Das Treffen der Grandseigneurs Ivan Liška empfängt John Neumeier - sowie andere Stars der Ballettwelt – auf der Terpsichore-Gala XII beim Bayerischen Staatsballett

Die Terpsichore-Gala war ein unvergesslicher Abend.

Ivan Liska, Gastgeber in München, in der Mitte, mit John Neumeier aus Hamburg und der entzückenden Tänzerin Katherina Markowskaja vom Bayerischen Staatsballett. Was für ein bewegendes Ende für eine Gala! Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Diese Umarmung ist historisch: Am Ende der Terpsichore-Gala XII während der BallettFestwoche des Bayerischen Staatsballetts umarmten sich der Münchner Ballettdirektor Ivan Liška und sein früherer Boss, der Hamburger Ballettintendant John Neumeier, und viele im Publikum dachten wohl daran, dass mit Liškas Abgabe seines Postens zum Spielzeitende eine Ära enden wird. Achtzehn Jahre lang prägte und formte Liška das deutsche Kulturleben, indem er das Bayerische Staatsballett zu dem machte, was es heute ist: eine hoch renommierte Compagnie mit einem breiten Repertoire, das die Klassik, die Neoklassik, die Moderne und das Zeitgenössische gleichermaßen umfasst. Auch Neumeier würdigte in seiner bewegenden Ansprache diese Bandbreite, und Liška wiederum dankte ihm mit seiner Erinnerung daran, dass er, bevor er der Berufung nach München folgte, zu seinem damaligen Ballettdirektor ins Büro ging und ihn um Rat, vielleicht auch um Erlaubnis fragte. Der geniale John Neumeier riet – oder befahl – Ivan Liška, das Direktorat in München anzunehmen. „Ein sehr guter Rat“, sagte Liška am gestrigen Donnerstag im Anschluss an die Gala. Tränen gab es auf der Bühne zwar nicht, aber die Rührung und die Begeisterung erreichten einen Höchststand.

Die Terpsichore-Gala war ein unvergesslicher Abend.

Ivan Liska nach der Terpsichore-Gala XII in München: Er weiß, was er geleistet hat – und seine Compagnie wie auch sein Publikum und auch die ganze Ballettwelt müssen es ihm danken! Foto: Gisela Sonnenburg

Vorab hatte es denn auch – unter der sensiblen, sehr taktsicheren musikalischen Leitung des Abends von Myron Romanul – einen frohgemuten Walzer gegeben, den „Frühlingsstimmen-Walzer“ von Johann Strauß. Dazu wurde eine witzig-informative Dia-Show präsentiert, die mit prägnanten Schnappschüssen Ivan Liškas Werdegang mit dem Bayerischen Staatsballett nachzeichnete.

Er hatte die Truppe 1998 von Konstance Vernon – einer der ganz wenigen weiblichen Ballettdirektorinnen – übernommen. Ein gewisses feministisches Flair blieb dem Bayerischen Staatsballett bis heute erhalten, nicht zuletzt durch seine außerordentlich emanzipierte Weltklasse-Primaballerina Lucia Lacarra. Aber auch die stellvertretende Direktorin und Dramaturgin Bettina Wagner-Bergelt, die mit ihrem klugen männlichen Kollegen Wolfgang Oberender, der ebenfalls als Stellvertreter von Liška agiert, für eine bildungsträchtige, aufklärende Ballettdramaturgie sorgt, steht für Liškas Linie der Fortschrittlichkeit. Was man durchaus auch als Resultat der Prägung durch John Neumeier sehen darf.

Die Terpsichore-Gala war ein unvergesslicher Abend.

Von ihm hat vielleicht doch ein Stück Tanz gefehlt auf der Terpsichore-Gala XII in München: John Neumeier, genialer Tanzschöpfer vom Hamburg Ballett. Dafür gab es am Vorabend sein weltbewegendes Ballett „Die Kameliendame“ bei der BallettFestwoche zu genießen. Foto: Gisela Sonnenburg

Das Fach der Ballettdramaturgie wird ja leider an vielen Theatern unterschätzt, und auch viele Choreografen unterschätzen die Rolle des Intellekts als Mittler zwischen Bühnentanz und Publikum. Dabei wird übersehen: Nur eine intelligente Dramaturgie vermag das Ballett aus der Niederung des rasch vergänglichen Genusses herauszuholen. Das wusste schon Marius Petipa, der stets auf Hintergründigkeit und Vielschichtigkeit seiner Libretti achtete.

