Das Paradies sieht für Kulturfreunde derzeit ganz einfach aus: Die Stätten zur lebendigen Kunst müssen sich wieder öffnen, allabendlich sollte es Vorstellungen in Theatern und Opernhäusern geben. Davon sind wir hierzulande jedoch mehr oder weniger weit entfernt – und wann genau wir Hoffnung schöpfen dürfen, ob ab Ostern oder erst später, wissen wir nicht. Immerhin: Die Digitalisierung erschließt uns neue Wege der kulturellen Kommunikation, die auch in Nach-Corona-Zeiten Bestand haben werden. Insofern war diese erste bedeutende digitale Ballett-Matinee mit Werkstatt-Charakter nicht nur als Online-Premiere ihrer Art etwas Besonderes. Sie kann, zumal sie ein Vielfaches an Zuschauern zu erreichen vermag, auch in Zukunft eine hervorragende Möglichkeit sein, das Publikum mit Ballett vertraut zu machen. Heute vormittag kam diese erste Runde, ab 11.15 Uhr und für eine knappe Stunde, aus dem Ballettzentrum Westfalen. Das Ballett Dortmund, bestehend aus ausdrucksstarken, klassisch und klassisch-modern geschulten Tänzerinnen und Tänzern, erwartete uns (erfreulicherweise kostenfrei) für Einblicke in die kommende Neuproduktion. „Die göttliche Komödie III: Paradiso“ wird sie heißen – und den dritten Teil der Umsetzung von Dante Alighieris „Göttlicher Komödie“ ins Ballett durch Dortmunds genialen Choreografen und Ballettdirektor Xin Peng Wang bilden. Weil nun die erste Veranstaltung zu dieser Uraufführung online stattfand, trug sie den entsprechenden Untertitel: „Digitale Matinee zur Neukreation von Xing Peng Wang“.
Vorab waren Tänzerinnen und Tänzer beim Aufwärmtraining zu sehen, und fast konnte man vergessen, dass wir in den Zeiten einer Pandemie leben: So konzentriert und beglückend gelassen, aber positiv gestimmt beschäftigten sich die Künstler*innen mit ihren schönen Körpern.
Ab und an zeigte ein Kameraschwenk Blicke in den verschneiten Westfalenpark.
Später kommt durch genau diese Schneewüste jener Mann, dem Dortmund sein Ballettwunder verdankt: Xin Peng Wang, gebürtiger Chinese und in Peking wie in Essen an der Folkwang Universität ausgebildeter Choreograf.
Freundlich grüßt er in die Kamera, tritt für uns sichtlich gespannt ins Ballettzentrum ein, setzt die Maske auf und stellt sein Technikerteam vor, das er begrüßt und nach dem Rechten fragt.
Computerbildschirme, Mischpulte, Tastaturen sind unerlässlich, wenn man aus einem Ballettsaal eine Live-Übertragungsstätte macht.
Auch Ballettmeister Cyril Pierre – vielen Ballettfans noch aus seiner Zeit als Erster Solist beim Bayerischen Staatsballett bekannt – kommt ins Bild: Er leitet mit wunderschönen Ports de bras das Training.
Er trägt eine Maske, während die Tänzerinnen und Tänzer nur auf Abstand achten.
Dann wird es sozusagen Ernst. Daria Suzi, Tänzerin und Muse des Choreografen, und Xin Peng Wang bei der Probe: Aufeinander eingestimmt besprechen und proben sie ein paar Bewegungen – und scheinen die Kamera nicht mal zu bemerken.
Aber was heißt „die Kamera“? Ein halbes Dutzend davon sind hier aktiv, und die Bildregie hat alle zeitgleich auf dem Bildschirm. Hier wird geklickt (übrigens von einem Mann, wie die IT-Branche überhaupt schwer mannlastig ist) – und wir sehen den Chefdramaturgen Christian Baier in einer Fensternische stehen. Hinter ihm bestehen immergrüne Bambusbüsche gegen das schneestürmische Wetter.
Ironisch begrüßt Baier an diesem „frühlingshaften Sonntag“, bevor er die Absicht der Matinee erklärt: eine Hinleitung zum Thema und zur künstlerischen Umsetzung des „Paradiso“. Dante dachte sich das All als auch sieben Planeten bestehend, und diese werden auch hier tanzend zu sehen sein.
Die Vorpremiere von „Paradiso“ wird wegen der Pandemie mit insgesamt nur zehn Tänzer*innen geplant. In zwei Jahren dann – Baier rechnet bis dahin mit einem definitiven Untergang des Corona-Virus – soll die große Zusammensetzung der drei Teile der „Göttlichen Komödie“ stattfinden.
Das „Inferno“ und das „Purgatorio“ erlebten ja bereits vor Einzug des Virus in unsere Welt ihre umjubelten Premieren (die Rezensionen dazu stehen im Ballett-Journal bereit, und zwar hier und hier).
Für die kommenden Minuten und dann auch für die Paradiso-Premieren verspricht uns Christian Baier „eine kleine Sensation“: das Musikerkollektiv „48° Nord“, bestehend aus zwei Musikern, die musikalischen Umfeld von William Forsythe zuzurechnen sind.
Es wird also synthetisch, in akustischer Hinsicht. Und schon klirrt es los, fiept und rasselt, dazwischen sind Instrumente wie ein Akkordeon, eine Posaune oder Streicher sowie das Atmen und Hauchen einer menschlichen Stimme zu erkennen.
