Opernhäuser sind Tempel des guten Geschmacks und der künstlerischen Wahrheiten. Manchmal sind sie aber auch Häuser der gescheiterten Hoffnungen. Die Arbeiten des Choreografen William „Billy“ Forsythe liegen dazwischen, pendeln zwischen maximaler Vermittlung und oberflächlicher Dekoration. Selten gibt es im Werk eines Künstlers ein derart großes Qualitätsgefälle wie bei ihm. Insofern war man auf die neue Berliner Triple Billy, auf den dreiteiligen Abend von ihm, gespannt. Würde er so erotisch wie die „Love Songs“? So aufregend wie „Artifact“? So hintergründig wie„The Second Detail“ ? Forsythe hat eine technisch rasante Körpersprache mit ästhetisch wiedererkennbarem Vokabular entwickelt. Damit trieb er das moderne Ballett schon auf bis dahin unbekannte Gipfel der Abstraktion. Inhaltlich bleiben seine Stücke aber nicht selten auf der Strecke: Außer Schrägheit, Witz und Experiment ist dann nicht viel zu holen. Avantgarde auf der einen Seite, Selbstwiederholung auf der anderen – das sind die zwei Pole von Forsythe. Das bestätigt der neue, nach ihm benannte Abend vom Staatsballett Berlin (SBB) in der Deutschen Oper Berlin (DOB), der drei schon gut bekannte, aber nicht wirklich brillante Werke des Starchoreografen präsentiert: „William Forsythe“ spannt den Bogen von zwei Stücken, die zu elektronischen Musiken von Thom Willems getanzt werden, zu einem Reigen mit Songs von James Blake.
Nach einer sehr interessanten Einführungsmatinee mit Forsythe zu diesem Programm und seiner Ausgestaltung (hier geht es zum Bericht dazu) war man von der Premiere gestern Abend in der Deutschen Oper Berlin etwas enttäuscht.
Glasklar, aber auch deutlich überkontrolliert und sichtlich unspontan tanzt das SBB die drei Stücke.
Deren Überarbeitungen und Anpassungen ans SBB während des Prozesses des Einstudierens erbrachten weder neuen Glanz noch neuen Sinn. Das krampfhafte Dauergrinsen der Tänzer vor allem im letzten Stück macht die Sache nicht besser und auch nicht moderner.
Der Charme des ersten Werks, „Approximate Sonata 2016“, soll eigentlich darin liegen, dass hier in zackigen Bewegungsmustern verschiedene Beziehungsmodelle vorgeführt werden.
Aber außer Gregor Glocke und Polina Semionova, die ganz hervorragend harmonieren, fand keines der Paare zu einem glaubhaften Miteinander.
Immerhin: Gregor Glocke hat sich mit dieser Premiere emanzipiert, findet vom Gelegenheitssolisten aus der Gruppe zu einem bemerkenswerten Profil. Er tanzte schon immer deutlich weniger hart als andere Tänzer, dafür geschmeidig-soft. Jetzt hat er auch den richtigen Biss, um seine Männlichkeit optimal zu zeigen.
Wenn er mit sauber gesprungenen Cabrioles durch die Luft wirbelt, verleiht er den etwas müden Forsythe-Schritten sogar den dramatischen Touch von George Balanchine.
Und die edle, allerdings in den puristischen Kostümen auch abgemagert wirkende Polina Semionova partnert er ganz famos: Von ihr, diesem Vollprofi und Superstar des Balletts, kommt generell viel Flair für ihren jeweiligen Tanzgefährten, und das voller Freude und von innen her zu erwidern, hat Gregor Glocke vorzüglich drauf.
Jetzt aber zum Beginn des Abends. „JA“ steht in Lettern links auf der Bühne, und damit das auch ja (!) alle lesen, wird das Jasager-Wort als Lichtprojektion verdoppelt. Rechts stehen außerdem zwei aufeinander getürmte Alukästen, deren weiterer Sinn sich nicht ergibt.
Vier Paare kommen nacheinander in den Bühnenraum, um ihre verschiedenen Arten, zu zweit zu existieren, zu zeigen. Meistens geht es aber dann doch nur um Selbstbehauptung und parallel laufenden Solotanz, nur selten um das Miteinander. Die Schritte entstammen oftmals dem klassischen Vokabular und sind mit Forsythe-typischer Schnittigkeit modernisiert.
Die Musik von Thom Willems kommt zunächst über ein dunkles, Herzschlag-ähnliches Pochen nicht hinaus, wirkt denn auch reichlich monoton, bis sich hellere Klanggebilde dazu mischen. Eine Partitur mit künstlerischer Absicht wird dennoch nicht erkennbar.
Eine Beziehung zwischen Klang und Tanz gibt es auch nicht. Ist das nun revolutionär oder zwanghaft originell? Das sollte jeder Zuschauende selbst entscheiden dürfen. Wem Berieselung genügt, der ist ohnehin damit glücklich.
Von Pose zu Pose hangelt sich der Choreografie nach das Paar Aurora Dickie und Jan Casier durchs Leben. Scharf und schön stehen sie da, zum Beispiel in einer vom Mann gehaltenen weiblichen Arabeske. Dann fallen sie in sich zusammen und erblühen erst für eine neue, meist ebenfalls neoklassische Pose. Dazwischen allerdings darf man gähnen.
