Der Tusch zu Beginn stammt aus „Sylvia“ von Léo Delibes. Mitreißende Ballettmusik ist das – und ein schöner Auftakt für das Projekt „Benois de la Danse. Pages of History“. Seine 22. Ausgabe ging heute online und steht 48 Stunden, also bis übermorgen, 17 Uhr in Deutschland, auf youtube und auf der Homepage vom Benois online. Das Staatsballett Berlin, das Stuttgarter Ballett und das Hamburg Ballett sind hierin vertreten – und wer „Die Kameliendame“ von John Neumeier liebt, sollte sich die Interpretation der Titelrolle durch die Pariser Étoile Amandine Albisson von nicht entgehen lassen! Seit 1991 werden die Prix Benois de la Danse, die „Oscars“ des Balletts, stets im Mai in Moskau für besondere Leistungen an internationale Ballettkünstler*innen vergeben. Verbunden ist diese Festivität mit einer hochkarätigen Gala. Online gibt es seit Ausbruch der Corona-Pandemie gebündelte Leckerbissen aus den bisherigen Galas zu Mini-Galas zu goutieren. Wie eben diese 22. Ausgabe dessen…
Gute 23 Minuten dauert die dreiteilige Show, zusammengesetzt aus zwei Pas de deux und einem Solo im Zentrum.
Der Start kommt von zwei Berliner Stars, die verehelicht sind und deren Tanz sowie auch deren Organisation von Tanzkunst sich seit Jahren um die Welt spannen: Elisa Carrillo Cabrera und Mikhail Kaniskin sind Publikumslieblinge vom Staatsballett Berlin, zudem ein exponiertes künstlerisches Leitungsteam in Mexiko, der Heimat von Elisa, welche übrigens 2019 den Prix de Benois de la Danse erhielt – als erste Mexikanerin.
„Mischa“ Kaniskin wiederum hat zum Bolschoi Theater in Moskau eine besondere Beziehung, denn er ist gebürtiger Moskowiter und wurde an der Akademie des Bolschoi ausgebildet, bevor er von Stuttgart und Berlin aus eine fantastische, letzten August mit einer großen Gala zum Bühnenabschied in Berlin gefeierte Karriere als Primoballerino hinlegte.
Das exzellente Paar tanzt mit hoher Präzision, mit repräsentativer Haltung, aber auch mit elegantem Liebreiz eine hochrangige Paarfantasie von Uwe Scholz.
Scholz ist ein tragischer Fall in der Ballettwelt, weil er hochbegabt, aber zu labil war, um seiner eigenen Kunst mit genügend Achtsamkeit zu begegnen. Der zügellose Konsum zwecks Genuss hatte ihn fest im Klammergriff, ohne Rücksicht auf seine Gesundheit oder auf ein solides soziales Miteinander. Scholz lebte dahin, wie Gustaf Gründgens es formulieren würde – und verschied 2004 viel zu jung, um abendfüllende Geniestreiche zu erschaffen.
Aber seine Petitessen und halben Abende sind dennoch von wahrhafter Größe, sind verdienterweise unvergessen und werden immer wieder von großartigen Körperkünstler*innen aufs Neue dargestellt. So auch hier!
Das „Duet from ‚The Creation‘“ referiert auf die „Schöpfung“ von Joseph Haydn, welche auch die fein ziseliert plätschernde, sinfonisch-chorische Musik dazu liefert.
Mann und Frau bilden hierin von Beginn an eine Einheit, wie eine Speerspitze, die senkrecht vom Himmel fährt. Pirouetten und bewusst niedrig gehaltene, formschöne Arabesken führen zu einem organischen Verlauf, über leichthin wirkende hoch aufwärts gerichtete Hebungen und bravourösen Drehungen auf der Mittelebene.
Wenn Kaniskin vor seiner Gattin kniet, um ihren Körper von dieser Position aus mit den Armen zu umfangen und zu sich zu ziehen, dann ist das eine Liebeserklärung mit Ehrfurcht und Respekt. Sie hat soviel Verbindlichkeit und auch Inbesitznahme, dass sie nur zwei Antworten kennt: Ja oder Nein.
