Der telegene Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (1920-2013) sagte mal: „Fernsehen macht die Dummen dümmer und die Klugen klüger.“ Wenn im Fernsehen eine gut gemachte Ballettaufzeichnung kommt, hat die Dummheit allerdings wenig Chancen. Das gilt sogar dann, wenn es sich nicht um die kongeniale Choreografie eines tiefsinnig-gelungenen Meisterwerks handelt. Denn entgegen anderslautenden Behauptungen selbsternannter Experten fördert Ballett – ob aktiv oder passiv genossen – die Intelligenz, das ist wissenschaftlich nachgewiesen. Der Verstand hat keineswegs Sendepause, während man sich mit Ballett beschäftigt: Die Zusammenarbeit der verschiedensten Hirnareale ist dabei gefordert, und etwaige Blockaden der Nervenimpulse bei ihrem Zusammenspiel werden dabei behoben. Geübt werden kann das als „Training fürs Hirn“ auch vorm Fernseher – so am Samstag, dem 5. September 2015, wenn 3sat zur Primetime den erst im März premierten Abend vom Stuttgarter Ballett „Strawinsky HEUTE“ ausstrahlt.
Auf die heimische Couch mitbringen sollte man: Abenteuerlust und Durchhaltevermögen. Der Dreiteiler – eine Triple Bill mit Werken von lebenden Choreografen – ist nämlich ein Risikogeschäft. Reich-Ranicki muss dezidiert interpretiert werden – und die kritische Lust hat ordentlich zu tun. Es wäre ja auch so einfach gewesen, etwa ein abendfüllendes oder mehrere kurze Stücke von John Cranko aufzuzeichnen und somit sozusagen dem Kerngeschäft des Stuttgarter Balletts nachzukommen. Das wäre indes sehr ergiebig gewesen. Mit Crankos „Onegin“ hätte man womöglich die gesamte Ballettgemeinde im Einzugsgebiet des Senders vor der Glotze versammeln können! Auch „Endstation Sehnsucht“ oder Marcia Haydées „Dornröschen“ wären Burner gewesen, was die Publikumslust angeht.
Aber das Stuttgarter Ballett und 3sat setzen auf die Neugierde der Zuschauer aufs weniger Bekannte. Die Sendung „Das Stuttgarter Ballett tanzt Strawinsky“ vereint drei blutjunge Arbeiten, die zudem unterschiedlicher nicht sein könnten und etwa mit der choreografischen Handschrift Crankos rein gar nichts zu tun haben. Auswahl und Kombination der Choreografen liefern ein Stuttgarter Bild aktueller Jungchoreografie: kennzeichnend ist darin die stete Suche nach Neuem. Die Choreografen Marco Goecke, Demis Volpi und Sidi Larbi Cherkaoui – die ersten beiden sind in Stuttgart so genannte Hauschoreografen – zelebrieren jeweils ihren ureigenen Stil; sie entwerfen symbolische Szenarien, die inhaltlich unterschiedlich aufgeladen sind.
Dabei steigert sich die Intensität: von einem ganz auf Form gebauten Stück (Goecke) über ein Experiment mit Märchenzulage (Volpi) bis zur Tanzutopie vom Feinsten (Cherkaoui).
Roter Faden ist die theaterwirksame, kontrolliert-impulsive Musik von Igor Strawinsky (1882-1871), dem großen Erneuerer der Ballettmusik zur Zeit der ersten Avantgarden. Drei seiner Ballette in neuen choreografischen Interpretationen fasst das Programm, das letzte Spielzeit in Stuttgart lief, kommende aber nicht mehr auf dem Spielplan steht und darum als Rarität gelten kann, zusammen.
Marco Goecke, 1972 geborener Wuppertaler, ausgebildeter Münchner und gelernter Den Haager, macht den Anfang. Seit 2000 macht der einstige Tänzer ja schon als Choreograf auf sich aufmerksam. Er wurde ganz jung als Nachwuchsgenie gefeiert und gepusht, mit Preisen überhäuft, ist seit 2005 Hauschoreograf beim Stuttgarter Ballett – und schuf bereits über 40 Werke. Diese sind prägnant, zeitgeistig und modernistisch. Allerdings hat Goecke einen Hang zur Selbstwiederholung: Es ist mehr als nur eine Stilfrage oder ein Selbstzitat, wenn seine Werke auf den ersten Blick als Goecke-Stücke zu identifizieren sind. Man könnte von einer einheitlichen „Goecke-Stimmung“ sprechen, die fast jedes Mal mit ähnlichen szenischen und tänzerischen Mitteln erzeugt wird.
Insofern ist es absolut lehrreich, so ein Stück mal von der Fernsehkamera abtasten und solchermaßen analytisch wiedergeben zu lassen. Die Fernsehregie von Peter Schönhofer leistet das denn auch vollauf. „Le Chant du Rossignol“ entstand übrigens 2009 fürs Leipziger Ballett – und war ab März 2015 erstmals beim Stuttgarter Ballett zu sehen.
Gestreckte, angespannte Hände, die nervös flattern, während sie in Port-de-Bras-Bewegungen hoch und runter geführt werden: Dieses typische „Goecke-Element“ spielt auch in „Le Chant du Rossignol“ („Der Gesang der Nachtigall“) eine entscheidende Rolle. Das Stuttgarter Ballett macht daraus eine filigrane Kunst, vermag mit Entschiedenheit die Unterdrückungen von starken Emotionen mit solchen Arm- und Fingerhaltungen auszudrücken. Es ist erstaunlich, welche vielfältigen Nuancen man mit so reduzierter Bewegung evozieren kann – zumal die Beinarbeit sich bei Goecke nicht selten aufs Geradestehen sowie aufs Gehen in Schräglage beschränkt.