Daria Suzi zelebriert zu diesem wie aus Fetzen zusammengefügten Klanghaufen ein Solo, zart und sinnlich, suchend und verlockend. Daria stellt Beatrice dar, jenes Sinnbild einer schönen Frau, die den Dichter Dante in seiner Erzählung durch die Hölle ins Paradies geleitet. Ihre Arabesken, Drehungen und Tendu-Posen sind typisch für Wangs exzellenten Stil.
„Einen wunderschönen guten Morgen, meine sehr verehrten Damen und Herren“ – die Schnitte in Online-Videos sind immer noch sehr hart. Wer jetzt spricht, ist nicht der Dramaturg, sondern der aktuelle Company Manager vom Ballett Dortmund, Slava Tütükin.
Er bearbeitet und beantwortet auch die Anregungen und Fragen, die per Chat ans Ballett Dortmund kommen. Und er erklärt das Hygiene-Konzept, laut dem nur Paare, die feste Gemeinschaften bilden, Pas de deux tanzen dürfen. Ansonsten muss – was sonst – Abstand gewahrt werden. Auch beim Tanzen, auch beim Kreieren.
Dass das geht, zeigt die nächste getanzte Arbeitsprobe: Es ist ein Pas de deux von Daria Suzi und Javier Cacheiro Alemán. Raffinierte Drehhebungen verleihen den beiden den Nimbus des Überirdisch-Jenseitigen, zu den schwebenden Sphärenklängen der Musik tanzen sie ein entrücktes Paar auf dem Weg ins ewige Leben.
Christian Baier erklärt denn auch, dass sich dieses im Soundtrack spiegeln soll.
Es ist etwas schade, dass nicht klar gesagt wird, wie eng hier die Zusammenarbeit des Musikwissenschaftlers Baier und dem Choreografen Wang ist. Man kann sich nur denken, dass Baier für die Theorie und Konzeption, für Musikfindung und Libretto zuständig ist, während Wang den praktischen choreografischen Teil leistet. Für seine Inspiration ist die Vorarbeit des Dramaturgen – aber auch während der Kreation gibt es wohl Austausch zwischen der personifizierten Theorie und der Praxis des Stücks. Und dazu würde man gern mehr erfahren.
Das Ergebnis berückt allemal. Auch, wenn „das Pulsieren der Galaxien“ illustriert wird.
In lang gestreckten, zu Attitüden und Arabesken geformten Laufschritten geht es durch das Tanzfeld, von Chainés und Sprüngen unterbrochen.
Stephanine Ricciardi und Guillem Rojo i Gallego sind zwei Namen derer, die hier mit akkuraten Posen und fließenden Bewegungen, dankenswerterweise jenseits irgendwelcher Betonungen technischer Schwierigkeiten, bezaubern.
Aber auch für die Planetenszenerie ist schon gesorgt. Frank Fellmann, der Bühnenbildner des Unterfangens, ist der nächste Gast auf dem Bildschirm, der aus seinem Büro im Theater heraus zugeschaltet ist und berichtet.
Er rekapituliert, dass für das „Inferno“ ein großer Trichter im Bühnenbild maßgeblich war, der im „Purgatorio“ als aufgelöste Projektion zugegen war. Jetzt, für das himmlische Paradies, hat Fellmann in der bildenden Kunst recherchiert. Bis zu Salvatore Dalí gibt es aufregende Darstellungen zu Dantes Renaissance-Dichtung. Aber: „Die meisten scheiterten am Paradiso.“
Sogar Sandro Botticelli habe zwar 32 filigrane Zeichnungen zum Thema gefertigt – aber ein Gemälde wurde nie daraus. Seine Entwürfe, geprägt von der jeweiligen Einfassung in einen Kreis, wurden dennoch maßgeblich für die Ideen von Fellmann für Wangs „Paradiso“.
Ein riesenhaftes Kreisgerüst mit Scheinwerfern wird unterm Schnürboden für das Himmelszelt stehen, das Ätherische und Entgrenzte bedeuten. Dante stellte sich eine Kristallsphäre vor, an der sich das Sonnenlicht wie in Prismen bricht und solchermaßen brilliert. Auch das wird umgesetzt, und ein Spiegel mit Reflexen wird sogar das Licht der Erkenntnis darstellen, das Dante und Beatrice am Ende überkommen wird.
Dank fortschrittlicher Computersoftware lässt sich Einiges davon heute schon zeigen, auch Engelsgestalten, die wohlgeordnet in die Sphäre aufsteigen.
Den „kosmischen Tanz des Lichts“ beschwört denn auch Christian Baier, zumal „Mond, Sonne, Gestirne und Galaxien“ im Finale von Wangs „Paradiso“ fasslich werden sollen.
Die Musik zerfetzt dazu schneidend die Luft, bis ein sanftes Pianogeplätscher und Violinengezirpe einsetzen.
Daria Suzi als Beatrice und Javier Cacheiro Alemán als Dante biegen und beugen sich wie im Wind dazu – und vollenden ihre Liebe offenbar im Angesicht des Göttlichen mit einem wahrhaft himmlischen Paartanz.
Ein gekonnter Schwenk der Kamera durch die Arbeitssphäre des Balletts Dortmund an diesem Sonntagvormittag beendet den Stream, der bis auf weiteres auf der Homepage www.theaterdo.de nochmals anzusehen ist.
Die Lektüre von Dante kann da nur weiterhin dazu passen – und Lust machen auf die beiden Premieren, die Xin Peng Wang und sein Team vorbereiten. Die Online-Matinee gleicht allerdings dem ersten Schritt in Richtung Paradies…
Gisela Sonnenburg
https://www.theaterdo.de/produktionen/detail/matinee-zu-die-goettliche-komoedie-iii-paradiso/