Bei Ivan Liška und seinem Bayerischen Staatsballett war daran denn auch nie ein Mangel. Die Fotos auf der Dia-Show zeigten den Erfolg so solider, dennoch nicht verkopfter Tanz- und Denkarbeit: Gastspiele bis in den Oman, Treffen mit damals lebenden Legenden wie Maja Plisetzkaja, Ehrungen und Auszeichnungen – und, vor allem, immer wieder ergreifende Aufführungen von Balletten, die sich außer Ivan Liška mitunter niemand in Deutschland zutraute.

Die Terpsichore-Gala war ein unvergesslicher Abend.

Eine historische Umarmung an einem legendären Abend: John Neumeier und Ivan Liska nach der letzten Terpsichore-Gala beim Bayerischen Staatsballettt unter Liskas Ägide – sie fand auch ihm zu Ehren statt. Foto: Gisela Sonnenburg

John Neumeier erinnerte später in seiner Rede auch daran, wie die Aufstieg Liškas zu einem der bedeutendsten Tänzer in Deutschland begonnen hatte: Neumeier sah ihn in München tanzen und konnte nicht anders, wie er es sagte, als ihn zu fragen, ob er nach Hamburg kommen und dort den Lysander in „Ein Sommernachtstraum“ mit ihm kreieren wolle. Man möchte nicht darüber nachdenken, was geschehen wäre, wenn Liška, aus was für einem Grund auch immer, abgelehnt hätte. Er wurde unter Neumeiers Ägide ein Superstar der sanften Souveränität; zwar keiner, der im Übermaß auf Galas herumgereicht wurde (das wird bis heute kein Tänzer des Hamburg Balletts), aber einer, der seine unverwechselbare Persönlichkeit in die Rollengestaltung einzubringen wusste.

Als Ballettdirektor zog er Primaballerinen wie Lucia Lacarra und Lisa-Maree Cullum heran und sorgte dafür, dass stets ein großer Pool an herausragenden Talenten die Truppe bestückte. Mitunter bedauerte man, dass nicht jeder Tag in München ein Balletttag mit Aufführung sein kann – die vielen tollen Tänzer hätten es verdient, ihre Künste so oft wie nur irgend möglich zu zeigen.

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Ivan Liska mit den Blumen, die ihm sein früherer Boss John Neumeier (ganz re.) überreichte. Foto: Gisela Sonnenburg

Die Terpsichore-Gala XII nun, benannt nach der altgriechischen Muse des Tanzes, zeigte, dass die bayerische Metropole auch ein Magnet für auswärtige Ballettstars sein kann.

Den bezaubernden Anfang – nach der Dia-Show – machten Iana Salenko (aus Berlin und London) und Steven McRae (vom Royal Ballet in London): mit dem ehrwürdig-überdrehten, für Gala-Abende wie gemachten „Tschaikowsky-Pas de deux“ des russisch-amerikanischen Altmeisters George Balanchine.

Vor allem McRae schlug mit hohen Sprüngen in den Bann – Balanchine hätte gestaunt, was heute technisch alles machtbar ist, merkt man seiner Choreografie von 1960 doch an, dass sie eigentlich mit halber Höhe auskommen und dennoch brillant wirken möchte. McRae aber versteht es, die Neoklassik Balanchines neu zu interpretieren und ihr weiteren Witz hinzuzufügen – einen gewissen Schalk darf man Balanchine ohnehin nicht absprechen, auch wenn seine Linien auf strikte Geradlinigkeit und strenge Erhabenheit abstellen. Aber der Wiederholungsimpetus in seinen Stücken strotzt oftmals nur so vor Trotz und offenkundiger Penetranz – und auch, wenn er den Tänzern extrem viel Schnelligkeit abverlangt, so ist sein Ziel doch niemals technische Protzerei, sondern immer ein zu vermittelnder Inhalt.