Das Märchen vom todkranken chinesischen Kaiser, den nur der Gesang einer zarten Nachtigall genesen lässt und das Strawinsky teils lautmalerisch illustriert hat, fand Goecke aber nur peripher interessiert. Dabei ist Hans-Christian Andersens Kunstmärchen in vielen Variationen denkbar und keine schlechte Parabel, um als Vorlage für ein modernes, auch zeitgenössisches szenisches Ballett zu taugen. Immerhin geht es ja darin um den Kontrast eines echten Vogels, der wundersam singen kann, zu einem mechanisch konstruierten Maschinenvogel. Als bildhaft geschilderter Konflikt von Künstlern, die von Imitatoren und Technikern für „überflüssig“ erklärt werden, ist die Story nicht dumm – und hätte durchaus anregend sein können.
Goecke spart sich solche intellektuellen Leistungen und überlässt sie seinem Publikum. Lediglich das Zwitschern der Vögel und die Poesie, die durch sie manchmal im Alltag entsteht, gaben ihm hier spezielle Inspiration. In einem kurzen Take darf sich der Choreograf auf 3sat in diesem Sinn zu seiner Intention des Balletts äußern, bevor die Aufzeichnung des Stücks beginnt.
„Mich interessiert eigentlich nur der Mensch auf der Bühne – und die Choreografie“, sagt Goecke da geheimnisvoll in die Kamera. So richtig mysteriöse Stimmung kommt allerdings in seinen Piècen nun gerade gar nicht auf, vielmehr ist eine gewisse Unisono-Tristesse, ein gepflegtes Leiden am Einsamkeitssyndrom des modernen Großstadtmenschen für Goeckes Stücke prägend.
So zappeln und hüpfen sie, die Tänzer, die er ins blaugraue, abstrakte, licht- und schattengeflutete Ambiente stellt. Harte Kontraste zwischen Hell und Dunkel sind ebenfalls Goecke-typisch und bestimmen eine fast exaltierte, so künstlich-dramatische Szenerie. Immerhin: Man wird innerlich hellwach angesichts der offenbar unfreien, sich wie ferngesteuert bewegenden Kreaturen darin.
Zu Beginn: ein Herrensolo mit feinnervig-hektischer Energie. Daniel Camargo zeigt damit, was für ein Präzisionskünstler er ist. Jeder Winkel in seinen fluffig-zackigen Bewegungen stimmt, mal pavianisch, mal roboterhaft wirken sie. Seine Figur: ein Mensch, gefangen in sich und seinen begrenzten Möglichkeiten, dennoch unaufhörlich strebend nach mehr. Es ist gewissermaßen das lyrische Ich der Zerrissenheitsavantgarde, das sich hier formuliert.
Es folgen Duette und Gruppentänze, die von zeichenhaft miteinander vollführten, synchronen Hüpfern mit geschlossenen Beinen sowie dem Stehen auf wie aneinander klebenden Füßen dominiert sind.
Kurze kleine Kombinationen implizieren, dass man Auguste Bournonvilles Assemblés auch in die Jetztzeit transplantieren kann. Die Stimmung gleicht indes der eines Sci-Fi-Animationsfilms, in dem Menschen weitgehend automatisiert leben. Pseudogesten deuten Fließbandarbeit an. Der Mensch als Vorstufe zum Roboter. Dennoch berührt es, wenn diese seltsamen Zwitterwesen in zaghaften Versuchen aus der Emotionslosigkeit auszubrechen suchen. Ähnlichkeiten etwa mit Goeckes Stück „And The Sky On That Cloudy Old Day“ („Und der Himmel an diesem wolkigen alten Tag“) sind sicher nicht rein zufällig.
Die Kostüme sind ebenfalls ähnlich. Sie passen zu dieser Nirwana-Gesellschaft der Glücklosen – und können so eigentlich nur in einem Goecke-Ballett stattfinden. Die Herren zeigen den nackten Oberkörper zur Anzughose und zu Ballettschuhen. Zwei Jungs tragen außerdem ein Sonnenpiktogramm auf dem Rücken: als habe man aus einer Kinderzeichnung ein symmetrisches Tattoo designt.
Die ironische Zitierung von Hoffnung und Mode, von Kennzeichnung und Zugehörigkeit ist sozusagen Goeckes Stärke.
Dazu gehört auch, dass die Herren (nicht die Damen) die Fingernägel anthrazitfarben lackiert tragen. Vielleicht soll das eine gewisse Aufmüpfigkeit darstellen? – Jedenfalls ist es ungewöhnlich genug, als dass man sich daran erinnern kann, wann tolle Jungs mit Nagellack zu provozieren wussten. Nämlich in der Punk-Ära in den 80er Jahren: Dunkelgrüner Nagellack war damals der Extrempunkt des Morbiden, Sinnbild einer Absage an mainstreamige Modebilder, zumal, wenn ein Boy – etwa einer einschlägigen Band – ihn zur Schau trug. Heute brilliert jede Hausfrau mit schick schwarz schimmernden Zehennägeln in den Sandaletten – die explosive Power von Mode ist halt zeitlich recht begrenzt.
Die Damen in „Le Chant…“ glänzen denn auch frisurtechnisch mit herkömmlicher „Banane“ zum geölten Seitenscheitel, eine nicht eben revolutionäre Haarmode. Zur Anzughose tragen sie wabernde hautfarbene Shirts. Sie wirken akkurat, zurückhaltend, diszipliniert. Glück oder Unglück, das scheint für diese Frauen kein Thema, sie haben weniger Menschlichkeit zu zeigen als ihre männlichen Kollegen: Goecke gehört nicht zu jenen Frauenverstehern, die man gerade unter homosexuellen Choreografen mitunter findet. Sein Thema ist der Mann von heute, unverkennbar.
