Liebe bis in den Freitod Schöne Schauerstücke am Wochenende: „Mayerling“ brillierte beim Stuttgarter Ballett mit Debüts – wie auch „Giselle“ beim Bayerischen Staatsballett

"Giselle" und "Mayerling" in München und Stuttgart mit Debüts

Verdienter stürmischer Applaus am gestrigen Samstag nach „Giselle“, erstmals mit Prisca Zeisel (mittig vorne) in der Titelrolle, beim Bayerischen Staatsballett im Nationaltheater in München. Foto: Serghei Gherciu

Sie schaut unschuldig und schüchtern drein, und das, obwohl wir sie auch als temperamentvoll-dämonische Aegina aus „Spartacus“ kennen. Primaballerina Prisca Zeisel ist nun mal besonders wandelbar, und ihr Debüt als Titelheldin „Giselle“ beim Bayerischen Staatsballett geriet am gestrigen Samstagabend zu einem Triumph. Hochsensibel legt sie das verliebte Mädchen vom Land an, und ihr dramatisches Ableben aus enttäuschter Liebe ist eine Mischung aus Erschöpfungstod und Suizid. Die Version von Peter Wright traut sich zudem als einzige große Inszenierung des romantischen Balletts, Giselle deutlich als Selbstmörderin zu zeigen – das Schwert ihres Geliebten, das ihr in den meisten anderen Versionen noch rechtzeitig aus der Hand gerissen wird, ist bei Wright die Todesursache. Entsprechend entsetzt reagiert Albrecht, der Mann, der Giselle liebt, aber belogen und betrogen hat – und Emilio Pavan tanzt und spielt ihn besonders anteilsvoll und beinahe empathisch. Umso plausibler wird seine Reue im zweiten Akt, der gestern weitere Debüts bereit hielt. Die schauerromantische „Giselle“, wiederauferstanden aus einer durch das Corona-Virus erzwungen verlängerten Spielpause, sorgte somit in München für Jubelstürme.

Schon einen Abend zuvor erklangen diese beim Stuttgarter Ballett, wo am Freitagabend mit „Mayerling“ das Glanzwunderwerk von Kenneth MacMillan wiederauferstand. Elisa Badenes tanzte hier furios an der Seite des Weltstars Friedemann Vogel die unglückselige Mary Vetsera, deren Geliebter, Kronprinz Rudolf, als Sohn von Kaiserin Elisabeth „Sissi“ den Untergang des Hauses Habsburg personifiziert.

Auch Mary und Rudolf sterben durch Freitod, und ihre von Beginn an negativ aufgeladene, dem düsteren Suizid geweihte Liebe ist umso tragischer als sie ein ganz reales, historisch verbürgtes Vorbild hat. Rudolf suchte tatsächlich nach einer jungen Geliebten, die mit ihm in den Tod gehen würde – und nachdem die Schauspielerin Mizzi ablehnte, fand er in Mary die Komplizin seines grausamen Vorhabens.

"Giselle" und "Mayerling" in München und Stuttgart mit Debüts

Elisa Badenes brillierte am Freitag als Mary Vetsera mit dem bravourösen Friedemann Vogel als Kronprinz Rudolf in „Mayerling“ beim Stuttgarter Ballett. Die Korallenkette der Figur kreierte Bühnenbildner Jürgen Rose übrigens nach dem Vorbild einer Kette, die seine Mutter trug. Foto: Roman Novitzky

Der deutschen Bildung gemäß sollte man übrigens auch mal an den klassischen Dramatiker Heinrich von Kleist erinnern, der ebenfalls mit seinen Problemen auf Erden nicht mehr zurecht kam und für den Abschied für immer eine Dame als Begleitung suchte. Auch er holte sich in einem Bekanntenkreis zunächst einen Korb, bis er in der einfühlsamen Henriette Vogel eine zu Tode tapfere, unerschrockene Dame für den Tod durch Erschießen am Berliner Wannsee fand.

Die Probleme all dieser in den Selbstmord getriebenen Charaktere sind denn auch beträchtlich.