Elisa Carrillo Cabrera beantwortet dieses mit einem bedingungslosen Ja, mit absoluter Hingabe und wunderschönem Vertrauen. Immer wieder neigt sie den Oberkörper nach vorn oder seitwärts, während ihr Partner sie dreht, hebt, hält – und würde er sie nicht halten, sie müsste die Balance verlieren. Die Choreografie ist extra so angelegt, um das Zusammenwirken der beiden zu betonen.
Die Posen verschmelzen solchermaßen zu einem melodiösen Tanz, der die einander widerstrebenden Kräfte der Schöpfungsprinzipien nachgerade anbetet.
Mann und Frau als Sinnbild der Welt… Die schlichten hellen Leotards, die eine reinliche Nacktheit erahnen lassen, verleihen den Beiden den Nimbus paradiesischer Sinnlichkeit.
Nach knapp vier Minuten liegt die Dame denn auch formvollendet, die Arme über dem Kopf gerundet, auf ihrem Herren, mit gestreckten Füßen und leicht gebogenen Knien.
Die Vereinigung findet ihren Höhepunkt und zugleich ihr Ende, wenn er sie auch in dieser Lage emporzuheben weiß und sie sich geschmeidig, aber wie in einem Akt der Befreiung, gegen die Schwerkraft zusätzlich aufbäumt.
Diskret wird das Licht gedimmt… Dunkel umhüllt uns wie die Protagonisten. Und die „Bravo“-Rufe sind nicht zu überhören!
Das zu toppen, ist schwierig, und so setzt das folgend angefügte Tanzstück auf den Kontrast: auf Solo, auf Zeitgenössisches, auf das auch für Arbeiten von Maurice Béjart typische Kostüm einer Herrenhose zu nacktem Oberkörper.
Dieses Mittelstück der fantastischen Online-Mini-Gala stammt von der ehemaligen Stuttgarter Tänzerin und Choreografin Katarzyna Kozielska. Und es wird von einem ehemaligen Stuttgarter Principal getanzt, nämlich von Daniel Camargo. Der Brasilianer firmiert mittlerweile ja als Star bei Het Nationale Ballet in Amsterdam – seine Stuttgarter Verankerung hat er aber offenkundig nicht vergessen.
Die Musik von Ludovico Einaudi ist vom Impetus her modern, auch minimalistisch, und sie schwankt wissentlich zwischen den E- und U-Bereichen, ohne allerdings in einem von beiden musikalisch Fuß zu fassen.
Das gewählte Stück fürs Solo namens „Firebreather“ („Feueratmer“) rauscht und sampelt, klirrt und suppelt vor sich hin, sich in von Pausen abgetrennten Schüben steigernd.
Ein Spotlight am Bühnenboden ist hier das Home des Tänzers, auf das er sich zubewegt, wo er eine Heimstatt findet, aus welcher er sich aber neugierig herauswindet, um nach hohen Sprüngen im Wechsel mit Lauf- und Akrobatik-Bewegungen wieder dorthin zurückzufinden.
Dieses Finden und Verlassen einer Heimat ist choreografisch satt illustriert und mit allerlei effektvollen technischen Tricks angefüllt.
Warum der Tänzer aber zurückkommt, um dann so skeptisch zu Boden zu schauen, als müsse dort mal wieder Staub gewischt werden, erschließt sich nicht. In den Details bleibt das Solo auch sonst eher unschlüssig, während seine Highlights durch den gediegen-furiosen Tanz von Camargo jedes kritische Auge bestechen.
Nach dieser künstlerisch etwas riskanten Arbeit wird es Zeit für ballettös unbestreitbar Unvergängliches. „Die Kameliendame“ von John Neumeier, und da wiederum der große Schwarze Pas de deux, ist so ein Meisterwerk: Es verzeiht keine Saumseligkeit und keine Probenmüdigkeit, aber es belohnt Fleiß und Ausdauer der Tänzer*innen wie kein zweites abendfüllendes Ballett.
Welche Brillanz, welche Erhabenheit! Welche Leidenschaft und welche Ästhetik – man mag das Stück Hunderte Male gesehen haben und doch ergreift es einen immer wieder.
Die Pariser Primaballerina Amandine Albisson ist aber auch eine Koryphäe in dieser Partie!