Die bemüht vorsichtigen Kontaktaufnahmen zwischen den Individuen – gleich- wie gemischtgeschlechtlich ausgeführt – führen zu verhaltenen Umarmungen, die allerdings folgenlos bleiben und in ihrer Beliebigkeit fast abschreckend wirken. Falls Goecke die Gefühlsarmut dieser Gesellschaft anprangern will, vermag er sie hervorragend eins zu eins zu reproduzieren.
GEFÜHLSARMUT IST NICHT GEFÜHLTE ARMUT
Wie eine Gruppe japanischer Kampfsportler stoßen die Tänzer dann auch noch Laute aus. Das Leben, ein Sport? Ein einziger Kampf? Oder sogar ein einziger Krampf? Ein stetig sich selbst verzehrender Energieaufwand?
Angst und Nervosität, Verklemmtheit und apokalyptischer Eifer – das sind die typischen Stimmungen, die Goecke-Ballette mustergültig abbilden. Nicht zuletzt in Szenen wie der mit den Rufen. Insofern sind die Gestalten in den Choreografien des Fastnochjung-Künstlers die Büttel und Knechte des allgegenwärtigen, überfüllten Arbeits- und Beziehungsmarktes: auf diesem ist nur noch für wenige Privilegierte ein wirklich zu ihnen passendes Plätzchen frei.
Ein panisches Nicken der zehnköpfigen Tänzerschar bestätigt das. Die Personen hier stehen ständig unter Strom, leiden nach innen. Sie sind ewig verdammte Fremde in einer unübersichtlich anonymisierten Gesellschaft, die zu verändern sie nicht die Kraft haben.
Eine Pappschachtel wird mit den Füßen, in kleinen, tapsenden Schritten, schleifend am Boden, vorwärts geschoben: Ein durchaus gelungenes Bild für die kleinteilige, fast sinnlose Arbeit des Einzelnen in einer Welt, die er nicht mehr versteht und auch nicht verstehen soll. Fachidiotentum im Großen wie im Kleinen als A und O der Entfremdung der Menschen voneinander.
Die Spannung des Balletts strebt zielsicher der Schluss-Szene zu. Musikalisch ist „Le Chant du Rossignol“ keine jener „Herzkasperl-Musiken“ mit Erregungszulage wie „Le sacre du printemps“ oder „Der Feuervogel“ (beide ebenfalls von Igor Strawinsky). Aber Düsternis ist auch hier unterschwellig zur Genüge enthalten; diese kippt am Ende in ein erlösendes Dauerdelirium.
Bühnenregen setzt ein. Aber hier tanzt natürlich kein heiterer, swingender Frank Sinatra dazu, und keine Katharsis (Reinigung) erfolgt. Die Stimmung wird, im Gegenteil, zunächst noch düsterer.
Die alsbald sanft fließende Musik von Strawinsky, die nunmehr höchstes Glück impliziert, wird optisch karikiert. Man tanzt Unglück, den Kampf mit den eigenen Emotionen, mit Wut, Angst, Aussichtslosigkeit als Überlebensgefühl. Der Mensch hier ist ein Unterdrückter, und er unterdrückt sich gewissermaßen selbst, da er die Mechanismen zu seiner Repression verinnerlicht hat. Aufzumucken könnte ja gefährlich sein!
Ja, doch, diese Haltung ist gut beobachtet. Es gibt sie, und sie bringt das Lebensgefühl in einer überfüllten U-Bahn morgens zur Rush hour zum Ausdruck. Sie hat allerdings mit der Motivik vom „Chant du Rossignol“ so wenig zu tun. Dafür ist sie Goeckes Generalthema.
Am besten wäre Folgendes: Marco Goecke sollte seine Stücke konsequenterweise nur noch „Die Unterdrückten“ nennen. „Die Unterdrückten 1“, „Die Unterdrückten 2“, „Die Unterdrückten in Blau“, „Die Unterdrückten in Fleischfarben“. „Die Unterdrückten als dunkelmütige Selbstunterdrücker“. Dann müsste sein Publikum nicht so viel rätseln, sondern könnte sich dem Genuss von etwas hingeben, das ohne Etikettenschwindel serviert wird.
„Die Unterdrückten XL“ alias „Le Chant du Rossignol“ mündet in einen spannenden Beinahetodeskampf. Das geschilderte Herrensolo im Bühnenregen, das gerade eben nochmal vom Tanzenden gewonnen wird, hätte auch zur Stagnation führen können: Der Tod aller tänzerischen Bewegungen wäre im Goecke’schen System wohl noch schamhafter ausgestellt als der etwaige Tod einer Bühnenfigur. Vielleicht sind diese Figuren sowieso nur als narzisstische Schemen, als eitle Fantasieschatten und vitale Alptraumheroen zu deuten.
Da schließt sich zudem der Kreis, denn endlich gibt es, sozusagen auf den letzten Drücker, eine Berührung mit dem konkreten Märchenlibretto: Auch der chinesische Kaiser von Hans-Christian Andersen springt dem Tod (dank der Schönheit authentischer Musik) gerade noch mal von der Schippe.
Bei Goecke sieht das natürlich vor allem so aus: Die Hände flattern wieder, aber dieses Mal bleiben die Armbewegungen nicht eckig und staksig, sondern dürfen das Auf und Ab von Vogelschwingen simulieren. Nachtigall hin oder her – das hat eher was von Adlerflügeln, die den Tänzer aus einem Zwischenzustand zurück ins Leben bringen.
So steht er noch da, Goecke-sturgerade, wie ein Sinnbild gewollter Ewigkeit für ein erträumtes Leben, bis der Schlussapplaus einsetzt. Gespannt harren wir der Fortsetzung von „Die Unterdrückten“, die spätestens im Januar beim Stuttgarter Ballett stattfinden wird: Dann ist eine Uraufführung von Marco Goecke angekündigt.