Giselle liebt einen Mann, der sie belogen und betrogen hat – und der eine andere heiraten will, die eine Adlige und reiche Person ist, während Giselle als hübsches Dorfmädel für ihn zunächst wohl nur ein Spielzeug war. Ohne Albrecht, der sich ihr als Dorfjunge aus dem Nachbarort ausgab, mag Giselle, die schöne Empfindsame, nicht mehr leben.

Prompt erwacht sie nach dem Tod als angehende Wili – so heißen hier, frei nach Heinrich Heine, die weißen Geisterfrauen, die den Wald bevölkern und auf Männerjagd sind. Zwecks Rache, selbstverständlich. Denn alle Wilis, die in weißem Tüll mit Schleier Ähnlichkeiten mit jungfräulichen Bräuten haben, wurden verführt und sitzen gelassen.

"Giselle" und "Mayerling" in München und Stuttgart mit Debüts

Prisca Zeisel und Emilio Pavan in einer berühmten Pose in „Giselle“ im ersten Akt, als vermeintlich perfekt fröhliches Liebespaar vor der Katastrophe. Wunderbar! Foto vom Bayerischen Staatsballett: Serghei Gherciu

Ihre Königin ist Myrtha, und diese Partie – hochgradig ergreifend-kühl mit hoher Kunst von Elvina Ibraimova getanzt, die somit ebenfalls glänzend ein Debüt bestand – verlockt immer wieder dazu, nur Kälte und gar keine Menschlichkeit mehr zu zeigen.

Besser aber ist es, die hohen Sprünge und entschiedenen Gesten der Königin der Wilis mit Sensitivität aufzuladen. Denn auch Myrtha war mal ein liebendes Mädchen, und ihre Rachsucht ist durchaus lebendig zu nennen.

Und während Prisca Zeisel als Giselle im ersten Akt eine ebenfalls besonders sinnliche und auch leidenschaftliche junge Dame darstellt, ist sie im zweiten Akt – nach ihrem Tod – eine ätherisch gefasste, schmerzlos schwebende Geisterfrau.

In der Wahnsinnsszene, die ihrem Tod vorangeht, scheint es, als sei sie von den Wilis fremdgesteuert.

Es ist einfach hinreißend, diese Gegensätze, die zu einer Person gehören, zu beobachten!

Emilio Pavan tanzt aber auch verführerisch als Albrecht, das muss ausdrücklich auch gelobt werden. Tatsächlich ist gerade seine Anteilnahme, als Giselle verrückt wird und sich umbringt, selten so anrührend in das Stück eingebracht worden.

"Giselle" und "Mayerling" in München und Stuttgart mit Debüts

Prisca Zeisel als Giselle, Emilio Pavan als Albrecht – sie rettet ihn am Ende des zweiten Aktes das Leben, nachdem sie ihres wegen ihm verloren hat. Schluchz! Es ist so schaurig schön… Foto vom Bayerischen Staatsballett: Serghei Gherciu

Und im zweiten Akt schüttelt ihn die Reue zu immer höheren und immer häufigeren Sprüngen, bis er, fast zu Tode erschöpft, zu Boden sinkt. Ginge es nach den Wilis, müsste er sich in den Tod tanzen, wie schon viele junge Männer vor ihm, wie auch Hilarion, seinen Nebenbuhler bei Giselle, den Jonah Cook einmal mehr als triebgesteuerten Macho und dennoch auch unglücklich Liebenden sehr interessant interpretiert.

Giselle schützt und hilft Albrecht, und mir ihrer Energie schafft er es, die beinahe tödliche Nacht im Wald zu überleben. Dann löst sich der Zauber, die Wilis verschwinden, und auch Giselle wird wieder unsichtbar für den Sterblichen, der sein Leben und auch seinen Tod noch lange vor sich hat.

Fast scheint es für ihn auch eine Strafe zu sein, nun ohne die geliebte, gütige Giselle auf Erden sein Dasein zu fristen.

