Im November des letzten Jahres erhielt ich einen Anruf, und es war offenbar ein Insider oder jemand, der dafür gehalten werden wollte, der sich meldete. Es ging um das so oft gelobte, niemals totgesagte Stuttgarter Ballett. Dessen Musikdirektor Mikhail Agrest, so der Informant, sei während einer Bühnenprobe für das Ballett „Onegin“ von John Cranko mit dem Probenleiter und ehemaligen Ballettintendanten Reid Anderson verbal aneinander geraten – und Agrest sei daraufhin „sehr krass“ behandelt und gekündigt worden. Ich fragte ein wenig herum, und siehe da: Die Gerüchteküche in der Musikerszene schien zu brodeln. Mein Stuttgarter Mitarbeiter Boris Medvedski wusste nun leider nichts. Aber: Der Name von Mikhail Agrest und seine Position als Musikdirektor standen tatsächlich nicht mehr auf der Homepage vom Stuttgarter Ballett. Es war also was dran am Theaterklatsch, der offenbar in Stuttgart schon die Runde machte. Die Pressestelle vom Stuttgarter Ballett teilte zwar von sich aus nichts mit. Aber wozu gibt es das Internet? Ich kontaktierte Mikhail Agrest selbst, ihn, den ich als Dirigenten vom Stuttgarter Ballett von den Aufführungen her kannte und außerordentlich schätze, mit dem ich aber zuvor keinen persönlichen Kontakt hatte. Für Journalist:innen ist so etwas alltäglich: Kontakt mit fremden Personen zwecks Interview aufzunehmen.
Ich sandte Agrest also elektronisch und auf Englisch, wie es im Umgang mit internationalen Künstler:innen üblich ist, ein paar Fragen: nach seiner Situation, nach dem Probenvorfall, nach dem angeblichen Rauswurf. Ich erhielt rasch Feedback: Er freute sich, von mir zu hören, er kannte mich und das Ballett-Journal vom Lesen, kannte viele Artikel von mir und hatte sich stets gefreut, wenn er, wie im Mai 2019 anlässlich der Wiederaufnahme von „Mayerling“ von Kenneth MacMillan, im Ballett-Journal gelobt und in seiner Kunstausübung verstanden wurde.
Darum ließ Agrest sich auch gern auf mich ein. Er hatte Vertrauen zu mir. Und er übersandte mir umfassende Statements, damit ich sie veröffentliche.
Das tat ich, erst im Ballett-Journal (dort erstmals am 25.11.21, Link bitte hier: https://ballett-journal.de/stuttgarter-ballett-reid-anderson-stardirigent-mikhail-agrest/) sowie später auch in zwei anderen Medien.
Natürlich wirbelte Agrests Story enorm Staub auf: Mikhail Agrest, ein Stardirigent, wurde von einem ehemaligen Ballettintendanten – von Reid Anderson – sozusagen zur Sau gemacht und vom aktuell amtierenden Ballettintendanten – Tamas Detrich – flugs gefeuert.
Und all das nur, weil der musikalische Fachmann Herr Agrest sich erlaubt hatte, darauf hinzuweisen, dass man das Tempo an manchen Stellen in „Onegin“ auch anders bemessen könne, als Herr Anderson es gewohnt sei.
Dabei berief Agrest sich auf Kurt-Heinz Stolze, also auf den Urheber der Partitur von „Onegin“, welche auf mehreren bearbeiteten Stücken von Peter I. Tschaikowsky beruht.
Doch statt einer vielleicht längst mal fälligen Diskussion über die Tempi in „Onegin“ nachzugehen, hatte Reid Anderson den hochkarätigen Musiker nicht nur verbal abgewürgt, sondern auch noch gottgleich seine Kündigung veranlasst.
Dieser Skandal um Agrest, vom Ballett-Journal aufgedeckt, erreichte auch das renommierte Stuttgarter Online-Magazin „Kontext:Wochenzeitung“, und der Kollege Rupert Koppold meldete sich bei mir.
Das schwäbische Online-Mag mit dem komplizierten Namen zitierte mich daraufhin mit meiner Erlaubnis ausgiebig in einem Bericht (Link bitte hier: https://www.kontextwochenzeitung.de/medien/558/totschweiger-und-lobmaschinen-7876.html). Koppold pflichtet mir darin bei: So wie Agrest sollte ein Künstler von einem staatlichen Theater in Deutschland nicht behandelt werden.
Der Artikel erschien übrigens auch in einer Wochenendbeilage der taz.
Aber noch immer gab es zum Skandal keine Presseerklärung vom Stuttgarter Ballett.