Solchermaßen eingestimmt, lässt man sich auch am Strawinsky-Abend auf ein neues Spiel ein. „Die Geschichte vom Soldaten“, ein Ballett mit außerordentlicher Tiefe, wurde von Demis Volpi ganz neu gedeutet. Volpi, spielerischer und auch traditioneller als Goecke, ist derzeit ebenfalls Hauschoreograf beim Stuttgarter Ballett. Er war bei der Kreation seiner Strawinsky-Arbeit noch keine 30 Jahre alt, dennoch wurde auch er in seinem Künstlerleben schon reichlich mit Ruhm und Lorbeeren bedacht.
Ein Exkurs scheint an dieser Stelle nötig. Denn: An fähigen jungen Choreografinnen und Choreografen gibt es, trotz eines scheinbaren Überangebots, aktuell einen großen Mangel. Der Grund dafür liegt auf der Hand:
Um Profi-Tänzer zu werden, müssen die SchülerInnen und StudentInnen seit etwa zwanzig bis dreißig Jahren schon als Teenager und Twens so lange jeden Tag und jeden Abend nur ihren Körper formen und trainieren, dass für die Bildung ihres Geistes keine Zeit und keine Kraft mehr übrig bleibt. Die für Pubertierende aber wichtigen Kämpfe um ein eigenes Verständnis von Kultur, ob anhand von Shakespeare, Robert Mapplethorpe oder Emil Nolde, bleiben somit aus. Nur wenige schaffen es, über den eigenen Tellerrand hinauszusehen und somit in ihren Köpfen Weltentwürfe, die mal bühnentauglich sein könnten, zu entwickeln.
Wer aber erst mit Mitte Zwanzig mal ein schwieriges Buch zu lesen versucht, kann keine Leuchte im Schöpfen von Theaterwerken werden. Und Ballett ist Theater – und eben nicht Gymnastik zu Musik. Die wichtige Jugendzeit wird jedoch von heutigen angehenden Tänzern voll und ganz der Körperarbeit zugeeignet – und lässt keine Ressourcen zur Legung von Grundsteinen, auf denen die Erwachsenenrezeption von Kultur aufbauen könnte. Dazu würden zum Beispiel auch Mußezeiten zählen – oder, das ist individuell verschieden, auch mal nächtliche Spaziergänge, wie Rudolf Nurejev sie sich als russischer Tanzschüler gelegentlich heraus nahm.
Heute ist die Kasernierung und Durchkalkulierung der körperlichen Kräfte zu einem unbarmherzigen Diktat in den Tänzerausbildungen geworden. Nur wenige junge Menschen erhalten sich da noch genügend Esprit, um sich der Menge an Bildung und Kultur „draußen“ noch zu stellen.
Ohne Tänzer gewesen zu sein, ist es aber nahezu unmöglich, Choreograf zu werden. Man muss wissen, wie der Körper tickt, auch, was heutzutage tänzerisch so alles machbar ist, man muss die Anforderungen der Bühne kennen und die Abläufe der technischen Organisation – und man muss auch in die Jobverteilungsmaschinerie der großen Häuser kommen, was anders als über Compagnie-Erfahrung derzeit wohl nicht akzeptiert wird.
Früher war da vieles einfacher. Der technische Standard im Profi-Ballett war noch nicht eine so eine hohe Messlatte wie heute, zumal bei den Jungs nicht. Tänzer wie John Neumeier und John Cranko konnten gerade darum so großartige Choreografen werden, weil sie erst relativ spät und nahezu extensiv mit dem Profitanzen anfingen – und da bereits eine ganze Dekade intensiver Auseinandersetzung mit Kultur hinter sich hatten.
Literatur, Fotografie, Kino, Malerei, Soziologie, Psychologie, Philosophie, Puppenspiel, Oper etc. und sogar die eigene Psycho- und Erfahrungsstruktur: Solche Dinge müssen bereits entdeckt und reflektiert sein, wenn man anfängt, ein professionelles Ballett zu kreieren. Hat ein (werdender) Tänzer von heute dazu noch die Zeit? Nein, leider nicht. Entsprechend die jungchoreografischen Ergebnisse… oft ganz nett, aber beliebig und austauschbar.
Dieses Mal enttäuschte auch Demis Volpi. Trotz all seines szenischen Talents, seines Raumgefühls und seines tänzerischen Fingerspitzengefühls:
Es fehlte ihm beim historisch so ergiebigen Thema von „Die Geschichte vom Soldaten“ sichtlich die Befähigung, Neues mit der Tradition zu verbinden. Das kann an einem Mangel an Erfahrung in solchen Dingen liegen, möglicherweise hat Volpi aber auch gravierende Wissenslücken in Feldern, die ihn hätten inspirieren können. Ich persönlich glaube nicht, dass er etwa auch nur einen einzigen zeitgenössischen Philosophen gelesen hat. Er wird weder die Essays von Susan Sonntag noch die Shakespeare-Interpretationen von Jan Kott kennen. Ob er Adorno für einen Schokoriegel hält, ist nicht sicher. Um einen „alten“ Stoff, der existenzielle Fragen berührt, zeitgenössisch zu bearbeiten, ist aber hintergründiges und auch originelles Wissen von großem Vorteil.
Für seinen im März 2015 uraufgeführten „Soldaten“ hatte Volpi mit Vivien Arnold immerhin eine kompetente, belesene Librettistin und Dramaturgin an seiner Seite. Die Lust an einer geistreichen schöpferischen Inspiration hat sie ihm jedoch sichtlich nicht eingeben können, das war ja auch nicht ihr Job.
Man muss es mal deutlich sagen: Ich verlange einen gewissen Bildungsstand von Leuten, die andere Menschen via Bühnenkreation beglücken wollen. Ansonsten sollte es für die Betreffenden erstmal zurück auf die Schulbank gehen, auf welche auch immer. Manchmal hilft es ja, erstmal Lebenserfahrung zu sammeln. Oder sich zeitgenössische Opernmusik im Selbststudium zu erarbeiten. Auch Museumsbesuche oder Tierfilme, Bücher oder Gemälde können großartige Choreografien auslösen. Aber einfach drauflos zu tänzeln, ohne Sinn und Verstand – das können schon zu viele in scheinbar fantastischer Fertigkeit. Davon wird nur nichts bleiben, wenn es keine inhaltliche Substanz hat.