"Giselle" und "Mayerling" in München und Stuttgart mit Debüts

Die beim Applaus sehr bejubelte Debütantin Veronika Verterich als Stephanie (rechts), die ebenfalls sehenswerte Mackenzie Brown als ihre Schwester (links) und mittig der furiose Adhonay Soares da Silva, der unvergesslich toll den Bratfisch tanzt. Foto: Boris Medvedski

Unglück umflort auch Kronprinz Rudolf – und er ist dabei auch noch so einsam, bevor er Mary trifft.

Das großartige Debüts hier lieferte Veronika Verterich als Kronprinzessin Stephanie.

Sie hat als Gattin des kranken, unter anderem morphiumsüchtigen Rudolf nicht viel zu lachen – ein schmerzerfülltes Dasein als ungeliebte Frau und die jugendliche Leidenschaft einer jungen Dame, die eigentlich etwas vom Leben verlangt, prallen in dieser Figur aufeinander. Verterich zeigt das musterhaft, sie fasziniert und weckt Mitleid mit Stephanie, die auch in der historischen Realität so gar nicht zum wilden Rudolf passte.

Bei solchen großartigen Ballettabenden hat man das Gefühl, den gezeigten tanzenden Personen tief in die Seele zu schauen.

All ihr Glück, aber auch all ihr Kummer wird offenbar – und in diesen tragischen Fällen weiß man auch als Zuschauer:in eigentlich keinen Rat, so überzeugend leiden die Künstler:innen auf der Bühne.

Lesen Sie hier, was nicht in BILD und SPIEGEL steht! Und spenden Sie bitte! Journalismus ist harte Arbeit, und das Ballett-Journal ist ein kleines, tapferes Projekt ohne regelmäßige Einnahmen. Wir danken es Ihnen von Herzen, wenn Sie spenden, und versprechen, weiterhin tüchtig  und unbestechlich zu sein!

Während in „Giselle“ zum Beispiel der Bauern-Pas-de-deux für Aufmunterung sorgt – und am Samstag wurde er vorzüglich von Ariel Merkuri und Carolina Bastos dargeboten – werden in „Mayerling“ außer Festivitäten auch Spelunken und seltsame, heimliche Locations gezeigt.

Ein Highlight darin bot mal wieder Adhonay Soares da Silva als Rudolfs Diener Bratfisch, der dem Kronprinzen mit Humor und Passion die Treue hält und absolut fantastisch-fantasievoll ein ausgelassenes, sinnliches Solo absolviert.

In der Geschichte des modernen Balletts ist dieses Bratfisch-Solo etwas Besonderes, denn es enthält sowohl feurige Folklore-Momente als auch lyrische Gesellschaftstanzzitate. Bratfisch – er ist eben ein besonders feiner Kerl, ein Held des Alltags, jemand mit Seele und Gefühl und gar nicht typisch für Menschen, wie es sie auch gibt, und die für Geld alles tun würden.

Ein weiterer Hingucker war – ebenfalls nicht zum ersten Mal – Miriam Kacerova, die als Kaiserin Elisabeth sowohl die fortschrittlich-emanzipierte Seite von Sissi als auch die doppelbödige Beziehung zu ihrem Sohn Rudolf plastisch darstellte.

Kacerova ist hier optimal besetzt, die schillernde Dame von Adel liegt ihr mit ihrem noblen Impetus, im Gegensatz zur Partie der Fliederfee in Marcia Haydées „Dornröschen“, zu der sie einfach vom Typ her nicht passt. Gütig und kühl zugleich in der Ausstrahlung zu sein, ist nicht jeder Primaballerina gegeben und hat auch nichts mit Können zu tun – das ist tatsächlich eine Typfrage.

Aber als Kaiserin Elisabeth in „Mayerling“ ist Miriam Kacerova eine großartige Künstlerin, die zu sehen unbedingt ein Ereignis ist.

"Giselle" und "Mayerling" in München und Stuttgart mit Debüts

Noch ein Highlight in „Mayerling“: Miriam Kacerova als Kaiserin Elisabeth, hier beim Schlussapplaus, sehr zurecht gefeiert. Foto: Boris Medvedski

Und auch Angelina Zuccarini als Gräfin Larisch sowie Anna Osadcenko als Mizzi Caspar zeigen zwei weitere facettenreiche Damen aus dem Liebesleben des Kronprinzen, der umtriebig und lebensverrückt war wie kaum ein zweiter adliger Mann seiner Zeit.

