Sie hatte die wahrscheinlich saubersten Pirouetten ihrer Zeit, und ihre „Giselle“ ist mit akkuratem Spitzentanz, blitzschnellen Sprüngen und superben Linien des Oberkörpers legendär, wiewohl die am 17. Oktober 2019 verstorbene kubanische Primaballerina beinahe blind war: Alicia Alonso war eine internationale Ausnahmeerscheinung. Dabei war ihr Antrieb ihrer eigenen Geschichte geschuldet. „Wir Kubaner sind großartige Tänzer: Wir haben ein gutes Ohr, einen guten Rhythmus die notwendige Strenge beim Ballettunterricht. Denn bestimmte Dinge muss man erlernen!“ Das war das Credo von Alonso, die bis zu ihrem Lebensende überzeugte Sozialistin war und sowohl den Sozialismus für das Ballett als auch das Ballett für die kubanische Idee bewusst einsetzte.
Bis heute gehen aus der von ihr zusammen mit dem Kubanischen Nationalballett in Havanna gegründeten Schule Spitzentänzer und Lehrer hervor, die in der ganzen Ballettwelt begehrt sind. Der einst beim Royal Ballet in London als erster schwarzer Romeo tanzende Carlos Acosta ist da nur ein großer Name von vielen. So brilliert beim Staatsballett Berlin die Erste SolistinYolanda Correa, die in Havanna ausgebildet wurde und dort auch ihre ersten Berufsjahre – sogar als Principal – bestritt. Und auch die international berühmt gewordene moderne Truppe „Ballet Revolucíon“ wäre ohne Alicia Alonso undenkbar: Nicht nur der kubanische Präsident Miguel Diaz-Canel bescheinigte ihrer künstlerischen und pädagogischen Arbeit Unsterblichkeit.
„Brava, Alicia!“ Ihren letzten jubelnden Applaus im Theater erhielt die Ballettlegende Alonso, als schwarz gekleidete junge Tänzer ihren von einem weißen Gazetuch bedeckten Sarg aus dem Gran Teatro de La Habana Alicia Alonso – also dem Gran Teatro, dem Opernhaus – trugen. Ein auf der Galerie platziertes Orchester spielte dazu live die Musik von Adolphe Adam aus dem Ballett „Giselle“, dessen Titelrolle Alicia so oft getanzt hatte. Ballettstudenten, Künstler und Angehörige des Opernhauses in Havanna standen Spalier und applaudierten. Mit Alonso, die trotz ihrer 98 Jahre bis zum Schluss als Leiterin des Kubanischen Nationalballetts firmierte, starb eine der berühmtesten Ballerinen ihrer Generation – eine Frau, die genau wusste, was sie wollte.
Sie war eine Revoluzzerin auf ihre Art: am 21. Dezember 1920 als Alicia Ernestina de la Caridad Martínez del Hoyo in Havanna geboren, tanzte sie sich trotz ihrer schweren Augenerkrankung in die internationale Eliteklasse des Balletts.
Ihr Vater war Tierarzt und stand dem Ballett ablehnend gegenüber. Aber ihre Mutter förderte Alicias Bestrebungen.
Ihren ersten Tanzunterricht erhielt Alicia mit acht Jahren, und zwar in Straßenkleidung; aber zwei Jahre später stand sie schon zum ersten Mal auf der Bühne.
Ihr bedeutendster Lehrer in Havanna war Russe, und die russische Klassik blieb für Alicia lebenslang ebenso wichtig wie das sozialistische Gedankengut.
Schon bevor sie mit ihrem ersten Ehemann Fernando Alonso, den sie mit 16 Jahren geheiratet hatte (angeblich in dessen Abwesenheit), nach New York City ging, hofften die beiden auf eine Revolution in Kuba. Fernando war politisch umtriebig und sorgte früh für einen guten Draht zu den Genossen um Fidel Castro.
Alicia hingegen hatte vor allem ihre eigene künstlerische Berufung noch früher erkannt: „Ich wusste, dass ich stark war, und ich wollte immer die Beste sein“, sagte sie der BBC in einem Interview. Und auch der da schon gealterten Stimme merkt man die Ernsthaftigkeit und einen ehernen Willen an, beide bestimmten Alicias Handeln bereits in jungen Jahren.
In New York nahm sie privaten Unterricht, bis sie ein Stipendium für die weltbekannte School of American Ballet bekam. Deren Gründer, der Choreograf George Balanchine, nahm sie und Fernando in seine Tourneetruppe Caravan auf. Ab 1940 tanzte das Ehepaar dann beim Ballet Theatre, das später zum American Ballet Theatre wurde.
Doch mit 20 Jahren begann Alicia aufgrund einer Netzhautablösung zu erblinden, sie musste Operationen über sich ergehen lassen und zwei Jahre pausieren.
Mit geschlossenen Augen lag sie damals in Kubaauf ihrem Bett und ging mit dem sie unerschütterlich unterstüzenden Fernando die Choreografie von „Giselle“ durch. Mit ihren Fingern trainierte sie, was die Beine später tanzen sollten.