Es gab aber eine weitere, weniger erfreuliche mediale Resonanz: Die offenkundig ziemlich neidische Kollegin Andrea Kachelrieß vom Konglomerat der Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten versuchte, mir mächtig ans Bein zu pinkeln, indem sie mit haltlosen Falschbehauptungen über mich einen unprofessionell zusammengebastelten Artikel spickte.
Ich musste den Verlag diesbezüglich formell abmahnen, woraufhin die Lügen der Frau Kachelrieß, insoweit sie mich betrafen, in den Online-Ausgaben der Artikel der Kachelrieß gelöscht bzw. geändert wurden.
Und für die Leser:innen der Printausgaben der Stuttgarter Zeitung und der Stuttgarter Nachrichten wurde eine von den Redaktionen großzügig verfasste und auch so betitelte „Korrektur“ vermeldet.
Andrea Kachelrieß, das sei hier deutlich angemerkt, hatte nach dem Erscheinen meines ersten Artikels über Agrests Kündigung selbst auch versucht, von Agrest ein Interview zu erhalten. Agrest hatte ihre Anfrage aber zügig abgelehnt, obwohl oder gerade weil er ihre Artikel kannte.
Kachelrieß machte ihrem Ärger Luft, indem sie mich öffentlich mit falschen Angaben herabsetzte. Das war sehr unprofessionell und alles andere als fair, Frau Kollegin!
Die viel professionelleren Reporter von „Kontext:Wochenzeitung“ ließen sich hingegen von meiner Arbeit noch zu einer weiteren, hervorragend umfassenden Recherche über Reid Anderson anregen.
Sie titelten mit dem von mir für Reid Anderson eingeführten Begriff „Der Schattenintendant“ (Link bitte hier: https://www.kontextwochenzeitung.de/gesellschaft/562/der-schattenintendant-7942.html).
Diese Story, die von den beiden Kollegen Rupert Koppold und Josef-Otto Freudenreich verfasst ist, trägt viele Details und Hintergrundfakten zum Stuttgarter Ballett zusammen, um verständlich zu machen, wie weit der lange Arm vom Ex-Ballettintendanten Reid Anderson reicht.
Bestimmt ärgerte sich Andrea Kachelrieß erneut, weil wieder andere Journalisten als sie zum Zuge gekommen waren.
Und das sogar, obwohl Agrest zum damaligen Zeitpunkt außer mit mir mit keinem anderen Pressevertreter über seine spektakuläre Stuttgarter Kündigung sprach, auch nicht mit Koppold oder Freudenreich.
Aber die beiden waren auf Draht – und „Kontext:Wochenzeitung“ berichtete am 19. Januar 22 ausführlich über den ersten Verhandlungstag des Gerichtsverfahrens, das Agrest gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber anstrengen musste (Link bitte hier: https://www.kontextwochenzeitung.de/gesellschaft/564/ein-teurer-tanz-7968.html).
Andrea Kachelrieß muss innerlich geschäumt haben. Jedenfalls publizierte sie am 3.2.22 in der Stuttgarter Zeitung einen Beitrag über das Stuttgarter Ballett, in dem Reid Anderson und sein Lebensgefährte Dieter Gräfe als ganz großartige Menschen dargestellt werden. Dass vor allem Reid Anderson nach neuesten Erkenntnissen eher so willkürlich wie ein Fürst im Absolutismus agiert, was mittlerweile weitere Künstler:innen bestätigt haben, scheint Frau Kachelrieß egal.
Dabei ist die selbstherrliche Art von Reid Anderson auch früher schon ein Thema in der Ballettwelt gewesen. Eine seiner Starballerinen, Margaret Illmann, wurde von ihm gekündigt, nachdem sie sich in der Presse kritisch über ihn geäußert hatte. Der Unterschied zu Agrest: Mikhail Agrest sprach erst Wochen nach seiner Kündigung mit der Presse, also mit mir.
Illmann hingegen hatte als Ungekündigte öffentlich „ausgepackt“. Ihr Groll auf Anderson hält bis heute an.
Es gibt aber auch im Ausland illustre Gegner:innen von Reid Anderson.
Etwa Sylvie Guillem, die bis zu ihrem Bühnenabschied vor wenigen Jahren als eine der besten Ballerinen ihrer Zeit weltweit galt. Sie wollte das Duo Anderson und seinen Lebensgefährten Dieter Gräfe, den Erben der Cranko-Lizenzen, gar nicht erst kennenlernen, nachdem sie erfuhr, dass diese ihr die Rolle der Tatjana in „Onegin“ von vornherein nicht zutrauten.