Politisch war der Prinz allerdings überraschend revolutionären Gedanken verfallen, und die Szene, die ihn im Bunde mit ungarischen Intellektuellen zeigt, ist auch aufgrund der hervorragenden männlichen Tänzer beim Stuttgarter Ballett immer wieder sehenswert.

Mit dem Titel „Mayerling“ ist übrigens das Jagdschloss gemeint, in welchem Rudolf am Ende erst seine Geliebte Mary, dann sich erschießt. Die Spannung steigt und strebt diesen Momenten zu – und jedes Mal hofft man erneut, der tragische Endpunkt könne noch verhindert werden.

Auch Anna Osadcenko, die am Freitag die Mizzi tanzte, war schon eine bewegend schöne, herzergreifende, zu Tode ergeben liebende Mary – bei einer besonderen Aufführung tanzte sie mit Jason Reilly als Kronprinz Rudolf, und es soll Menschen geben, die für eine Videoaufzeichnung dieser Aufführung Einiges geben würden.

Im Handel ist eine DVD mit „Mayerling“ aus London, vom Royal Ballet, mit Edward Watson in der Prinzenrolle, und sie ist sehr empfehlenswert. Allerdings ist die in Plüschrot etwas altmodisch anmutende Ausstattung keine Konkurrenz zur zartbunten, detailreichen Neuausstattung von 2019 durch Jürgen Rose, die in Stuttgart zu bewundern ist.

Die „Giselle“ von Peter Wright in München wurde ebenfalls schon in London getanzt, und zwar auch ebenfalls, bevor sie nach Deutschland kam.

Beide Importe lohnen unbedingt auch mehrfache Ansicht, und gerade die Wechsel in den Besetzungen machen die Besuche immer wieder spannend.

"Giselle" und "Mayerling" in München und Stuttgart mit Debüts

Prisca Zeisel schwebt hier im perfekt schönen Grand jeté als „Giselle“ im zweiten Akt über die Bühne – sie tat es auch schon als Myrtha. Foto vom Bayerischen Staatsballett: Serghei Gherciu

Übrigens tanzte Prisca Zeisel, die neue Münchner „Giselle“, auch schon die Myrtha, und zwar durchaus mit starker Überzeugungskraft. Jetzt aber wird Ibraimova als Königin der Wilis von zwei zarten Novizinnen flankiert, die am Samstag von Vera Segova und Jeannette Kakareka fliegend-ätherisch getanzt wurden.

Kakareka wiederum hätte auch eine neue „Giselle“ in München sein sollen, wäre nicht das Corona-Virus mit seinen Ausfällen von Vorstellungen wegen notwendigen Quarantänen dazwischen gekommen.

Es ist schon erstaunlich, wie viele Spitzenballerinen und -ballerinos sich beim Bayerischen Staatsballett so weit entwickelt haben, dass sie große Rollen mit Persönlichkeit füllen können.

Dasselbe lässt sich allerdings vom Stuttgarter Ballett auch sagen – außer technischer Finesse locken die individuell gezeigten Bühnencharaktere der Tänzer:innen sehr zurecht in die Vorstellungen.

"Giselle" und "Mayerling" in München und Stuttgart mit Debüts

Jubel beglückt die Künstler:innen nach getaner Arbeit, nach „Mayerling“ von Kenneth MacMillan beim Stuttgarter Ballett am 21.1.22. Foto: Boris Medvedski

Die kathartische Wirkung der Freitode auf der Bühne trägt zudem keineswegs zu deprimierener Stimmung, sondern vielmehr zur Erhabenheit und Willenskraft bei.
Gisela Sonnenburg (Informantin: Franka Maria Selz / Informant: Boris Medvedski)

Weitere Beiträge zu diesen Inszenierungen in verschiedenen Besetzungen gibt es hier im Ballett-Journal zu lesen – bitte googeln!

www.staatsballett.de

www.stuttgarter-ballett.de

 

ballett journal