Was McRae an blitzartiger Schnelligkeit bei den Chainés hinlegt, toppt dennoch alles bisher zu sehende auf diesem Gebiet. Wow! Und auch seine Cabrioles, zur mitreißenden „Schwanensee“-Festmusik wie aus dem bekannten Ballettmärchen importiert wirkend, reißen mit und vermitteln einem das Gefühl, die köstlichen Tiefen und auch wilden Abgründe des klassischen Tanzes auch nach vielen Jahren intensiver Beschäftigung noch immer nicht wirklich erschöpfend zu kennen.

Die Terpsichore-Gala war ein unvergesslicher Abend.

Iana Salenko und Steven McRae auf der Terpsichore-Gala XII in München: Hinreißendes von Balanchine! Foto: Charles Tandy

Massiver Szenenapplaus für McRaes Rotunden an Grands jetés spricht dann natürlich für sich – wer da nicht glänzende Augen bekommt, hat für Ballett wohl kein Herz.

Etwas schwerer haben es in Balanchine-Stücken wie diesem die Damen. Die virtuosen Piroueten sind eingebettet in verzwickte kleinere Kombinationen, und die effektvoll hoch zu werfenden Beine müssen sich der Choreografie nach zumeist stärker in Bodennähe aufhalten. Iana Salenko verzauberte allerdings mit ihrem niedlich-poussierlichen Stil, mit ihrer alterslosen Jungmädchenhaftigkeit, die das Kecke, das Kesse, auch mal das Frivole betont. Sehr schön.

„Déja vue“ war dann ein ganz modernes Stück von Petr Zuska, das von Alina Nanu und Giovanni Rotolo aus Prag brillant einstudiert und vorgetragen wurde. Zuska, der Choreograf, ist seit 2002 Ballettdirektor vom Prager Nationaltheater, aber 1998 tanzte er in München im Bayerischen Staatsballett. „Déja vue“ ist ein witzig-absurder Paartanz, der zuerst ohne Musik funktioniert: das Paar scheint im Gegenwind zu gehen, kommt dabei gut voran, bis Musik einsetzt und alles kompliziert wird.

Die Terpsichore-Gala war ein unvergesslicher Abend.

Eine Impression vom Schlussapplaus nach der Terpsichore-Gala XII in München: Es war fabelhaft! Foto: Gisela Sonnenburg

Missverständnisse und Trennungen regieren fortan die Zweisamkeit – als die Frau dem Mann sein Hemd abstreift (beide tragen rotorangene Töne wie einst die Sannyasin-Jünger) und es selbst anzieht, kulminiert der Streit solchermaßen in einem symbolischen Identitätsraub.

Fortan tanzen sie erstmal einzeln, bis der Mann auf die Idee kommt, auf Spitzenschuhen hereinzutänzeln. Sehr gekonnt, bis er absichtlich hinfällt, dennoch aber macht er weiter – und besiegt die Frau nicht nur als vermeintlich bessere Ballerina, sondern auch, indem er ihren Rock abzupft und sich als Kopfschleier aufsetzt. Darum ist die grammatische Form von „Déja vue“ hier ja auch weiblich gewählt…

Die Terpsichore-Gala war ein unvergesslicher Abend.

Die Paare aus Prag beim Schlussapplaus vorm Vorhang nach der Terpsichore-Gala XII in München: Zuzana Simáková, Ondrej Vinklát, Alina Nanu und Giovanni Rotolo (von li. nach re.). Foto: Gisela Sonnenburg

Doch, ja, man muss lächeln und schmunzeln und an all die Feierabendväter denken, die sich auf der Spielplatzbank als Helden des Jahrhunderts fühlen.

