Ein Spielplan mit Realität Das Stuttgarter Ballett ist derzeit besonders fleißig: Am Wochenende premiert der erste große Corona-Abend im Opernhaus – und Tamas Detrich stellte soeben einen machbaren Spielplan für die Saison 20/21 vor

Das Stuttgarter Ballett präsentiert seine kommende Saison 20/21

Grüße vom Stuttgarter Ballett für eine Jubiläumsspielzeit: Tamas Detrich lächelt uns auf seinem neuen Pressefoto von Björn Klein Mut zu. Immerhin: Er hat fürs kommende halbe Jahr tolle Pläne!

Auf seinem aktuellen Pressefoto schaut Stuttgarts Ballettintendant Tamas Detrich drein wie die Figur „Petruschka“ im Ballett „Nijinsky“ von John Neumeier: mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Und genau so – lachend und zugleich weinend – nimmt man den von ihm soeben präsentierten Spielplan für die kommende Saison 20/21 auf. Genauer: Es handelt sich um den ersten Teil dieses Spielplans, der sich vom Oktober bis zum Januar erstreckt. Einerseits bringen die darin offenbarten Pläne eine große Erleichterung, Motto: Es wird getanzt! Aber andererseits werden auch Befürchtungen wahr: Erst ab dem 16. Januar 21 wird ein abendfüllendes Handlungsballet („Die Kameliendame“ von John Neumeier) zu sehen sein, vorher übt sich das Stuttgarter Ballett tapfer in der angesagten Askese und zeigt Corona-Schutzregel-taugliche neue Programme. Und darauf ist man neugierig, und das nicht zu knapp! Zumal die aus Sicherheitsgründen pausenlosen Abende noch in dieser Spielzeit beginnen.

Am Samstag, dem 25. Juli 20, wird mit „Response I“ („Antwort I“) das neue Zeitalter – Ballett live unter den Schutzbedingungen vor pandemischer Infektion –  festlich beginnen. Das Stuttgarter Ballett hat somit die Ehre und den Fleiß – und auch den künstlerischen Mut – um sozusagen das Fass, das wir im Ballett künftig rollen werden, anzustechen.

Zu beweisen ist: Ballett ist möglich, auch und gerade unter erschwerten Bedingungen! Und: Die hochkarätige Tanzkunst ist es wert, lebendig erhalten zu werden, durch alle Krisen hindurch.

Und so wird nach der Sommerpause in „Stuggi“ am 17. Oktober 20 erneut das erste große Programm der neuen Ära im Opernhaus gezeigt. Es ist eben jenes, das jetzt am kommenden Wochenende premieren wird.

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Drei Uraufführungen enthält es, gleich zu Beginn, sie stammen von den Stuttgarter Tänzern Louis Stiens, Fabio Adorisio und Roman Novitzky. Es sollen weitere Stücke folgen, alle aus dem breit aufgestellten Repertoire des Stuttgarter Balletts. Ob der ursprünglich versprochene Pas de deux von Hans van Manen und der furiose „Bolero“ von Maurice Béjart – in einer wohl reduzierten Ensemble-Version – spätere Highlights des Programms sein werden, ist noch nicht entschieden.

Jedenfalls werden die Aufführungen den Abstandsregeln entsprechen, und das ist natürlich wichtig in diesen Zeiten. Man hätte auch kein gutes Gefühl, wenn es hier Ausnahmegenehmigungen geben würde, die aber womöglich mit erhöhten Infektionsrisiken behaftet wären.

Andersherum wird vielleicht ein (Spitzen-)Schuh daraus: Vielleicht bilden sich über den Sommer neue Wohngemeinschaften der Stuttgarter Tänzer, und dann werden auch mehr als zwei zusammen eng tanzen dürfen.

Aber das ist Zukunftsmusik, die fürs Ballett wörtlich tatsächlich live gespielt werden wird, und zwar von Mitgliedern des Staatsorchesters Stuttgart. Abwechselnd werden Mikhail Agrest und Wolfgang Heinz dirigieren.

Schon am 30. Oktober 20 wird dann „Response II“ premieren, und zwar im Schauspielhaus, nicht im Opernhaus, dafür aber wieder mit Uraufführungen von Tänzer-Choreografien. Vorgesehen sind dafür Alessandro Giaquinto, Vittoria Girelli, Shaked Heller, Aurora de Mori und Agnes Su. „Young Bloods“, „junges Blut“, so heißt der Untertitel dieser Show.

Was im Spielplanbuch vom Stuttgarter Ballett dazu noch steht, darf man allerdings getrost vergessen: Wehmütig wird dort lamentiert, beim Heben des Vorhangs für diese Premiere liege die letzte Vorstellung des Stuttgarter Balletts zehn Monate zurück. So arg wird es zum Glück nicht kommen, wenn die Pläne bleiben!

They dance on a very high level: Staatsballett Berlin.

„Petite Mort“ von Jiri Kylián zeigt die Schönheit und auch die mögliche Gefährlichkeit erotischer Beziehungen. Das Staatsballett Berlin hat das gute Stück bereits im Repertoire. Bald soll es auch in Stuttgart zu sehen sein. Foto vom Staatsballett Berlin: Yan Revazov

Im Opernhaus geht es derweil ballettpremierenmäßig am 27. November 20 weiter: Der „Ballettabend HÖHEPUNKTE“ vereint kostbare Stücke von Jiri KyliánRoland Petit und Maurice Béjart.

