Ein Romeo nach Mitternacht arte zeigt „Romeo und Julia“ vom Stuttgarter Ballett Sonntagnacht nach Mitternacht: gar nicht mal so falsch – und arte concert speichert das Stück bis Mitte März 21

"Romeo und Julia" sind das beliebteste Ballettliebespaar

Romeo liebt Julia, Julia liebt Romeo: David Moore und Elisa Badenes vom Stuttgarter Ballett tanzen die Choreografie von John Cranko in der Nacht von Valentinssonntag auf den Montag – auf arte. Und danach online bei arte concert. Foto: Stuttgarter Ballett

Ballett nach Mitternacht? In den Opernhäusern floriert um so eine Uhrzeit allenfalls noch die Premierenfeier. Davon können wir Ballettfans in Pandemie-Zeiten nur träumen. Aber hochkarätiges und höchst utopisches Ballett gibt es weiterhin auf dem Bildschirm. So zeigt der deutsch-französische Kultursender arte als Ausklang vom Valentinstag in der morgigen  Sonntagnacht ab 0.20 Uhr die unverwüstlich schöne, klassisch-moderne Choreografie „Romeo und Julia“ von John Cranko. Und zwar in der aktuellen Starbesetzung mit dem Stuttgarter Ballett, wie sie auch als DVD zu haben ist. Man kann nun lamentieren, dass diese Uhrzeit nicht wirklich ballettgemäß ist. Andererseits kann man diese späte Sendezeit auch als Aufforderung zum Experiment betrachten. Und sich mal drauf einlassen.

David Moore tanzt hier den Romeo. Der junge Brite, seit sechs Jahren eine erste Kraft der Stuttgarter, gibt nicht irgendeinen jugendlichen Liebhaber. Sondern er vereint die stürmische und  erotische Kraft der Partie mit einem fast hamleteischen Gestus von Nachdenklichkeit. Das verleiht seiner Rollengestaltung eine eigentümliche Reife, ergibt reizvolle Kontraste zur sprungstarken, pirouettenseligen Choreografie. Romeo als  Melancholiker, der die frühe Endlichkeit seines jungen Lebens vielleicht erahnt.

Man mag an Richard Cragun denken, Lieblingstänzer des Choreografen John Cranko, der sein Stück im Dezember 1961 in Stuttgart uraufführen ließ. Acht Jahre später begründete eben diese Romeo-Inszenierung bei einem Gastspiel in New York den bis heute anhaltenden Weltruhm des Stuttgarter Balletts. Man darf darum von einem Signaturstück sprechen. Vor allem aber wirkt es auch heute dynamisch, gefühlsstark und in den Kostümen von Jürgen Rose so bunt wie das Leben selbst. Nach Mitternacht ist das genau richtig, um Gevatter Schlaf noch eine Weile zu entkommen. Da muss das Home-Office am Montag gegebenenfalls etwas warten.

"Romeo und Julia" sind das beliebteste Ballettliebespaar

Elisa Badenes als Julia im Arm von David Moore als Romeo: Die Choreografie von John Cranko zu diesem beliebten Bühnenliebespaar lebt und lebt und lebt… Foto: Stuttgarter Ballett

Moore als Romeo durchläuft vom leichtfüßigen Jüngling eine Metamorphose zum bedingungslos Liebenden. Mit Julia – getanzt von der bravourösen, dennoch kindhaften Spanierin Elisa Badenes – findet er sein Ideal allen Begehrenswerten. Die Musik von Sergej Prokofjew weiß das zu illustrieren. Dumm nur, dass Julia der Familie Capulet angehört, mit der Romeos Clan, die Montagues, verfeindet ist.

Cranko übernahm im Wesentlichen den Handlungsverlauf aus  dem Drama von William Shakespeare und siedelte sein Ballett ebenfalls in Verona an. Die Motivik der italienischen Blutrache – eigentlich eine sizilianische Spezialität – spielt hier mit. In hochästhetischen, aber auch angespannten Gruppenszenen zeigt sich die gespaltene Gesellschaft: Der Wille zur Machtausübung paradiert auf beiden Seiten. Ein eremitischer Mönch versucht sich derweil als Retter des Paares, dessen Liebe verboten ist. Er traut Romeo und Julia heimlich – und versorgt Julia mit einem Gift, das sie in todesähnlichen Schlaf fallen lässt.

Bei Shakespeare scheitert die Flucht des Paares, weil der vom Mönch beauftragte Bote die Zeit vertrödelt. Er hätte Romeo vom künstlichen Koma der Geliebten informieren sollen. Bei Cranko entfällt diese Szene – der Plan Julias ist damit von vornherein sehr riskant. Denn als Romeo in der Gruft erscheint, glaubt er an ihren Tod. Er ersticht seinen trauernden Nebenbuhler und bringt dann sich selbst um.

Kaum ist er verschieden, erwacht Julia. Und tanzt eines der ergreifendsten Soli, die es im Ballett überhaupt gibt. Denn ihr wird zwischen den beiden toten Männern klar, wie zerbrechlich das Glück ist – und wie nah sie dennoch einem Leben mit dem Geliebten war. Auch sie bringt sich um, auf diesen Schluss läuft alles hinaus.

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Dann ist es 2.30 Uhr, mitten in der Nacht. Kinderfreundlich ist diese Sendezeit nicht. Um aus dem Anschauen von „Romeo und Julia“ ein Familienereignis zu machen, muss man sich an die Verfügbarkeit des Videos bei arte concert (auf arte.tv) bis zum 15. März 21 halten.

