Somnambule Küsse Das Bayerische Staatsballett tanzt wieder „Le Parc“, das Staatsballett Berlin exerziert für die kommende Premiere, Sachsen hat gleich zwei Ballettpremieren im Oktober – und das Ballett Dortmund lockt zu einer filmisch modernisierten „Bayadère“

"Le Parc" von Angelin Preljocaj

Madison Young im fliegenden Kuss mit Julian MacKay: Höhepunkt von „Le Parc“ von Angelin Preljocaj beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Nicholas MacKay

Dieser Kuss ist Ballettgeschichte: Die Frau hängt am Hals des Mannes, er dreht sich, sie fliegt im Kreis wie auf einem Karussell – und die beiden küssen, küssen, küssen sich. Dazu erschallt Musik von Mozart. Intensiv ist diese Verschmelzung zweier Liebender, wobei die Frau in einem Trancezustand ist und ihren Partner nicht mal sehen kann: Somnambules Küssen, ob im Traum oder real bei Nacht, ist in „Le Parc“ von Angelin Preljocaj das Herz des Daseins zweier geschlechtsreifer Wesen. Das Bayerische Staatsballett beglückt damit derzeit wieder sein Publikum. Das Staatsballett Berlin (SBB) hingegen übt für seine kommende Premiere mit zwei Stücken: Nach Tischen bei William Forsythe bilden nun Stühle in Ohad Naharins „Minus 16“, nach dem der Abend auch heißt, die Spielgrundlage. Sharon Eyal studiert beim SBB zudem ein weiteres minimalistisches Tanzstück ein, dieses Mal heißt es „Saaba“: zur für Eyal üblichen Technolautstärke von Ori Lichtik. Die Clubfans und die Möchte-gern-nochmal-jung-sein-Fraktionen  werden kommen, aber die echten Ballettliebhaber bleiben solchen Spektakeln erfahrungsgemäß oft fern. Somnambules Küssen dürfte sich bei Naharin und Eyal höchstens als Pose finden lassen. Trost findet der mobile Berliner gute drei Zugstunden weiter: Das Ballett Dortmund unter Xin Peng Wang powert mal wieder at it’s best. Erstmals studiert es „La Bayadère“ ein, aber keine normale klassische Version, sondern die von Wang ersonnene neue, mit einer entzückenden Modernisierung versehene. Das Stück um die Tempeltänzerin Nikija spielt hier nicht direkt in Indien, sondern auf einem Hollywood-Filmset der 20er-Jahre. Dort wird „La Bayadère“ als Stummfilm gedreht, und die emotionalen Ereignisse im Drehbuch greifen auf die Stimmungen der Darsteller und Produzenten über. Bald weiß niemand mehr, was Kunst ist und was Leben – Hauptsache, es geht um die Liebe eines Mannes zu zwei rivalisierenden Frauen.

Cranko

„Cranko“ – der Filmtitel sagt schon alles. Hier geht es ums Leben und Werk des Gründers vom Stuttgarter Ballettwunder, John Cranko. Ab 3. Oktober 24 in den Kinos – nicht verpassen! Bild: Philip Sichler / Zeitsprung Pictures / swr / PortauPrincePictures / ANZEIGE

Der Thriller, den Marius Petipa 1877 – im Jahr der Uraufführung von „Schwanensee“ – erstmals und 25 Jahre später ein zweites Mal choreografierte, taugt noch immer, um aus müden Spätherbstlern glückliche Ballettfans zu machen. Die angekündigte neue Version von Xin Peng Wang macht zudem außerordentlich neugierig. Am Sonntag, den 20. Oktober, lädt das Ballett Dortmund darum zur „Matinee: La Bayadère“, worin Wang, seine Dramaturgin Helena Sturm und weitere Team-Mitglieder die Neuinszenierung erläutern. Natürlich gibt es getanzte Beispiele zu sehen! Die Kostüme kommen übrigens vom Könner Jerome Kaplan. Und: Nicht nur live vor Ort im Ballettzentrum Westfalen, sondern auch als Livestream am Computer, Tablet oder Handy kann diese Matinee gesehen werden.

Am 24. Oktober 24 gibt es dann eine „Öffentliche Probe“ im Opernhaus Dortmund, und am 1. November 24 lockt die Premiere. Somnambule Küsse im Diesseits wie im Jenseits, im Filmstudio wie vor dem Tempel Indien werden inbrünstig erwartet!