Dafür ist so manche andere Besetzung, die Reid Anderson als ballettöser Oberaufseher der Cranko-Werke vornimmt, für andere Fachleute kaum nachvollziehbar.
Im Gefüge der künstlerischen, aber auch geschäftlichen Interessen drohen die Cranko-Werke mittlerweile zu verkarsten, weil Reid Anderson nicht in der Lage ist, genügend spannende Neuinterpretationen zuzulassen.
Immerhin muss das Stuttgarter Ballett als einzige Truppe weltweit keine Lizenzgelder für die begehrten, hochkarätigen Choreografien von Cranko bezahlen. Ein großer Vorteil im internationalen Wettbewerb der hochrangigen Ballett-Truppen!
Umso heftiger fragt man sich allerdings, warum dann das letzte Ballett, das Cranko schuf und das sich unter dem Titel „Spuren“ dem niemals unmodernen Thema Auschwitz widmet, nicht endlich mal wieder vom Stuttgarter Ballett aufgeführt wird.
Gibt es ein brisanteres und gerade heute auch aktuelleres Thema als die willkürliche Vernichtung von Menschen?
Und es gibt kaum andere Ballette dazu. Crankos Werk „Spuren“ ist ein Solitär, der uns ohne erkennbaren Grund in Zeiten von antisemitischen Vorfällen en gros und auch der Beteiligung der AfD an vielen Regierungen vorenthalten wird. Dass die Uraufführung von „Spuren“ 1973 manchen Menschen nicht gefiel, sollte ein Grund mehr sein, es mal wieder zu zeigen.
Kunst sollte nicht nur nach Erfolg und Wohlstand streben, sondern vor allem sinnvolle gesellschaftliche Diskussionen in Gang setzen und das Publikum sowohl berühren wie auch erwecken. Das ist ein gravierender Unterschied zum Kommerz.
Oder passt es etwa einigen Geldgebern vom Stuttgarter Ballett nicht, dass Cranko in seinem letzten Lebensjahr begonnen hatte, politisch interessante Werke zu erschaffen?
Ist das Spätwerk von Cranko manch einem Geldgeber vom Stuttgarter Ballett zu links?
Die Geschichte von VW und Porsche im Dritten Reich ist rückwirkend nicht eben rühmlich: Sie machten fette Geschäfte mit den Nazis.
Gerade darum sollte „Spuren“ heute, da Porsche als scheinbarer Hauptsponsor vom Stuttgarter Ballett agiert, einen hohen Stellenwert in der Aufmerksamkeitsgewinnung beim Stuttgarter Ballett haben. Und das Stück sollte gerade nicht verschwiegen werden.
Ballettintendant Tamas Detrich kauft allerdings lieber den sensationsheischenden Trend-Choreografen Edward Clug für eine neue Produktion ein, und zwar zwecks Kreation eines modern verbrämten „Nussknackers“.
Mit der Geschichte des Stuttgarter Balletts und auch mit der deutschen Geschichte dürfte dieses kommende Werk weit weniger zu tun haben als Crankos „Spuren“.
Andere international hoch geschätzte und auch intellektuell aufgeweckte Choreografen wie Alexei Ratmansky und Yuri Possokhov, die mit ihren exquisiten, klassisch-modern geprägten und fortschrittlichen Arbeiten hervorragend zur Cranko-Tradition wie zu den solche hohen Ansprüche erfüllenden Stuttgarter Ballett-Tänzer:innen passen, warten hingegen noch auf eine Einladung, um beim Stuttgarter Ballett zu arbeiten.
Ob Detrich sie überhaupt jemals nach Stuttgart holen wird? Beide haben am Bolshoi-Theater in Moskau, dem Olymp der Ballettwelt, ihre Ausbildung und einen ersten Wirkungskreis erhalten. Beide arbeiten mittlerweile von den USA aus international – und beide sind berühmt für ihre neoklassizistische Befähigung, abstrakte Stücke wie auch Handlungsballett zu kreieren und einzustudieren.
Possokhov machte mit Lucia Lacarra in Deutschland „Fordlandia“ zur aufregendsten Schau 2020, und Alexei Ratmansky ist für meinen Geschmack am stärksten, wenn er frei und ohne historische Vorlage kreiert, obwohl er auch für interessante Rekonstruktionen berühmt ist. Wenn das Stuttgarter Ballett also Choreografen von international höchstem Rang zeigen will, sollte es auf diese beiden Koryphäen nicht verzichten.