Tatsächlich kehrte sie 1943 zurück nach New York, und als eine Kollegin erkrankte, sprang sie ein, um ihr „Giselle“-Debüt zu geben. Was für ein Triumph – auch über die Prognosen der Ärzte, die gesagt hatten, sie würde nie wieder tanzen können.
„Sie war so tapfer wie virtuos“, sagte die Choreografin Agnes de Mille, die für sie kreierte, über Alonso. In der Tat sind ihr Schicksal und ihre erfolgreiche Meisterung desselben weltweit absolut einmalig.
Ob sie so überaus präzise und dabei auch nachgerade transzendierend tanzte, weil sie sich eben nicht auf ihr Augenlicht verlassen konnte, sondern kaum mehr als Hell und Dunkel unterschied, wird wohl nie geklärt werden.
Aber das gleißende Scheinwerferlicht half ihr nach eigener Aussage, und die Motivation, beim Tanzen eine neue Welt zu erschaffen, eine Welt, der die alte zu Füßen liegt, gab ihr zusätzlich immer wieder neuen Auftrieb.
Die starke Persönlichkeit, als die sie auf der Bühne erschien, war unübersehbar. Und der überaus begeisterte Applaus wurde ihr ständiger Begleiter, wenn sie auftrat.
Ihren Plan, in Kuba etwas Eigenes auf die Beine zu stellen, gab Alicia aber dennoch nicht auf.
1948 gründeten sie und Fernando das „Alicia Alonso Ballett“ mit eigener Schule in Havanna. Derweil tanzte sie auch in New York sowie bei den Ballets Russes de Monte-Carlo.
Fidel Castro – der Kommandant der sozialistischen Revolution auf Kuba– war 1958 erst seit einigen Tagen an der Macht (offiziell siegte die Revolution erst am 1. Januar 1959), da liefen bereits die Gespräche mit ihm über die Idee, das Ballett zum Ruhm des Sozialismus zu fördern. Statt verlangter 100 000 Dollar Subvention gewährte der Commandante das Doppelte.
Das war die Gründung des Kubanischen Nationalballetts, auf der Grundlage von Alicia Alonsos Ensemble, und unter ihrer Führung entwickelte sich somit in Havanna eine bald weltweit renommierte Balletttruppe.
Alicia tanzte selbst noch als über 70-Jährige im Gran Teatro, in dem sie jetzt das letzte Geleit erhielt, sie schuf dort zudem eigene Versionen der ballettösen Klassiker, und sie sorgte für internationalen Austausch, so bei einem zweijährlichen Festival.
Aber: Sie tanzte jahrelang auch auf improvisierten Bühnen in Fabriken und Werkstätten, sie wollte das Ballett in die Bevölkerung hineintragen. Das gehörte für sie – wie selbstverständlich – zu der Verbreitung des Balletts als populäre Kunstsparte, und es gehörte für sie auch zu dem Ideal eines sozialistischen Staats.
Es gibt Aufnahmen, die zeigen Alonso mit einem Tanzpartner in den „Schwanensee“-Kostümen, und voller Konzentration und Würde zeigen die beiden ihre hohe Kunst auf einem einfachen, hell ausgelegten Holzplattenboden vor den versammelten Beschäftigten in einem Stahlwerk.
Diese Nähe zur Gesellschaft, diese unverstellte Art der Kommunikation als Künstlerin zum Publikum ist sicher eine weitere Ausnahme, die auf das Konto von Alicia Alonso geht.
Aber auch die großen Häuser der Welt, in denen Ballett bewundert und bestaunt, gehegt und gepflegt wurde, verehrten Alonso als kubanische Ballettikone.
Das Bolschoi Theater in Moskau lud sie schon seit 1958 als Gastballerina ein. So tanzte sie dort unter anderem mit dem sowjetischen Superstar Ivan Vasiliev. Eines ihrer Erfolgsballette auch in der SU: „Giselle“.
Öffentlich präsentierte sie sich stets als Diva, nicht unähnlich den Filmstars ihrer Generation.
Ihr schütter gewordenes Haar kaschierte sie mit bunten, modischen Kopftüchern, ihr Lippenstift prangte in vitalem Rot absichtlich über die Ränder ihres Mundes gemalt. So wirkten die Lippen größer. Lange, perlmuttfarben lackierte Fingernägel und auffallender Schmuck rundeten das Bild einer Grande Dame von Welt ab.
Dass sie mit ihren Augen kaum sehen konnte, was man wiederum sah, machte sie durch ihre kluge Mimik vergessen. Alicia Alonso beherrschte wohl jeden noch so kleinen aktiven Muskel in ihrem Körper, in ihrem Gesicht – und bei Auftritten, Fototerminen und auch im Gespräch übernahm die gesamte Visage jene Aufgaben des Ausdrucks, die normalerweise den Augen zugeschrieben sind.