Demis Volpi jedoch wollte eigentlich ganz andere Erwartungen erfüllen. Er will und soll eine Stuttgarter Hausmarke verkörpern – und darum ist es richtig, bei ihm durchaus streng hinzuschauen. Das Erbe, das er eventuell anzutreten hat, ist doch gewaltig. Übrigens war „Die Geschichte vom Soldaten“ das erste Ballett, das der Stuttgarter Übervater des Balletts, John Cranko, schuf, und zwar im zarten Alter von 16 Jahren für den südafrikanischen Cape Town Ballet Club. Volpis Talent ist hier nun aber nicht eben mit einem sprichwörtlichen Apfel, der nicht weit vom Stamm fällt, zu vergleichen. Von einem starken schöpferischen Drang konnte bei ihm noch nie die Rede sein!
Volpi wurde zuerst in Argentinien, wo er zur Welt kam, bei Privatlehrern im Balletttanz ausgebildet und dann in Stuttgart, an der John Cranko Schule, „geschliffen“. Er gilt als „Stuttgarter Gewächs“, so tituliert ihn die Homepage vom Stuttgarter Ballett. Und er tanzte, bevor er Choreograf wurde, im Corps de ballet des Stuttgarter Balletts, atmete den Geist dieser Truppe und ihres „Erfinders“ John Cranko. Als in Crankos choreografischer Tradition stehend kann man Volpi dennoch mitnichten bezeichnen. Das ist ja auch kein Muss – aber interessant wäre es doch zu sehen, ob aus dem vielseitigen und vielschichtigen Ballettvokabular Crankos in gewisser Hinsicht eine jüngere Generation erwachsen könnte.
Mit „Krabat“ – nach dem gleichnamigen Kinderbuch von „Räuber Hotzenplotz“-Erfinder Otfried Preußler – landete Demis Volpi 2013 einen sensationellen Erfolg als Choreograf, der ihn sozusagen unsterblich machte und den er selbst möglicherweise nie mehr übertreffen wird. Ansonsten sucht sich die Fantasie des Frühbegabten, der schon mit vier Jahren Ballettunterricht nahm, mehr oder weniger das Experiment.
Mit „Aftermath“ („Nachwirkungen“, 2014) fand er zu einem eigenwilligen Bewegungsthema, das er von außen nach innen, von der Form hin zu einem Inhalt zu entwickeln wusste. Der aussichtslose Kampf des Individuums gegen die Masse war da die Thematik, umgesetzt mit Ballerinen, die ihre Spitzenschuhe als virtuose Hack- und Stampfmacheten einsetzten. Volpis „Karneval der Tiere“ (ein Kinderballett von 2010), war im Kontrast dazu allerdings kaum mehr als eine herzlose, sogar morallose Kostümshow – und kein naiv-tiefgehendes Kunstwerk, was Kinder- und Jugendballett aber sehr wohl sein sollte.
Eine ernst zu nehmende Konkurrenz zu Kalibern wie John Cranko – oder auch zu lebenden Größen wie David Dawson, Christopher Wheeldon und Angelin Preljocaj – wird Demis Volpi also voraussichtlich nicht in den Annalen der Tanzgeschichte darstellen.
Für „Die Geschichte vom Soldaten“ verfiel er denn auch in allzu braves Runterchoreografieren von szenisch durchaus anregenden Vorgängen. Davon, dass der Choreograf stark von seiner Muse geküsst worden wäre, darf man wirklich nicht sprechen.
Der Star in Volpis „Geschichte vom Soldaten“ ist die Primaballerina Alicia Amatriain als Teufel. Alles hängt an ihr – ohne ihre Bandbreite an versiertem Können, technisch wie auch schauspielerisch, wäre dieses Stückchen Volpi-Märchen glattweg ganz zu vergessen.
ALICIA SCHMEISST DIE SHOW
Im kalkweißen Outfit von Kopf bis Fuß, mit gepuderten Haaren, die in einen Häkelzopf münden, der sich wiederum wie eine knöcherne Wirbelsäule über den Rücken entlang zieht, verkörpert Alicia hier mehr den Gevatter Tod, das Prinzip der Destruktion, als unbedingt nur das Böse oder Gott Entgegengesetzte. Die Farbe Weiß als Farbe der Bösewichtin kann man speziell deuten, dazu später.
Dieser Teufel nun kriecht aus einem der vielen nostalgischen Koffer, die die Bühne als Bühnenbild besiedeln. Ein Wandertheater soll damit zitiert werden – Leben und Sterben aus dem Koffer taugen aber auch als neuzeitliche Metapher. In Zeiten, in denen das Reisen billiger und einfacher ist als jemals zuvor, während die Kosten für standardgemäßes Wohnen immer teurer werden, allemal.
Die Vintage-Ästhetik bringt denn auch nur scheinbar einen Hauch von Belle Époque. Faktisch ist das Stück nicht konkret verortet. Und warum es Soldaten sind, die hier in modischen Pluderhosen herumhüpfen, erklärt die Inszenierung keineswegs. Es könnten auch Bauern, Büroangestellte oder Arbeitslose sein. Nur die Kostüme müssten dann wechseln.
Der Soldat aus dem Titel, mit Aplomb, aber ein wenig blass getanzt von David Moore, ist sowieso eher Musiker: Sein Geigenspiel hat magische Anziehungskräfte, damit ist er ein Orpheus des Militärs, sozusagen. Während er mit seiner Theatergeige tanzend stumm fidelt, hört man indes ganz andere Klänge, etwa vom Blech, aus dem Orchestergraben. Doch die Mittanzenden scharen sich begeistert um den „musizierenden“ Künstler, die Freude, die Musik zu bringen vermag, spielt das Ensemble wirklich sehr schön.