Apropos Helden! Das heldische Anti-Liebespaar Tatjana und „Onegin“ bot das nächste Highlight. Polina Semionova, die große Gastballerina aus New York, und Jason Reilly, die männliche Allzweckwaffe des Stuttgarter Balletts, zeigten den Schluss-Pas de deux des dramatischen Bestsellers von John Cranko. Sie tanzen diese Partien ja auch ganze Abende lang, etwa in Berlin. Jetzt aber ging es um die Beschwörung einer Liebe, die nicht in die Lebenskonzepte der Liebenden passt: der Mann, der die Frau einst verschmähte und erst, als sie anderweitig glücklich verheiratet ist, ihr aufdringliche Avancen macht, wird von ihr zwar abgewiesen – aber erst nach einem prickelnd-erotischen Paartanz, den Reilly dieses Mal nicht ganz so hervorragend hinlegte, den Polina aber dafür umso stärker mit ihrer sinnlichen Energie zu würzen wusste.

Ach, Polina! Dass die beiden hochnot schweren „Hexensprünge“ (vertikale Spagatsprünge aus dem Liegen an den Händen des Partners) kurz vor Ende etwas mickrig gerieten, lag vermutlich an Jason Reilly – hier ist der Mann als Mann totalement gefordert, zumal die Musik erbarmungslos auch die Partitur es Tanzes voran treibt.

Die Terpsichore-Gala war ein unvergesslicher Abend.

Polina Semionova, hier mit Friedemann Vogel, beim Schlussapplaus nach der Terpsichore-Gala XII in München. Foto: Gisela Sonnenburg

Das solistische Hin- und Hergerissensein von Tatjana nach ihrer Entscheidung gegen den Liebeswütigen machte all das aber wieder wett: Kaum eine Tänzerin beherrscht es so einfühlsam und mitreißend wie Polina Semionova. Jede Frau, die jemals im Zweifel war, ob sie nun solle oder nicht, wird hier mit Polina die Tränen der Reue vergießen! Und doch: Es überzeugt am Ende ihr Stolz, sie selbst wie das Publikum: Tatjana hat sich so entscheiden müssen, aus ihrer Situation heraus, und langsam, ganz langsam senkt diese sichtlich potente Frau nach dem Sieg über sich selbst ihre zu Fäusten geballten Hände… Bravo!

Steven McRae zeigte dann den von ihm für sich choreografierten „Czardas“ als Steptanz – überraschend modern, dennoch folkloristisch, zur aufgeheizt aufjaulenden Violine, ungarisch-pathetisch und modern-brillant ist dieser Tanz. Am Ende stürzt sich der Tänzer zu Boden auf den Bauch und vollführt mit dem linken Bein eine Attitude im Liegen, wobei sein Fuß hier fast seinen Kopf berührt – der Ballerino als eine Art Schlangenmensch. Doch, ja, man staunt und ist begeistert – auch wenn, das muss mal gesagt werden, auch hier eine die Kreation begleitende Dramaturgie sicher zu einem noch besseren Ergebnis geführt hätte. Denn die Gefahr, dass technische Kunststückchen nur um ihrer selbst funkeln und glitzern, ist einfach zu groß geworden im Profitanz, als dass man Tanz pur noch allen Ernstes gutheißen kann.

Die Terpsichore-Gala war ein unvergesslicher Abend.

Ivan Liska applaudiert seiner Compagnie und den Stargästen: nach der Terpsichore-Gala XII in München. Foto: Gisela Sonnenburg

Das „Birthday Offering“, das „Geburtstagsangebot“, das Frederick Ashton einst für die gute alte Queen choreografierte, strotzt denn auch nur so vor Bezügen zu anderen Balletten. Das Bayerische Staatsballett gratulierte hiermit aber nicht der Königin von England, sondern seinem (scheidenden) Chef. Und wie!

Zwei große Kandelaber schmücken die Bühne, ein Leuchter kommt aus dem Schnürboden. Feststimmung! As much as possible in a gala!

Aber: Himmelsblau leuchtet dazu der Horizont, als wäre man bereits im Jenseits. Raffiniert ausgedacht!

