Ohne, dass es uns bewusst war, hat eine neue Zeit für die schönen Künste begonnen: Das Internet als Aufführungsort führt fort, was sich seit Jahrhunderten und Jahrtausenden real als Tradition entwickelt hat. Dachten viele Kulturfreunde im letzten Jahr noch, Corona würde absehbar bald vorbei gehen, steht heute fest: Einschränkungen werden uns trotz Impfungen bleiben. Die Zukunft ist digital! In Russland sind die Theater und Opernhäuser zwar weiterhin geöffnet, und in den USA gab es mancherorts – wie in Miami – zu Weihnachten outdoor getanzte „Nussknacker“. Auch aus Spanien werden Aufführungen vermeldet, so „Fordlandia“ mit Lucia Lacarra und Matthew Golding. Aber in Zentraleuropa sind die Wege des Publikums zu den Bühnen derzeit fest verschlossen. Und wenn sie – hoffentlich bald – wieder öffnen dürfen, dann unter starken Auflagen. Derweil gewöhnt sich das Auge an die Dimensionen der Online-Darbietungen. Denn die Vorzüge des Internets treten immer deutlicher zu Tage. So kann der Zuschauer hier Zeit und Ort der Show meist selbst bestimmen, er kann das Vergnügen beliebig oft wiederholen, und sogar die gezielte mehrfache Ansicht von Lieblingspassagen ist meistens kein Problem. Klar, das haben DVDs und Plattformen wie youtube schon immer so angeboten. Aber das Live-Feeling, das sich dank WLAN verbreitet, gewinnt nicht nur an Bedeutung, es hat auch einen verbindenden Aspekt: Du weißt, du guckst nicht alleine, auch wenn du mutterseeleneinsam daheim auf deinem Sofa sitzt. Die eine oder andere Online-Premiere wurde so schon ganz gut überlebt. Gewöhnen wir uns daran! Die neue Ära hat schon beginnen, und am kommenden Montag, dem 1. Februar 2021, hat sie einen ersten Höhepunkt, wenn der Prix de Lausanne, der wichtigste Nachwuchs-Wettbewerb im Ballett, mit Unterstützung von arte.tv erstmals als reine Online-Show startet. Um 10 Uhr auf arte.tv (arte concert).
Vorhang hoch, wir warten schon mit Ungeduld und mit definitiv nicht frisierten Haaren: Her mit dem Tanz künftiger Newcomer in den Ballettcompagnien!
Überraschenderweise ist im Wettbewerb dieses Jahr auch ein Mädchen von der nun nicht eben weltbekannten Ballet School Mainz zu sehen: Julianna Correia Dreyssig. Aber hallo! Ein Hoch auf die multikulturelle Gesellschaft! Mit King Hei Wong tritt außerdem ein Junge der John Cranko Schule aus Stuttgart an. Mit Luca Abdel-Nour kommt ein Nachwuchstänzer der Tanz-Akademie Zürich ins Programm, und mit Victor Cagnin ein junger Mann von der Ballettakademie der Wiener Staatsoper.
Wir wünschen viel Erfolg!
Die russischen Ballettstudenten etwa aus Sankt Petersburg oder Moskau fehlen allerdings mal wieder beim Prix de Lausanne, sodass sich hauptsächlich asiatische, US- und lateinamerikanische Jugendliche das Match liefern. Schade, dass ein so bedeutender Wettbewerb keinen realen Überblick über den internationalen Ballettnachwuchs bietet. Dafür haben die Russen eigene Wettbewerbe wie den „Arabesque Ballet Competition“ in Perm, wo auch westliche Studenten antreten.
Aber weil das Vortanzen im schweizerischen Lausanne – zumal mit seiner seit Jahren gepflegten weltweiten Online-Präsenz dank arte und youtube – als besonders bedeutend gilt, wäre es wirklich schön, wenn hier künftig alle Länder ihre Tanztalente zeigen könnten. Alle heißt: Alle, die nennenswertes Ballett und nennenswerte Ballettschulen zu bieten haben.
Daran wird man auch beim Finale am 6. Februar 21 verstärkt denken. Die Eminenzen in Lausanne sollten also die Ruhe der Pandemie-Zeit nutzen, um eine grundlegende Erneuerung ihres Events in Angriff zu nehmen. Im nächsten Jahr wird es zum 50. Mal stattfinden – das wäre ein prima Anlass, um wirklich international zu sein, ob wieder nur online oder auch live im Theater. Hoffen wir also auf ein Jubiläum in Lausanne 2022, das besondere Aufmerksamkeit verdient!
Am Montagabend lockt aber zunächst das Bayerische Juniorballett München auf die Website www.staatsoper.tv: als Gast mit drei Tänzen beim „Montagsstück XII“ in der Bayerischen Staatsoper. Sogar eine Uraufführung von Jörg Mannes ist dabei: Seine „Unsterbliche Geliebte“ ist der gleichnamigen Beethoven-Amour gewidmet. Mannes war Ballettdirektor in Hannover, bis er dort für den meistens eintönig zappeligen Marco Goecke geschaßt wurde. Jetzt hat er seine kreative Power dem Nachwuchs gewidmet – man darf gespannt sein.