Dass da zwischendurch mal eine Kanone aus einem Koffer geholt wird, soll vielleicht Angst machen. Faktisch wirkt das Bühnenpersonal mit solchen Requisiten aber wie eine Spielzeugwelt – verstärkt wird dieser Eindruck von einer Szene, in der die Koffer zu Zimmern werden, in denen junge Damen im Takt der Musik die Uhrzeit stellen und mit Pappsymbolen den Tisch decken. Frühstück, Mittagessen, Nachmittagskaffee. Dann kommt der Tod.
So bruchstückhaft und wie eine parodierende Collage aus Werbemotiven spießt Demis Volpi das ursprüngliche Libretto auf. Es geht ja darum, dass der Soldat seine Geige, die seine Seele versinnbildlicht, dem Teufel verkauft. Alsbald ereilt ihn ein Unglück nach dem anderen – so stirbt seine Frau, was auch in Volpis Version zu sehen ist. Viel zu tanzen hatte Elena Bushuyeva als Soldatengattin allerdings sowieso nicht. So kann sie wenigstens dekorativ umfallen – ein Slapsticktod, und auch der Kummer des jungen Witwers ist mehr ausgestellte Überzeichnung und wie vom Zeichentrickfilm inspiriert, als dass man mitfühlen möchte.
Igor Strawinskys Musik greift hingegen viel Folklore und Ballroom auf. Volpi sagte denn auch dem Fernsehregisseur Schönhofer vorab im Interview: „Strawinsky hat sich bewusst auch Themen der Volksmusik ausgesucht.“ Der Komponist habe auf Breitenwirkung beim Publikum gehofft und darum eine „bewusst plakative Form der Erzählung“ gewählt. So richtig lieb gewonnen hat der Choreograf Volpi den Stoff wohl eher nicht, und das merkt man. Denn Märchen und Parabeln sind mit gutem Grund sinnfällig gehalten. „Plakativ“ ist da nicht wirklich ein angemessener Begriff.
Die Tragik, die einen jungen Mann wie diesen Soldaten hier ereilt, der sein Talent (seine Geige), seine Seele (seine Geige) und auch seine Liebesfähigkeit (seine Geige) leichtfertig aufgibt und dem Teufel verkauft, ist denn auch keineswegs plakativ oder simpel zu erfassen. Dahinter steht die Frage nach dem Sinn des menschlichen Daseins, die Strawinsky damit beantwortet, dass der einzelne Mensch den anderen etwas von sich geben muss, um ein erfülltes Leben zu haben. Wer Talent hat, muss diesem folgen, um der Welt das zu geben, was sie von ihm verlangen kann – sonst ist das ein Selbstverrat, der sich bitter rächen wird.
Zu dieser Moral der Geschicht’ dringt Volpis oberflächliche Choreografie nicht vor. Trotz des Engagements der hochbeinigen Alicia Amatriain, die mit viel Mut zur Hässlichkeit die moderne Hexe (Teufelin) spielt, fehlt dem Stück die Tiefenschärfe. Da schlängelt sich die Teufelsfrau mit Verve durch die Szenerie – aber niemand kann ihr etwas entgegen halten. Sie ist allein mit sich.
Weiß als Teufelsfarbe könnte als Metapher für Kokain herhalten. In dieser Deutung würde der Soldat seine Tugenden für Drogen verraten, die seine Fantasie und Leistungsfähigkeit zunächst scheinbar anheizen, faktisch aber veröden lassen. Das wäre kein dummer Ansatz. Und ein zeitgenössisch aktueller dazu. Aber ansonsten fehlen hier die Zusammenhänge, die eine Gesellschaft und ihr Personal charakterisieren würden. Kleinbürger und Kanoniere, Tischmamsellen und Kostümkoffer – aus diesem Mischmasch kann man nicht wirklich etwas Aufregendes oder auch nur Konkretes ablesen.
Dass Strawinsky „Die Geschichte vom Soldaten“ 1917, also während des Ersten Weltkrieg komponierte, hätte hier auch ein interpretatorischer Leitfaden sein können. Dann wäre da aber nichts mehr leicht wie in einem Zeichentrickfilm geworden! Soldatendoping gab es übrigens auch damals schon – und Kokain galt zunächst als erlaubtes Mittel gegen Schnupfen (!) sowie zur Schlafminderung.
Allerdings ist Volpis revueartiges Tanzspiel weit davon entfernt, solchermaßen ein Problembewusstsein zu schaffen. So bleibt letztlich unklar, welche Methoden der Teufel hier eigentlich anwendet, um zu verführen. Nur sein Tanz ist der Choreografie nach nicht stark genug. Und etwas anderes bietet Volpi als Erklärungsmuster eigentlich nicht an.
Nach dem etwas langatmigen, teilweise aber akrobatischen Verführungs-Pas-de-deux des Todes mit dem Soldaten – dem Höhepunkt des Stücks – gehört die Seele des Soldatenorpheus dem weißen Teufel – und seinem raffinierten Spitzentanz.
Das kann Volpi wirklich: Spitzentanz zu inszenieren. Vielleicht sollte er künftig mal einfach ein bekanntes klassisches Ballett ganz bescheiden und librettotreu nachchoreografieren. Damit er nicht an der Last, etwas Neues zu schaffen, einknickt und das Anknüpfen an die Tradition von der Pike auf lernt. Denn Ballett auf Weltklasseniveau funktioniert über die Würdigung der Tradition – und nicht über Neuschöpfungen aus dem hohlen Bauch heraus.