Es folgt ein Auftanzen von Paaren, die sämtlichst Prinzen und Prinzessinen (und zwar auch in den gleichen Kostümen) ergeben. Die Damen in weißen Tellertutus, mit Glitzerdiadem auf den süßen Köpfchen, und die Herren in Schwarz, mit Pailletten auf der Brust, muten an wie Nachzeichnungen oder auch Überzeichnungen der abstrakten Ballette von George Balanchine. Auch choreografisch zitiert und toppt der Brite Ashton den New Yorker Kollegen – und fügt das typisch Englische, das etwas Süß-Verspielte an. Ganz so, als wolle er sagen: Lieber George, du hast in vielem Recht, aber man kann da auch noch mehr zu sagen.

Die Terpsichore-Gala war ein unvergesslicher Abend.

Szene vom Schlussapplaus nach der Terpsichore-Gala XII in München: Ivan Liska und seine Tänzer. In Weiß mit Tellertutu und Diadem im Haar das Outfit der Damen in „Birthday Offering“. Foto: Gisela Sonnenburg

Sieben solcher Paare zeigen nun, was sie an strengen Linien und lieblichen Ports de bras drauf haben. Der Coach Christopher Carr und die Münchner Ballettmeisterin Colleen Scott gaben sich alle Mühe, ihre Paare auf künstlerischen Hochglanz zu trimmen. Tatsächlich brillierten vor allem Katherina Markowskaja und Jonah Cook, Iva Amista und Adam Zovnar, Mai Kono und Matej Urban. Auch Ekaterina Petina und Maxim Chashchegorov gewannen dieser diffus-feierlichen Tanzpoesie eine Ashton absolut würdige Körperlichkeit ab. Daria Sukhorukova und Cyril Pierre zeigten dazu als „Vortänzer-Paar“ vor allem die Posenhaftigkeit der Ashton’schen Schritte – angesichts des repräsentativen Festcharakters des Stücks kein Tadel.

Es ist ja immer so eine Sache mit Stücken für Geldgeber und gesellschaftliche Größen. Als Musen taugen tolle Straßenmädchen und muntere Matrosen bekanntlich eher…

Die Terpsichore-Gala war ein unvergesslicher Abend.

Ivan Liska, seit achtzehn Jahren Ballettdirektor in München, beim Schlussapplaus nach der Terpsichore-Gala XII in München. Bewegend! Foto: Gisela Sonnenburg

Nach der Pause kam Jazziges von Richard Siegal: „The New 45“ bezieht sich auf das Jahr 1945 und auf die Jazzmusik, die damals eine Rolle spielte. Mit Oscar Peterson und Benny Goodman wollte man den Zweiten Weltkrieg gedanklich überwinden, vielleicht auch verdrängen und vergessen – und sich dem Swing und seinen vergnüglichen Zwängen ergeben.

Und es bestachen die jungtänzerischen Darbietungen, denn vier Tanztalente der Münchner Junior Company – vom Bayerischen Staatsballett II, das Ivan Liška in der Saison 2010/2011 erfolgreich gründete – absolvierten die einzelnen Stücke mit Verve und unglaublicher Fitness. Marta Cerioli, Simon Jones, Flemming Puthenpurayil und vor allem Carl van Godtsenhoven (der in Hamburg in der Ballettschule von John Neumeier ausgebildet wurde) brachten das Publikum zunächst ganz schön zum Kochen, wenn auch der Drive der Choreografie dann ein bisschen erschlaffte.

Die Terpsichore-Gala war ein unvergesslicher Abend.

Ivan-Liska-Entdecker John Neumeier prägt als Choreograf und als Ballettdirektor, als Balletintendant und als sein eigener Dramaturg die Welt des Bühnentanzes: und zwar nachhaltig wie kein anderer! Foto vom Schlussapplaus in München: Gisela Sonnenburg

Einen durchaus intensiv zu nennenden Frauenpaartanz sollten danach Zuzana Zahradniková und Daria Sukhorukova: mit einem Ausschnitt aus „Zugvögel“ zeigen; das Stück wurde vom wie Ivan Liška aus Prag stammenden Jiří Kylián 2009 für das Bayerische Staatsballett kreiert. Sanftheit und Elegie bestimmen hier das Fluidum, und davon bekommt man ja eigentlich nie genug, auch, wenn unter der Oberfläche brodelnde zwischenmenschliche Probleme wie hier den Auslöser für die Kreation bilden mögen. Leider entfiel dieser Beitrag, aufgrund einer Erkrankung von Zuzana Zahradniková – wir wünschen gute Besserung!