Dass die Grande Dame Marcia Haydée, einst Crankos Muse beim Stuttgarter Ballett, die Amme von Julia darstellt und Reid Anderson, ehemaliger Intendant der Company, Julias Vater mimt, verleiht der Aufzeichnung von 2017 eine zusätzliche glanzvolle Note.

Wer sich außerdem auf das Thema nachgerade wissenschaftlich akribisch einstimmen will, kann am Sonntag schon um 14 Uhr auf arte schalten: Dann lockt die legendäre Verfilmung von „Romeo und Julia“ durch Franco Zeffirelli, der das Titelpaar mit Teenagern besetzte – ein sinniger Kunstkniff, der sich aber außerhalb des Films als Kunstmedium nicht bewährt hat.

Im Ballett tanzten vielmehr etliche Berühmtheiten im Alter von über 40 die Hauptpartien, von Margot Fonteyn bis zu Galina Ulanova, von Rudolf Nurejew bis zu Roberto Bolle.

Die stilisierte Körperkunst muss für derart starke Gefühle, wie sie in diesem Stück erscheinen, erst genügend erlernt sein. Das tumbe, jugendlich-stürmische Element, das Teens und Twens zur Genüge zu bieten haben, mag im Film ausreichen. Aber der professionelle Bühnentanz verlangt doch mehr.

Die Droge Romeo

Alexandr Trusch und Florencia Chinellato in „Romeo und Julia“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett – ein Foto von Holger Badekow hat sie aufs Schönste verewigt. 

Natürlich gibt es manchmal auch sehr junge Ballettstars als Romeo oder Julia. Alexandr Trusch beim Hamburg Ballett war 23 Jahre jung, als er sein umjubeltes Romeo-Debüt gab, an der Seite der gerade als Julia in Hamburg unvergessenen Florencia Chinellato. Trusch war ein frecher Romeo, ein schräger, überdrehter, fast hysterischer Typus, Chinellato hingegen war geprägt von unglaublicher Offenheit, Spontaneität und Vertrauensseligkeit. Niemand wird es je bereut haben, in eine ihrer Vorstellungen gekommen zu sein. Sie tanzten übrigens selbstredend die Version ihres Chefs, also von John Neumeier.

Die Version von John Cranko war hingegen auch beim Staatsballett Berlin und beim Bayerischen Staatsballett in München Dutzende von Malen zu sehen. Polina Semionova tanzte in München als Gast, gern mit Friedemann Vogel aus Stuttgart. Aber auch Ksenia Rhyzkova und Jonah Cook vom Bayerischen Staatsballett reüssierten in den Parts. Julien und Romeos zur Auswahl gab es im Laufe der letzten Jahre in der Hauptstadt: In Berlin waren die Paare Iana Salenko und Marian Walter, Elisa Carrillo Cabrera mit Mikhail Kaniskin, Yolanda Correa mit Dinu Tamazlacaru und Polina Semionova mit Alejandro Virelles sehr beliebt beim Publikum – man kann sich an diesem traurigen Liebesduett eben niemals satt sehen.

Aber oftmals sind die „alten Knochen“ legendär, die als Romeo und Julia in vorgerücktem Alter nochmal die stürmische erste Liebe zelebrieren. Rudolf Nurejew ist allen voran im Gedächtnis geblieben, als unbedingt in der Liebe siegen wollender Romeo.

David Moore und Elisa Badenes holen das getanzte Stück Weltliteratur aus dem Balletthimmel der weltweiten Prominenz zurück auf den Bühnenboden des Fasslichen. Sie tanzen es so, dass man sich sagen kann: Ja, so muss es sein, so glaubt man es.

Diese unglaublich schöne, starke Liebe in einer unglaublich dummen, brutalen Wirklichkeit. Die Tragik von Romeo und Julia liegt – ebenso wie ihr Zauber – in ihrer Jugend. In ihrer Unerfahrenheit. In ihrem Mangel an Cleverness.

Romeo und Julia tanzen überall.

Eine entzückend entrückte Julia! Polina Semionova im Rausch der Liebesgefühle – immer wieder eine Augenweide, hier beim Staatsballett Berlin… Foto: Bettina Stöß

Hätten sich die beiden schon bei ihrer heimlichen Eheschließung vom Mönch beraten lassen oder wären sie rechtzeitig gemeinsam aus Verona geflohen, vielleicht hätten sie eine gemeinsame Zukunft gehabt. Irgendwo da draußen in der Provinz, ohne Rückenwind der mächtigen Eltern, aber auch ohne deren Hass, der sie dennoch wohl lebenslang verfolgen würde.

Yuri Grigorovich hat in seinen Ballettversionen von „Romeo und Julia“ am Bolschoi Theater in Moskau dem Pärchen ein posthumes Denkmal gesetzt. Dem „Drehbuch“ von William Shakespeare folgend, ließ er sich die verfeindeten Clans – die Capulets und die Montagues – angesichts des toten Liebespaares versöhnen. Das war im Kontext eine politische Anspielung und eine Hoffnung auf die Aussöhnung zwischen Ost und West. Haben wir diese Hoffnung heute noch, gerade heute?

So absurd ist die Welt: Im Kalten Krieg machte die Versöhnung der Clans unbedingt Sinn. Heute würde man sie vermutlich für unglaubwürdig erachten. Denn heute regiert das Geld, nicht mehr die Liebe.
Gisela Sonnenburg

www.arte.tv

Mehr dazu auch hier: http://ballett-journal.de/stuttgarter-ballett-arte-romeo-und-julia-cranko-badenes-moore/

Außerdem ist die Aufzeichnung als DVD bei Unitel erschienen.

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