Zurück zum „Soldaten“. Während die Bläser und Streicher unter der musikalischen Leitung von James Tuggle, dem Ballettkönner unter den Dirigenten schlechthin, voll aufdrehen und mächtig powern, legt der weiße Teufel in den Koffern ein Theaterfeuer. Auch die Geige soll brennen – bis der Kofferberg auch noch explodiert.
Originellerweise (wenn auch ziemlich sinnlos) erklingt dann noch ein Schubert-Lied als Epilog, die Romantik wird also dem Tod durch Teufelswerk entgegen gestellt oder zumindest angefügt.
Klavier und Mezzosopran (Maria Theresa Ullrich singt fein tragisch intonierend) liefern sich ein berauschend schönes, latent aber auch beklemmendes Duell der Heimeligkeit. Der Soldat verstirbt. Sang- und klanglos. Und was macht dazu die Gevatterin Tod? Sie raucht geschlagene zwei Minuten lang genüsslich eine Zigarette, sich auf ihrer Koffertruhe – die als einziges Gepäckstück nicht brennt – lustvoll rekelnd.
MANCHMAL IST DURCHHALTEN ALLES
Das ist, leider, ziemlich peinlich. Es ist einfach nur abgegriffen, dieses finale Bild vom Entspannungsglück mit Zigarette. Es ist läppisch und nichtssagend und hat nichts vom Raucher-Existenzialismus der in dieser Hinsicht noch unschuldigen 50er und 60er Jahre. Damals war wissenschaftlich noch gar nicht klar, ob Rauchen wirklich Krebs und andere Krankheiten verursacht. Damals war das Zigarettenrauchen als mondäne Geste noch möglich – heute wirkt es auch oder gerade bei einer Figur, die den Teufel darstellt, einfach nur noch lächerlich. Pathetisch wirkt es, Jahrzehnte nach dem „Marlboro Man“, schon gleich gar nicht – aber das soll es wohl auch nicht. Der Teufel würde allerdings wohl anders auf den Putz hauen, als sich „sexy“ eine Fluppe anzustecken.
Dafür wissen wir heute, dank der modernen Internet-Aufklärung, dass dieselbe Industrie, die den Regenwald abholzt und uns dadurch eines Tages das Atmen verunmöglichen wird, die uns die Lebensmittel und Geschmacksnerven mit Zusatzstoffen versaut und uns zudem stets falsche Werte in ihren beknackten Werbeclips vorgaukelt, dass also genau diese schuldige Industrie, die für Profite auch mal Menschen umbringt, mit Zigaretten ein perfektes legales Betäubungs- und Selbstbenebelungsmittel geschaffen hat, das ihr hilft, Menschen zu Konsumenten zu degradieren, die lieber paffen als Revolution zu machen.
Das war jetzt ein langer Satz, der aber die Langeweile von Demis Volpis Soldatenstück bei weitem nicht erreicht. Der einzige Grund, sich dieses Mittelstück des Abends anzusehen, sind die tollen Verrenkungen von Alicia Amatriain. Sie ist zu bewundern. Zumal ihr Trikot für ihre Gestalt sehr unvorteilhaft ist und ich mich frage, ob das niemand am Theater bemerkt hat oder ob es niemand zu sagen wagte. Alicia macht fleißig das Allerbeste draus, obwohl sie in einem die fehlende Taille kaschierenden Kostüm ganz sicher eine viel bessere und auch zur Rolle passendere Figur machen würde. Eine tapfere Heldin!
Übrigens muss sie sich als Teufel zeitweise auch noch eine grüne Maske mit Altmännerteufelsgesicht aufsetzen, nun ja: allerdings zu einem Zeitpunkt, da man diese Inszenierung ohnehin schon zu ausgiebig belächelt hat, um da noch irgendwas ernst zu nehmen. Es gibt so ein Wort für einen kunsthandwerklich ambitionierten, aber grob fehlerhaften Theaterstil: provinziell. Das fällt einem hier mehrfach ein – und es lässt sich auch nicht wegschieben.
Nun dürfen Experimente auch mal daneben gehen, dafür sind sie ja da. Demis Volpi sollte nur einsehen, dass er hier außerordentlichen Unfug anrichtete. Auch Reid Anderson, Ballettintendant in Stuttgart, sollte sich seinen Strawinsky-Abend kritisch ansehen. Dann wäre ich schon fast zufrieden. Und befinde einmal mehr, dass man etwas zu hoch gepokert hat, als man sich entschied, keine Cranko-Arbeit, sondern diesen Strawinsky-Dreiteiler im Fernsehen zu zeigen. 3sat ist aber in jedem Fall zu danken, weil der Sender seiner Informationspflicht nachkommt – und manche Zuschauer würden es sonst ja auch kaum für möglich halten, was für einen seltsamen Quark Demis Volpi da angerührt hat.
Dagegen ist die versierte Traumtänzerei des Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui und seiner Fassung von „Der Feuervogel“ geradewegs eine Offenbarung. Die Regie von Peter Schönhofer unterstützt mit etlichen Überblendungen die verträumte Atmosphäre, die die Zuschauer einfach mitreißt. Auch die Tänzer haben hier etwas Bedeutsames zu tanzen, darzustellen, auszudrücken – und aus der raffiniert komponierten Szenenmontage Cherkaouis schält sich immer wieder ein Hoffnungsmoment, das bis zum Schlussbild anhält.
Der 1976 geborene flämisch-marokkanische Choreograf Cherkaoui war denn auch derjenige, der überhaupt den Anstoß zu diesem Strawinsky-Programm gab. Er wollte nämlich von sich aus den „Feuervogel“ neu inszenieren – und Reid Anderson gab ihm dazu die Chance und gruppierte dann die beiden anderen Stücke dazu.
Uraufführung war im März 2015, und es ist tatsächlich bedauerlich, dass dieses Stück in der kommenden Spielzeit nicht zu sehen sein wird.