Ein absoluter Knüller war dann Jonah Cook vom Bayerischen Staatsballett in einer Choreografie des Hausherrn Ivan Liška: „Ricercare“, was nicht englisch, sondern italienisch ist und „Suchen“ heißt, ist ein tollkühn-sehnsuchtsvolles Stück nach Musik von György Ligeti. Von Ligeti stammt übrigens auch die Musik für den Elfenwald in John Neumeiers „Ein Sommernachtstraum“, den Liška mit kreiert hat – und ein bisschen erinnerte Cooks hinreißend schmissig getanztes Solo an die furiose Figur des Puck bei Neumeier.

Man hätte es glatt gern noch einmal gesehen… Wer immer demnächst noch einen Burner für eine Gala sucht, der bleibe hier am Ball!

Die Terpsichore-Gala war ein unvergesslicher Abend.

Von li. nach re. in der ersten Reihe: Jason Reilly, Polina Semionova, Friedemann Vogel, Maria Eichwald und Gastgeber Ivan Liska beim glücklichen Schlussapplaus nach der Terpsichore-Gala XII in München. Foto: Gisela Sonnenburg

Ganz andere Bezüge bot dann „Lyrical“ von Petr Zuska zu ukrainischen Volksballaden; Zuzana Simáková und Ondrej Vinklát tanzten es, als sei es ein Stück aus Berlin. Tatsächlich ist dieser Pas de deux eindeutig von dem großen Spanier Nacho Duato geprägt – selten ist sonst zu sehen, wie stark ein zeitgenössischer Choreograf Schule machen kann. Da ist man versucht zu fragen, wieso dieser Bezug nicht im Titel des Stücks auftaucht.

Denn die auch nachweisbare Ähnlichkeit bestimmter Hebefiguren und Laufarten im Stück mit den wichtigsten choreografischen Kennzeichen von Nacho Duato sind allzu offensichtlich, um verschwiegen zu werden.

„Hommage à Nacho Duato“ wäre hier der passende Untertitel für das immerhin modern-virtuose Stück gewesen. Ohne diesen Hinweis wirkt die Sache aber doch ein wenig wie ein Plagiat, zwar nicht im juristischen Sinn, aber im Sinn einer Nachdichtung.

Inhaltlich handelt es sich um den Alltag der Liebe. Mann und Frau finden sich hier und verlieren sich, finden sich wieder und meistern komplizierte Spannungsverhältnisse. Ein Stück über die Liebe, wie sie sein soll, ist es – ohne euphorische gegenseitige Anbetung, aber auch ohne jenen Respektsverlust, an dem so viele zeitgenössische Ehen und Freundschaften zerschellen.

Die Terpsichore-Gala war ein unvergesslicher Abend.

Herzlicher Schlussapplaus für das Bayerische Staatsballett nach der Terpsichore-Gala XII in München! Foto: Gisela Sonnenburg

Ein ganz anders Beziehungsmodell kam dann aus Paris, von der dortigen Opéra, die gerade einen Wechsel in der Leitung des Balletts vorbereitet, von Benjamin Millepied weg und hin zu Aurélie Dupont, der ehemaligen Startänzerin, der man jetzt – endlich ist damit wieder eine Frau Pariser Ballettchefin – die Compagnie anvertraut.

„Esmeralda“, das opulente klassische Marius-Petipa-Ballett nach dem Roman „Der Glöckner von Notre-Dame“ von Victor Hugo, bot nun mit Karl Paquette und Laura Hecquet einem Brillanzpaar erster Güte Gelegenheit zu einer Parade des frühen Miteinanderangebens.

Die Terpsichore-Gala war ein unvergesslicher Abend.