Doch soweit wagt sich Tamas Detrich offenbar nicht vom ausgetretenen Pfad, den ihm sein Vorgänger Reid Anderson hinterlassen hat.
Andersons choreografische Entdeckungen wie Marco Goecke, der heute das Ballett in Hannover leitet, und Eric Gauthier, der im vom Autokonzern Daimler finanzierten Theaterhaus Stuttgart wirkt, mögen finanziell erfolgreich sein – aber in künstlerischer Hinsicht sind sie enttäuschend.
Da neigt der Erstgenannte, Goecke, dazu, sich praktisch stetig selbst zu kopieren, während der Zweite, Gauthier, zunehmend sinnfreie Spektakel für den Massengeschmack anrichtet.
Reid Anderson ist bei genauem Hinsehen keineswegs ein Scout für choreografische Talente. Er hat sich nur selbst so dargestellt und den deutschen Geldgebern und der Öffentlichkeit hierzulande geschickt viel Sand in die Augen gestreut.
Die eigentlichen Verdienste von Reid Anderson und Tamas Detrich liegen denn auch in anderen Bereichen als in der konzeptuellen Entwicklung des Stuttgarter Balletts.
Anderson war in seinen besten Zeiten ein hervorragender Cranko-Coach. Er ist mittlerweile aber nicht mehr zuverlässig darin. Man muss es mal so deutlich sagen: Für seine erst 72 Jahre ist er jenseits von Anti-Falten-Cremes recht früh ganz schön alt geworden. Seine jüngeren Einstudierungen von „Onegin“ beim Staatsballett Berlin belegen das. Wirklich hervorragend coachte da nur die Berliner Ballettmeisterin Nadja Saidakova das Stück, nicht etwa Anderson selbst, dessen Stil flach und oberflächlich wird.
Tamas Detrich wiederum ist ein wirklich hervorragender, auf Präzision und Timing sowie auf Ausdruck gleichermaßen achtender Trainer und Ballettmeister. Aber als Ballettintendant hat er sich als glatte Fehlbesetzung erwiesen, als jemand, der Sponsoren wie dem Luftverpester Porsche im übertragenen Sinne unbotmäßig die Füße küsst und außer der Selbstbeweihräucherung à la „Wir, das wunderbare Stuttgarter Ballett“ kaum Profil zu vermitteln vermag.
Mit der Lokalkulturjournalistin Andrea Kachelrieß haben Reid Anderson und Tamas Detrich allerdings eine ihnen nützliche Helfershelferin in der kleinbürgerlichen Presse von Stuttgart.
Und es gibt im Stuttgarter Ballettreich selbst auch eine offizielle Pressesprecherin, die da nicht nachstehen mag.
So fragt mich die langjährige Pressedame von Tamas Detrich in einer E-Mail von gestern ganz ohne Scham, ob ich womöglich mit Mikhail Agrest gar nicht kommuniziert hätte, was bedeuten würde, dass ich mir seine Zitate in meinen Texten ausgedacht hätte.
Da ich all seine Aussagen als E-Post an mich schriftlich vorliegen habe, kann die Dame ganz beruhigt sein. Agrest sandte sie mir auch ausdrücklich zur Publikation zu. Generell bin ich – das sollte sich auch in Stuttgart schon herumgesprochen haben – als besonders sorgsame Journalistin bekannt, die sich zudem medienrechtlich sehr gut auskennt.
Dümmliche Anfängerfehler wie das Ausdenken von O-Tönen habe ich wirklich nicht nötig. Aber das Stuttgarter Ballett braucht es offenbar, einer hochrangigen Autorin wie mir Derartiges anzulasten.
Vorsicht, liebes Stuttgarter Ballett! Es gibt da Grenzen der Meinungsfreiheit!
Kritik ist nicht dasselbe wie Persönlichkeitsrechsverletzung. Aber die Desinformation, die das Stuttgarter Ballett zu betreiben versucht, ist bedenklich. Sie betrifft auch Mikhail Agrest, dem man unterjubeln möchte, er habe gelogen und behauptet, nie mit der Presse gesprochen zu haben. Aber auch Agrest hat dergleichen Manöver nicht nötig. Die Fakten sprechen nämlich für sich. Auch vor Gericht.
Und es gibt mehr und mehr Menschen im Kraftfeld des Stuttgarter Balletts, die sich für die Offensiven von Andrea Kachelrieß und Tamas Detrich richtiggehend fremdschämen. Ich gehöre dazu. Denn mit zivilisiertem Verhalten oder auch nur angemessener Pressearbeit hat ein solches Werfen mit Schmutz nichts zu tun.
Gisela Sonnenburg