Umso besser, dass es diese Sendung auf 3sat gibt!
Im Interview erklärt Cherkaoui vorab, dass er den „Feuervogel“ als Phönix interpretiert. Es geht ihm mehr um Energien und Motive als um die konkrete Handlung. Dennoch sollte man letztere im Hinterkopf haben, wenn man Cherkaouis Stück anschaut.
Das auf einem Volksmärchen basierende Libretto handelt von einem Zarewitsch, der das exotische Wunderwesen „Feuervogel“ einfängt, zum Dank für seine Freilassung von ihm später aus höchster Not errettet wird – und wie nebenbei dreizehn Jungfrauen aus der Gewalt eines bösen Zauberers rettet. In eines der Mädchen hat der Zarewitsch sich verliebt, der böse Zauberer hingegen wird vernichtet – das Happy Ending ist Programm.
Das 1910 uraufgeführte Ballett strotzte ursprünglich nur so vor Sinnlichkeit, vor Buntheit und vor Lebenslust. Der rotgoldene Zaubervogel steckte dekorativ in einem Prunkkostüm; die russische Folklore feierte spätestens mit den dreizehn Jungfrauen fröhliche Urständ.
Cherkaoui hat seine Version als Vision angelegt – und zudem von allem altertümlichen Pomp befreit. Elegant und aufwändig geriet sein „Feuervogel“ dennoch – und wenn zu Beginn die Tänzerin Rachele Buriassi und der Stuttgarter Superstar Jason Reilly als ihr Partner einen versponnenen Pas de deux tanzen – sie in einem flammend roten Abendkleid mit drei überlangen Schleppen und er in einem Mantel, der ihn rätselhaft und souverän wirken lässt – dann ist schon klar, dass uns hier ein Reich der Fantasie, wenn nicht sogar ein Paradies erwartet.
James Tuggle, der Dirigent, unterstützt diese Botschaft. Selten hört man den „Feuervogel“ so klar, aber auch so impressionistisch-weich interpretiert. Häufig tackern hier die Rhythmen, pressend und drängend, als ginge es um eine akustische Alarmbezeichnung. Aber bei Tuggle und Cherkaoui summt und zwitschert, fließt und fältelt die Musik. Es ist ein Traum – und das wird ganz am Ende einmal mehr deutlich.
Zunächst aber entfalten Vogelfrauen und Menschenmänner in verschiedenen Variationen ihren Liebeszauber. Die Primaballerina Anna Osadcenko und ihre Kolleginnen Ami Morita und Agnes Su zeigen feingliedrige Weiblichkeit, mit jenem Hauch von Exotik, der die Modenschauen von Paris, zum Beispiel im Stil von Yves Saint Laurent, jahrzehntelang verehrungswürdig machte.
Die Kostüme, die der belgische Modeschöpfer Tim van Steenbergen entwarf, verströmen aber auch eine Schönheit, die sowohl nostalgische Eleganz als auch futuristische Tatkraft suggerieren. Genau richtig fürs Paradies!
Ab und an kommt unerwartet Lautstärke hinzu. Die Pauken knallen, das Damencorps dreht Fouettés; die Herren ergehen sich in Pirouetten, springen tollkühn – und in einem Adagio scheinen sie, mit Attitüden und dem steten Wechsel zwischen Boden- und Standfiguren beschäftigt, das bühnenscheinbare Fliegen neu zu erfinden. Jason Reilly zeigt sich von seiner besten Seite: männlich, geschmeidig, technisch versiert, dennoch emotional authentisch.
Mit der Synchronizität der Paare hapert es indessen; aber vielleicht soll hier gar kein zackig-gleichmäßiges Auf und Nieder im Chor praktiziert werden. Vielleicht soll so ein gewisses Laissez-faire die Szene beherrschen. Dazu gehört dann eben auch, dass hier ein Bein und dort ein ganzer Körper sozusagen hinterher gekleckert kommt. Den Ballettmeistern vom Stuttgarter Ballett ist also eher eine große Lässigkeit als zuviel Drill anzulasten – auch eine Form von Modernität, die zumindest in dieses Stück vorzüglich passt. (In den meisten anderen Balletten wäre das weniger zu tolerieren…)
In einem helldunkel gemusterten Flattergewand erscheint dann alsbald der weltbekannte Primoballerino Friedemann Vogel – leichtfüßig und schön, wie ein Außenseiter, der von einem anderen Planeten zu Besuch kommt. Er integriert sich in die Schar der Tanzenden, genießt die Anpassung, grenzt sich letztendlich aber dennoch ab.
Mit einem utopisch inspirierten Finale bewegen sich zuvor alle Mitwirkenden so somnambul wie in einem gemeinsamen Traum. Weiche Hebungen, sanfte Umarmungen – das Animalische (Vogelhafte) und das Humane (Männliche) verschmelzen immer wieder aufs Neue.
Elisa Badenes, Nachwuchsstar der Stuttgarter, kommt dann noch mit weißen Federn in der Hand aus der Gruppe nach vorn, ein zauberhafter Moment, schon ist er vorbei, doch die Erinnerung bleibt.
Fazit: Das Corps stellt eine andere, eine bessere Welt als die uns bekannten dar – Unschuld und Unantastbarkeit scheinen darin vereint zu dominieren.
Ganz am Ende gibt es noch diese Pointe, die hier nicht verraten wird… ihr Sinn jedoch bestärkt im Glauben ans Machbare, denn er heißt: Alles nur Theater hier!
Gisela Sonnenburg
„Das Stuttgarter Ballett tanzt Strawinsky“: am Samstag, 5. September 2015, 20.15 Uhr (bis ca. 21.45 Uhr)
Und lesen Sie bitte auch hier ein Interview mit der Dramaturgin Vivien Arnold zu diesem Programm:
www.ballett-journal.de/stuttgarter-ballett-strawinsky-heute/