Jubel! Trubel! Rührung! Ivan Liska und seine Gäste beim Schlussapplaus nach der Terpsichore-Gala XII in München. Foto: Gisela Sonnenburg

Solche Stücke haben es derweil schwer in den heutigen Galas – früher, in den 60ern und 70ern, waren solche Stücke vielleicht der Renner, heute aber vermisst man bei ihnen die Seele. Dennoch war es ein Genuss, Paquette mal wieder zu sehen – er ist einer der charmantesten Ballerini unserer Zeit, und seine Art zu partnern ist weltweit einmalig, so flirrend und knisternd vor Bezugnahme auf seine Partnerin.

„Manon“! Das war nun der unangefochtene Höhepunkt der diesjährigen Terpsicherore-Gala, mit Friedemann Vogel, dem unerreichbar Köstlichen vom Stuttgarter Ballett, und Maria Eichwald, der versierten, erfahrenen, ätherischen Primaballerina in der Titelpartie.

Sie tanzten den Schluss-Pas de deux aus dem Ballett von Kenneth McMillan, und damit die Sterbeszene der Manon.

Die Terpsichore-Gala war ein unvergesslicher Abend.

Oh, was für eine Liebe in „Manon“! Maria Eichwald und Friedemann Vogel tanzten den Schluss-Pas de deux auf der Terpsichore-Gala XII in München. Foto: Charles Tandy

Oh, wie wunderbar leicht liegt sie in seinen Armen, zumeist senkrecht empor gehoben, obwohl dieses Paar sich ja sichtlich in schlimmsten Kalamitäten befindet. Auf eine Strafkolonie verbannt, muss Manon, die feudale Prostituierte, im zerrissenen Kostüm mit geschorenem Haar tanzen. Ihr Geliebter Des Grieux folgte ihr aus Liebe – und versucht nun, ihrem Leben eine letzte Süße zu verleihen.

Achach, sie lieben sich ja so sehr! Friedemann Vogel ist aber auch der führende Liebhaber geworden, was die Ballettbühnen angeht, er hat darin Roberto Bolle wohl doch schon abgelöst.

Die Terpsichore-Gala war ein unvergesslicher Abend.

Maria Eichwald und Friedemann Vogel beim Schlussapplaus auf der Terpsichore-Gala XII. Foto: Gisela Sonnenburg

Stürmisch, sanft, sensibel, draufdrängerisch, zynisch, dennoch einfühlsam: Friedemann Vogel hat das alles drauf, er kann, was nur sehr wenige Ballerini können – mit ganz wenigen Gesten und Schritten sehr stark anrühren.

Sein Des Grieux ist denn auch einer wie aus dem Bilderbuch: verliebt über alle Maße, dennoch hellwach und selbstbewusst, was auch die Tragik seiner Liebe angeht. Man spürt, dass sich hier ein Künstler mit seinen Rollen beschäftigt, bevor er sie einstudiert – und wer Friedemann Vogel nie in einer seiner Paraderollen (etwa in „Onegin“ oder „Romeo und Julia“) sieht, der hat die aktuelle Ballettwelt ein ganz schönes Stück weit verpennt.

Natürlich würde man Friedemann Vogel auch gern mal mit Melissa Hamilton in „Manon“ sehen, sie tanzte diese Rolle international mit bestem Erfolg und ist derzeit als Erste Solistin in Dresden aktiv, so sie im November 2015 die „Manon“ mit einer exquisiten Frische belebte.

Die Terpsichore-Gala war ein unvergesslicher Abend.

Maria Eichwald: supergroße Kulleraugen sind das Markenzeichen der ätherischen Ballerina, die bis 2014 Erste Solistin beim Stuttgarter Ballett war. Foto vom Schlussapplaus nach der Terpsichore-Gala XII: Gisela Sonnenburg

Maria Eichwald ist eine andere Manon, bei ihr zählt die Hingabe an den Mann, an den geliebten Des Grieux, stärker als die Liebe zur Liebe und zum Leben insgesamt. Die absolute Lebensfreude, die Manon ausmacht, ist im dritten Akt kurz vor dem Tod der literarischen Figur nun aber ohnehin schon weitgehend verblichen: Es zählt das langsame Hinübergleiten in eine jenseitige Sphäre; so gewalttätig ein realer Erschöpfungstod auch sein mag, so stark ist er im Ballett und im ihm zu Grunde liegenden Roman des Abbé Prévost romantisiert.