Die elegisch-modernen Kurzballette „Falling Angels“ und „Petite Mort“ – letzteres wird erstmals in Stuttgart zu sehen sein, stammen von Kylián, das atemberaubend expressive „Le jeune Homme et la Mort“ ist das absolute Meisterstück des klassisch-modernen Franzosen Roland Petit. „Bolero“ von Maurice Béjart wurde uns eigentlich schon für die Juli-Premiere versprochen, steht jetzt aber erstmals hier auf dem Programm.

Dass es weitere Änderungen gibt, ist unter den Umständen der Corona-Pandemie nicht auszuschließen, und es macht die Sache nicht wenig spannend, zu sehen, wie die Ballettschaffenden auftauchenden Schwierigkeiten mit Kreativität begegnen. Vielleicht kommen ja auch noch Aufführungen mit neuen Programmen hinzu – derzeit ist die Hoffnung ein starkes Element.

Ab 16. Januar 21 dann das Glanzstück der Saison, so Terpsichore und das Corona-Virus es erlauben: „Die Kameliendame“ von John Neumeier. Das dreistündige brillante Werk, 1978 in Stuttgart mit Marcia Haydée in der Titelrolle uraufgeführt, gilt laut Brigitte Lefèvre, ehemaliger Directrice des Balletts der Pariser Opéra, als „‘Giselle‘ des 20. Jahrhunderts“.

Es bietet so viele hervorragende, ausdrucksstarke Soli und Pas de deux, dass man sich – sollte der Corona-Gefahr dann noch immer mit Abstandsregeln nachgegeben werden müssen – aber auch ein Programm namens „Die Kameliendame – Die Gala“ vorstellen könnte.

Das ist jetzt mein Vorschlag für den Fall, dass das Virus uns einen Strich durch die Rechnung machen will: In verschiedenen Besetzungen (und vielleicht hätten dann auch Talente aus dem Ensemble eine Chance auf eine richtig große Partie, zumindest auszugsweise) kann die Neumeier’sche Choreografie über eine wirklich ganz außergewöhnliche Liebe auch ohne kompletten Ablauf des Stücks vielschichtig und facettenreich schillern.

Man könnte sich außerdem – um einem anderen genialen Choreografen und dem Gründer vom Stuttgarter Ballett zu huldigen – auch Gala-Abende zu Themen wie „Romeos und Julias am Stück“ vorstellen, die lauter tänzerische Stücke aus Crankos erstem Welterfolg präsentieren. Oder Liebesduette allgemein, aus Klassik und Moderne. Oder auch nur Soli à la „Einsame Stärke“- alte und neue, zu historischer wie zu neuer Musik. Corona könnte noch Einiges auf uns zukommen lassen.

Vor allem aber macht dieser Corona-Spielplan auch klar, dass man sparen muss. Es wird nach aktuellem Stand keine Weihnachtsgala, kein Silvester- oder Neujahrsprogramm geben – Tamas Detrich bündelt die vorhandenen Kräfte auf Wesentlicheres. Nun ist die Weihnachtszeit zwar traditionell eine Hoch-Zeit fürs Ballett, aber Konventionen kommen nun mal ins Wanken, wenn eine Pandemie die Welt im Griff hat.

Hier ein Probeneinblick aus Vor-Corona-Zeiten: Friedemann Vogel und Alicia Amatriain tanzen „Die Kameliendame“, den ergreifend beglückenden „Weißen Pas de deux“ beim Stuttgarter Ballett. Foto: Roman Novitzky Photography

Die Perspektive mit Hoffnung richtet sich von daher in der schwäbischen Metropole erstmal vor allem auf den Januar mit Neumeiers Weltkunst. Dagegen muten die vorherigen Programme wie Appetithappen an – sie müssen erst noch zeigen, was und wieviel in ihnen steckt.

Außerdem wird in Stuttgart künftig den älteren aktiven Ballettfans im Laienbereich Tribut gezollt: Der „Tanzworkshop 55 +“ soll regelmäßig stattfinden und Menschen ab 55 Jahren Gelegenheit geben, ihre kognitiven, musikalischen und natürlich motorischen Fähigkeiten mittels Tanz zu verbessern. Wie für die vorgesehenen Schulklassen-Besuche, Mini-Tanzworkshops und weitere Education-Projekte wird das Corona-Virus allerdings wohl auch bei dem Seniorenballett noch weitere Herausforderungen mit sich bringen.

Wenn man noch fünf Jahre drauflegt, ist man übrigens bei der Jubiläumszahl der Compagnie: 60 Jahre jung wird das Stuttgarter Ballett im Jahr 2021 – und darf sich natürlich auch so weise fühlen.

Ein Jubiläum kann auch das „Stuttgarter Ballett jung“ für sich verbuchen: Zehn Jahre hat es in der kommenden Spielzeit schon Bestand.

Soweit lauten die spannenden Stuttgarter Pläne bis einschließlich Januar 2021– weiter kann und will Tamas Detrich in seiner zweiten Spielzeit als Oberboss noch nicht denken, und das ist auch richtig so.

Ungewöhnliche Zeiten erfordern schließlich ungewöhnliche Maßnahmen. Lassen wir uns überraschen, wie es weiter geht – und hoffen wir, dass die Politik einlenken und mit der Oper und dem Ballett die bedeutendsten Künste unserer Zivilisation zusätzlich mit Hilfsgeldern bedenken wird. Schließlich dürfte es sich herumgesprochen haben, dass nicht nur harte Wirtschaftsbosse unvorhergesehene Aktionen wegen Corona starten und dafür ein Mehr zahlen müssen, sondern auch zarte Künstlerseelen.
Gisela Sonnenburg

www.stuttgarter-ballett.de

 

 

 

 

 

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