt es dann noch etwas zum Staunen und Grübeln daheim im Puschenkino mit dem mdr, dem Fernsehen des Mitteldeutschen Rundfunks, beginnend um 0.50 Uhr am 26.12.: „Chaplin“ heißt die Collage rund ums Leben und Wirken des frühen Filmstars Charlie Chaplin, choreografiert von Mario Schröder für sein Leipziger Ballett. Die Aufzeichnung von 2013, sehr schön von Sonia Paramo filmisch dokumentiert, lässt den kleinen großen Filmrevoluzzer mit typischem Schnurrbärtchen, Melonenhut und dürrem Stock durch eine melodramatische Szenerie mit viel tiefblauem Licht watscheln.

Der Tanz subsummiert dazu Momente aus Chaplins Kampf gegen das Konservative und Assoziationen zu seinem Werk, absurder Klamauk wie eine soldatische Massenrasur ist inklusive!

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Wer Ballett im Herzen hat, wird über Weihnachten also hoffentlich von innen gewärmt – und wird genügend erbauliche Eindrücke finden, denen er sich rückhaltlos überlassen kann.

In diesem Sinne: Frohes Fest!
Gisela Sonnenburg

Termine und passende Texte: siehe „Spielplan“

 

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