Die Terpsichore-Gala war ein unvergesslicher Abend.

Ein unvergesslicher Auftritt mit „Manon“ – und dann stürmischer Applaus: Maria Eichwald und Friedemann Vogel nach der Terpsichore-Gala XII in München. Foto: Gisela Sonnenburg

Ein letztes Mal noch wirft Des Grieux seine große Liebe empor, sie stirbt im Flug – und es bleibt ihm nichts, als sie sanft zu betten und insbrünstig zu beweinen. Friedemanns Trauer ist so glaubhaft wie seine Verliebtheit – ah, man möchte dieses wundervolle Stück Weltballett zum Trost dann wenigstens gleich noch einmal sehen.

Leider ist diese Pariser Sitte der 70er Jahre noch nicht wieder in der Ballettszene etabliert. Aber vielleicht kommt das nochmal: Dass das Publikum sich spontan durch starken Beifall eine Belohnung verdient, indem das bejubelte Tanzstückchen erneut gezeigt wird. Rudolf Nurejev tanzte jedenfalls des öfteren seine besten Passagen mit Wiederholungen, zum Entzücken und auf Verlangen der anwesenden Zuschauer.

Die Terpsichore-Gala war ein unvergesslicher Abend.

„Choreartium“ von Léonide Massine: ein Juwel im Repertoire vom Bayerischen Staatsballett, leider kommende Saison nicht mehr auf dem Plan. Foto: Charles Tandy

Nach einem solchen emotional schwer wiegenden Brocken aus echt aufregender Ballettkunst kann nur noch ein modernes Stück die Gemüter wieder beruhigen. Léonide Massines „Choreartium“ ist dafür wie gemacht, und es kann Ivan Liška und seinen Dramaturgen nicht genügend dafür gedankt werden, dass sie das schon beinahe vergessene Werk zu Musik von Johannes Brahms vom Bayerischen Staatsballett sorgsam einstudieren ließen.

Da schieben sich die schönen Männer in den Raum, als sei es ein frei zu besetzendes Territorium, in das sie kommen. Synchron und mit schöner Präzision schwingen sie die Gliedmaße, Massine spielte mit der Differenz von Gleichklang und Varietät.

Die Terpsichore-Gala war ein unvergesslicher Abend.

Applaus! Vor dem Vorhang nach der Terpsichore-Gala XII. Das Bayerische Staatsballett verneigt sich vor seinem Publikum. Foto: Gisela Sonnenburg

Dieser Geist, dieses erhellende Erweitern des Denkens, vermittelt sich denn auch superbe; es tut ganz gut, nach so einer fanatischen Liebesgeschichte wie der von Manon jetzt das etwas entspanntere Toleranzgeschehen von Léonide Massine zu sehen.

Wunderbar hier auch die Damen: mit eleganter, aber nicht arroganter Miene tanzen sie sich in der Gesellschaft empor, als Partnerinnen der Männer, aber auch in Soli.

Die Terpsichore-Gala war ein unvergesslicher Abend.

Ivan Liska nimmt Abschied von seinem Bayerischen Staatsballett – eine nachhaltige Ära voller glitzernder Highlights und tänzerischer Abenteuer geht zuende. Foto vom Applaus nach der Terpsichore-Gala XII: Gisela Sonnenburg

Die dunkel glitzernden Kostüme von Keso Dekker müssen da ausdrücklich gelobt werden, denn sie bringen die Schönheit und Selbständigkeit der Tanzenden bestens zur Geltung. Sie wirken feierlich und doch auch etwas poppig – genau richtig, um eine moderne Ballettcompagnie als Gratulantin für ihren langjährigen Boss zu sehen, zumal der Gratulationsgruß hier auch an die Tänzertruppe selbst ergehen muss: Bayerisches Staatsballett, lass dich niemals unterkriegen, denn du bist klasse!
Gisela Sonnenburg

Die BallettFestwoche in München dauert dieses Jahr bis zum 19. April!

Weitere Texte: siehe „Bayerisches Staatsballett“ hier im ballett-journal.de

www.staatsballett.de

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