Dieses Phänomen ist einmalig, keine andere bekannte Persönlichkeit verfügte dermaßen über eine solche Selbstkontrolle.
In der Ballettwelt wurde sie denn auch geschätzt, sowohl als Künstlerin als auch als Symbol des kubanischen Tanzes.
Von Antony Tudor bis zu Maja Plisetzkaja reichten ihre Kontakte; die Pariser Opéra bot ihr genauso Gastauftritte wie das schon erwähnte Bolschoi.
Internationale Ehrungen und Auszeichnungen bezeugen Alonsos hohe Akzeptanz, über alle politischen und ideologischen Grenzen hinweg.
Und in den rund sechs Jahrzehnten ihrer Regentschaft beim Kubanischen Nationalballett führten Gastspiele und Tourneen die Truppe in 65verschiedene Länder.
Kuba und Ballett haben einenNamen: Alicia Alonso!
Alicia behielt ihren angeheirateten Nachnamen bei, auch als ihre Ehe mit dem sechs Jahre älteren Fernando (der 2013 verstarb) 1974 geschieden wurde.
Die Biografin von Fernando Alonso bezeichnet ihn als eigentlichen Gründer und Lenker des Kubanischen Nationalballetts. Sie meint, Alicia sei Fernando mit ihrem zunehmenden Alter zu herrschsüchtig und in ihrer Selbstdarstellung zu hemmungslos geworden. So sei er nicht damit einverstanden gewesen, dass sie im hohen Alter noch oftmals selbst auf die Bühne wollte und mit altersbedingt eher mangelhaftem Können noch große Partien tanzte.
Dennoch war sie, Alicia, der international begehrte Ballettstar, nicht er, Fernando – und wenn eine Ehe auseinander geht, so können Außenstehende dazu sicher weniger sagen als enge Freunde.
Alicia heiratete später den Tanzkritiker und Philosophieprofessor Pedro Simón, der jetzt ihr Witwer ist.
Ihre Tochter Laura, die sie schon mit 17 Jahren als junge Ehefrau und Elevin bekommen hatte und von ihren Schwiegereltern aufziehen ließ, sorgte dafür, dass Alicia bei ihrem Tod bereits drei Ururenkel hatte.
Auch Laura Alonso ist eine Größe mit eigenem Stellenwert in der Ballettwelt, und zwar als spezielles Talent für Coaching und Teaching. Sieben Jahre lang arbeitete sie in Havanna als persönlicher Coach ihrer Mutter, bevor sie eine internationale Karriere mit wechselnden Gastengagements in den Ballettsälen dieser Welt startete.
Alicia Alonsos avisierte Nachfolgerin und bisherige Stellvertreterin als Chefin vom Kubanischen Nationalballett ist eine andere Frau. Diese hat, wie Alicia (wenn auch nicht im selben Ausmaß), eine Tapferkeit erfordernde gesundheitliche Leidensgeschichte hinter sich:
Die ehemalige Tänzerin und Schauspielerin Viengsay Valdés – die mit 17 Jahren von Alonso entdeckt und ein Jahr später zur Principal gemacht wurde – ist Asthmatikerin. Wie Alicia musste auch sie in jungen Jahren gegen den gut gemeinten ärztlichen Rat, mit dem Tanzen aufzuhören, ankämpfen – und wie Alicia gewann sie diesen Kampf.
Andere Zöglinge von Alonsos Ballettschule sowie weitere kubanische Tanztalente beglücken derweil die internationale Ballettwelt.
Auch beim Staatsballett Berlin – ich möchte nochmals darauf hinweisen – tanzt mit Yolanda Correa eine kubanische Primaballerina in der deutschen Hauptstadt, und sie tanzt auch die „Giselle“. Sie wird zudem mit ihrem Debüt am 31. Oktober 2019 in den „Jewels“ von George Balanchine zu sehen sein, also im gelungensten Werk eines frühen Weggefährten von Alicia Alicia.
Mit Yonah Acosta tanzt ein kubanischer Primoballerino beim Bayerischen Staatsballett – so am 22. Oktober 2019 in „Coppélia“.
Der hoch talentierte Javier Cacheiro Alemán brilliert beim Ballett Dortmund, auch und gerade in der mit viel Spannung erwarteten Uraufführung von „Die göttliche Komödie II: PURGATORIO“ am 2. November 2019.
Nicht zu vergessen ist die locker-flockig mit furiosem Pop-Ballett beeindruckende kubanische Tanztruppe „Ballet Revolucíon“, die – ebenfalls in Dortmund– am 25. Dezember 2019 ihre aktuelle Deutschland-Tournee beginnt.
Sie alle hätten ohne das Lebenswerk von Alicia Alonso vermutlich nicht ihren Wunschberuf vom Tanzen ergreifen können. Und das Publikum wüsste nicht einmal, was ihm entgehen würde…
Alicia, gracias por todo y no te olvidaremos. Ciertamente no.
Gisela Sonnenburg