Voller Hingabe bis zur Selbstaufopferung ist ihre Marguerite; im Takt geschmeidig bis zum Anschlag; erotisch aufgeladen bis zur absoluten Bereitschaft aller Exzesse.
2019 war sie darum für diese Partie für den Prix Benois de la Danse nominiert, allerdings schnappte ihr Elisa Carrillo Cabrera die begehrte Trophäe mit Hinweis auf ihre Leistung als Julia in Nacho Duatos Version von „Romeo und Julia“ vor der Nase weg.
Dennoch sieht man auch die Pariserin gern noch einmal an der Seite des absolut versierten Armand namens Edvin Revazov, der vom Hamburg Ballett kommt und der diese Partie seit 2012 sozusagen als seine Kernkompetenz international verkörpert.
Am Bolschoi tanzte er sie auch schon mit Svetlana Zakharova, auch in der Kino-Übertragung des Stücks, womit Revazov jenen Zipfel Weltruhm ergatterte, der eigentlich jedem ernsthaften Künstler, jeder ernsthaften Künstlerin gebührt.
Seine erste Marguerite war Anna Laudere vom Hamburg Ballett, nicht zufällig auch seine Gattin. Die beiden lieferten die bis dahin modernste Interpretation des legendären Paares Marguerite und Armand, und zwar mit abgrundtiefen, fast depressiven Ausläufern, die das tragische Scheitern ihrer Liebe besonders verdeutlichten.
Amandine Albisson wiederum lebt jeden Moment der Szene als Marguerite. Ihre Präsenz auf der Bühne ist umwerfend, und was Edvin Revazov an definitiv konzis eingeschliffener Raffinesse zu bieten hat, ergänzt sie mit natürlich wirkender, aber auch nachgerade durchgestylter Leidenschaft.
Die Weichheit ihrer Bewegungen verleiht ihr eine seltene Feminität, der Energiefluss in ihrem Körper scheint von Lust und zügelloser Begierde zu rühren. Zugleich aber bewahrt sie in jedem Bruchteil einer Sekunde die Form, zeitigt eine Disziplin, die sprichwörtlich werden sollte: Sie ist nachgerade amandinique.
Die delikaten Hebungen und Würfe vollführen sie leichthin, als seien sie nichts anderes miteinander gewohnt. Aber auch jeder Blick, jede kleine Geste stimmen: Hier trifft ein Paar aufeinander, das sich bereits getrennt hat, um erneut in eine Liebe zu verfallen, die den Menschen von jedwedem Gefühl für die Realität gnädig befreit.
Die Musik von Frédéric Chopin hält das Gefüge aus Amour und Mort – also aus Liebe und Tod – mit allerdings gnadenlosem rauschhaften Tempo beisammen.
Wer das Stück kennt, weiß, dass es nach diesem fulminanten Aufeinandertreffen der beiden Liebenden mit der höchst altruistischen, aber todkranken jungen Dame nur noch bergab geht, während ihr Galan ziellos versucht, einen neuen Lebenssinn zu finden.
Im Schwarzen Pas de deux – der nach dem aufregenden Kostüm der Dame von Jürgen Rose benannt ist – ist von all den traurigen Wirren der Handlung nicht wirklich etwas zu ersehen, aber ein tragisch grundierter Hintergrund vermittelt sich allemal.
John Neumeier gelang es, ein Liebesverhältnis tänzerisch zu formulieren, das an dynamisch-sinnenhafter Spannung wirklich nichts zu wünschen übrig lässt.
Überflüssig zu erwähnen, dass der Erfolg dessen auf der Gala in Moskau überwältigend war, wie wohl immer, wenn diese Pretiose des Ballettuniversums aufgeführt wird.
Als Finale wird schließlich noch ein Verbeugungsakt mit Dutzenden von Künstlerinnen und Künstlern auf der Bühne gezeigt. Damit wir nicht vergessen, wie es eigentlich ist, das Ende einer großen Gala zu sehen…
Aber auch die Auslese dieser drei Stücke erhellt bereits nachhaltig das Gemüt. Nur 48 Stunden steht dieses Glück nun online, und wer am schnellsten bei youtube nachschaut, hat am wenigsten Zeit vergeudet.
Gisela Sonnenburg