Ein paar Kilometer weiter nordwestlich, im schwäbischen Ballettländle, plant derweil ein ganz anderer, noch jung zu nennender, aber sehr umtriebiger Mann, nämlich Eric Gauthier vom Theaterhaus in Stuttgart, etwas ganz Neues in ganz großem Maßstab, das bereits voll im Zeichen der Online-Ära steht: 16 Choreografinnen und Choreografen – von Mauro Bigonzetti und Bridget Breiner über Edward Clug, Nanine Linning und Itzak Galili bis zu Eric Gauthier selbst – sollen auf einen Schlag zu 16 ebenfalls brandneuen Musikstücken die logische Anzahl von 16 Soli erstellen, die allesamt online uraufgeführt und auswahlsweise bei Gelegenheit auch analog aufgeführt werden sollen.
Der Titel des Projekts „The Dying Swans Project“ verrät zwar, dass man hier zum Übertreiben neigt, denn „sterbende Schwäne“ sind Tänzer im Engagement sicher nicht, auch dann nicht, wenn sie in Corona-Zeiten kaum auftreten dürfen.
Problematischer als dieser Kantinenhumor ist aber sowieso – wie insgesamt bei Gauthier Dance vom Theaterhaus Stuttgart – das penetrante Auftreten des Sponsors. Daimler und Mercedes, angeblich maßgeblich an diesen Projektplänen beteiligt, stehen im 21. Jahrhundert längst nicht mehr so gut da wie noch vor zwei oder drei Jahrzehnten. Man möchte ihre Namen nicht öfter hören und sehen als nötig – mit gutem Grund.
Denn man weiß mittlerweile, dass diese Firmen vor Betrug am Kunden im großen Stil nicht zurückschrecken. Man weiß auch, dass der Feinstaub und der Lärm, die nicht nur bestimmten Dieselmotoren, sondern allen konventionellen Automobilen entströmen, Hunderttausende von Menschen krank machen und sogar den Tod bringen können.
Die Auto-Werbung, die dabei hilft, die Augen vor diesen Problemen fest zu verschließen, sollte meiner Meinung nach generell verboten werden, nach dem Vorbild der Zigaretten-Werbung. Und ebenso bitte das Nennen solcher dubiosen Sponsoren! Sie können die gegebenen Gelder ohnehin von der Steuer absetzen.
Die neue Devise für solche Firmen müsste lauten: Tue Gutes und rede nicht mehr darüber – entschädige lieber all jene, die du geschädigt hast.
Es wird Zeit, dass in der europäischen Kultur und Politik mal andere Ideen prägend werden als die des Profits und seiner Handlanger. Wer auch dieser Meinung ist, darf sich gerne entsprechend engagieren und jene Kreative unterstützen, die nicht schweigend alles machen, was sich große Konzerne wünschen. Zum Beispiel mich vom Ballett-Journal, denn ich leiste hier aus purem Idealismus deutlich mehr als Andere für dicke Dollars.
Mal ehrlich: Wer das sinkende Niveau in den großen Medien, in der mainstreamigen Kunst und Kultur tatenlos hinnimmt, ist letztlich doch mit schuldig, wenn außer Techno, Pop und Comic nicht viel übrig bleibt.
Vielleicht wirken meine kritischen Gedanken auf den einen oder anderen Künstler des Gauthier-Projekts ja anregend. Deren Probenbeginn ist am Montag, den 8. Februar 21, es ist also gerade noch Zeit, mal über ein gesellschaftskritisches Thema nachzudenken, um es in Ballettform umzusetzen.
Einen Tag vorher, am Sonntag, dem 7. Februar 21, gibt es aber noch einen unbedingt wichtigen Online-Termin. Dann wagt sich Xin Peng Wang vom Ballett Dortmund live ins Internet: mit seiner „Matinee zu ‚Die göttliche Komödie III: Paradiso“.
Um 11.15 Uhr geht es los, und wer sein Interesse an der Tanzkunst ernst meint, sollte sich das nicht entgehen lassen.
Wang hat mit dem ersten Teil „Inferno“ und dem zweiten Teil „Purgatorio“ bereits zwei fulminante Ballettabende nach Dantes „Göttlicher Komödie“ kreiert, mit sehr großem Erfolg. Die Corona-Pandemie hat seine Pläne, diese Arbeit nahtlos fortzusetzen, zerstört. Aber jetzt zeigt er, dass es immer einen Weg gibt, wenn man tolle Tänzer und eine ausreichende Finanzierung hat.
Ob die Premiere des „Paradieses“ auch online stattfinden wird, steht noch in den Sternen. Aber schon die Matinee wird einigen Aufschluss geben und neugierig auf die weitere tänzerische Behandlung des Themas durch Wang machen.
Der Vorteil dessen liegt auf der Hand: Bisher kamen nur die Besucher in Dortmund in den Genuss so einer Matinee, die wie eine Werkstatt traditionell vor jeder Uraufführung beim Ballett Dortmund stattfindet. Dank der neuen Spielregeln kann man weltweit Einsicht nehmen, man kann Teilhabe und Wissensdurst mit Lust an der Kunst und der Informierung verbinden, und das sogar, ohne Eintritt zu zahlen.
Danke ans Theater Dortmund, das diesen einmaligen Online-Event ermöglicht.
Und so gilt die Devise an alle: Bitte durchhalten, fleißig sein, mit Liebe zur Kunst und Sorgfalt arbeiten! Wir stehen diese Pandemie durch, tanzenderweise, und wir lassen uns die Vorfreude auf weitere Sinnstiftungen durch die Kunst weder von den Viren noch von irgendwelchen Pessimisten nehmen.
Gisela Sonnenburg
www.arte.tv (arte concert)