Ganz typisch somnambul ist auch die Erotik in „Schwanensee“, sogar und gerade in der Version von John Cranko. Das Stuttgarter Ballett bietet mit diesem psychologisch fein aufbereiteten Klassiker eine hervorragende Ergänzung zum aktuellen Kinofilm „Cranko“. Elisa Badenes und der frisch gebackene Erste Solist Henrik Erikson tanzen am 16. Oktober 24, Agnes Su und Adhonay Soares da Silva einen Abend später, ferner gibt es Anna Osadcenko mit Martí Paixà am 18. Oktober zu sehen sowie zwei weitere Besetzungen.

In Baden-Baden tanzt derweil das Hamburg Ballett weiteren Erfolgen mit der „World of John Neumeier“ entgegen. Das Programm bildet mit „Endstation Sehnsucht“ und „Die Glasmenagerie“ ein Panorama rund um den US-amerikanischen Dramatiker Tennessee Williams. Somnambul sind in beiden Stücken so manche Momente; Küsse gibt es schöne, verräterische, sündige. In Neumeiers Werk kann man dabei von einem Noch-Frühwerk und einem Schon-Spätwerk sprechen; die „Endstation“ entstand bereits 1983, die „Glasmenagerie“ 2019.

Man kann sich aber auch mal wieder nach Sachsen trauen. Dort gibt es im Oktober gleich zwei Ballettpremieren, die unsere Aufmerksamkeit haben: Am 17. Oktober 24 feiert Kinsun Chan, neuer Ballettdirektor beim Semperoper Ballett in Dresden, seinen Einstand. Allerdings nicht im Opernhaus, sondern im Kleinen Haus vom Staatsschauspiel. „Wonderful World“ heißt die makaber-heitere Revue, die Chan und Martin Zimmermann in Sankt Gallen schufen.

„Wonderful World“ von Kinsun Chan und Martin Zimmermann mit Dustin Eliot und dem Semperoper Ballett. Mal was anderes! Foto: Semperoper Ballett

Der Cast sagt bereits Einiges: „Adelheid, die Geile“ in schwarzem Netz wird von Dustin Eliot getanzt, einem Absolventen der Ballett-Akademie der Hochschule für Musik und Theater in München. Ferner gibt es im Stück eine Carla Stracci (nicht Carla Fracci), eine Coco (ohne Chanel), einen DingDong (logo), eine Flexy Lexy, einen Felixxx, eine Kate Floss (nicht Moss) und eine Margarita (mal nicht aus Orangenlikör und Tequila bestehend). Das Libretto beschreibt eine genüssliche Feier des Untergangs des Abendlandes, mit ziemlich modernen Pauken und Trompeten im Electrosound. Wer Gothik liebt, ist hier nicht falsch – unnahbar wirken die Tanzkünstler in ihren megaschwarzen Klamotten allerdings nicht, vielmehr beschwingt und äußerst lustvoll. Hoch die Tassen! Somnambule Küsse dürften hier nicht ausbleiben.

Der Brahmane (Cyril Pierre, ja, jener Cyril Pierre, der mal der viel bestaunte Partner von Lucia Lacarra war) schmiedet hier Pläne, um die liebreizende Bajadere Nikija für sich zu gewinnen. Probenfoto aus „La Bayadère“ vom Ballett Dortmund: Leszek Januszewski

Wer es hingegen lieber ganz ernsthaft mag, dem sei mal das Ballett Leipzig angeraten. Am 15. Oktober 24, also am Dienstag, geht es bei einer „Kostprobe Ballett“ von einem Gespräch über die kommende Premiere von „Romeo und Julia“ zu einem Probenbesuch. Am 26. Oktober 24 dann gibt es die Premiere im Opernhaus in Leipzig: Lauren Lovette, eine langsam, aber sicher aufsteigende, noch junge Choreografin aus den USA, kreierte ihre Version von der unsterblichen Liebesgeschichte der an der Liebe Sterbenden.

Ein Lustmacher hier ist vielleicht auch das Gewandhausorchester unter Anna Skryleva mit der Partitur von Sergej Prokofjew. Wie auch immer: Somnambule Küsse von Romeo und Julia sind garantiert.
Gisela Sonnenburg

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