Manchmal tanzen auch die vier Frauen oder die vier Herren als Mini-Corps. Aber mehr als Höflichkeit verbindet sie nicht miteinander.
Am Ende wird demonstriert, dass auch eine Lady die kleinen, battierenden Ballettsprünge beherrschen kann, als wäre sie ein Junge. Na gut, man schmunzelt jetzt, aber im Grunde wissen wir das schon seit Waganowas Zeiten.
Nichts Neues also aus Forsythe-Land?
Nein, zu sehr ist der erfolgreiche Altmeister Billy in sich selbst verliebt, um wirklich gut neu zu kreieren. Und sein Narzissmus färbt ab: Hier sind auch die meisten Tänzerinnen und Tänzer mehr in die eigenen Muskeln verliebt als in ihren Tanzpartner.
Möglicherweise trainiert das SBB auch soviel mit Gyrotonic- und anderen Fitness-Geräten, dass das Ballett-Training schon längst nicht mehr für die Art ihrer Bewegungen prägend ist.
Ohne den Proportionen schmeichelnde Kostüme – hier sehen wir nur etwas Schwarz an den Leibern sowie die nackerten, sehnigen Beine der Ballerinen – ist dieser Anblick dann frustrierend: akrobatische Sportlichkeit scheint das Ideal, nicht ausdrucksstarke Kunst.
Die neongrüne Hose einer Ballerina macht die sonstige Einfallslosigkeit der Kostüme übrigens nicht wett. Den Namen Stephen Galloway muss man sich von daher nicht merken.
Auch im zweiten Stück, „One Flat Thing, reproduced“, triumphiert die Vorführung von Körperbeherrschung über den Willen zum Ausdruck.
Forsythe schmeichelt mit seinen schwierigen technischen Aufgaben der Eitelkeit gut trainierter Tänzer. Aber was sie mit ihrem Tanz überhaupt mitteilen sollen, fragen sie offenbar nicht.
Auf einen Schlag kommen sie hier, vierzehn an der Zahl, von hinten nach vorn gelaufen, rechteckige Tische mit sich zerrend. Sie ziehen diese parallel zur Bühne positionierten Tische hinter sich her wie eine Beute. Endlich mal was anderes, endlich mal was ganz Neues, scheinen sie zu denken.
Die Tische füllen dann den Tanzraum, und in den engen Spalten, die sie lassen, bewegen sich die schlanken Tänzer. Und sie tanzen auf den Tischen, natürlich, gelegentlich auch darunter. Ihre Kostüme, wieder von Stephen Galloway, verdienen nicht diese Bezeichnung. Es sind bunte Probenklamotten.
Überhaupt wirkt diese Truppe, als hätte man die tänzerischen Darsteller aus „Hair“ arbeitslos gemacht, und nun suchen sie neue Jobs. So könnte Tanz nach der Abschaffung des Genres Musical aussehen.
Oft liegen Beine einzeln auf den Tischen, mal wird sich mit dem Oberkörper darüber gebeugt, mal wird das Bein gebeugt und der Fuß zum Flex gebracht. Dann wieder recken sich die gestreckten Beine in die Höhe, die Rücken liegen dann auf den Tischen.
Flippig und blitzschnell werden die Positionen gewechselt. Miteinander turnen scheint happy zu machen, vor allem die Herren: als würden sie sich auf einen Wettkampf vorbereiten.
Einer der Tische vorn hat aber eine Rolle inne: Er wird zwei Mal aufmüpfig, hüpft also hoch, als bediene sein Tänzer ihn wie eine Marionette. Beide Male bringt der Tänzer das freche Stück Möbel zum Schweigen, indem er mit aller Kraft seinen Oberkörper auf die Tischoberfläche drückt.
Ist das nun die Unterdrückung einer Revolte oder eines Verbrechens?
Vielleicht geht es aber auch nur darum, den Büroalltag bequemer zu machen. Die Tische kommen schließlich nicht aus der Arbeitswelt des Tanzstudios.
Wie auch immer: Die schönsten Momente hier sind jene, in denen synchron getanzt, gezappelt, gewippt wird. Leider sind diese Sekunden selten und werden auch nicht in einen Kontext gesetzt. Aber die Illusion, Tische wären die besten Freunde einer Menschengruppe, ist schon hübsch absurd.
Am Ende rennen alle wieder nach hinten, nehmen ihre Tische brav mit.
Schon weil diese Tischtänzerei so gefährlich ist, wie sie leichthin lustig wirkt, muss man die Tänzer bewundern. Verletzungen und Unfälle scheinen hier sozusagen auf dem Tisch zu liegen – aber die geübten Künstler schaffen es natürlich, diesen Tanz auf dem Vulkan bravourös zu meistern. Vielleicht ist es der Kontrast aus Leichtigkeit und Unfallgefahr, der ein Sinnbild für das Dasein an sich darstellen soll. Aber richtig tiefsinnig ist das halt nicht. Auch wenn es im Ballett kein Netz gibt.
Die Pause kann man dann damit verbringen, die Gewänder des Publikums zu studieren. Bei der Premiere boten sich folgende Bilder:
Furios silbrig glitzernde Plateausohlenschuhe kontrastierten mit hautfarbenem, paillettenbesetztem Tüll. Ein Anhänger mit Goldkettchen auf schwarzem Rollkragenpulli erhielt dadurch seinen letzten Pfiff, dass die flache Brust, auf der es schaukelte, männlich war. Toupierte und gefärbte Haare strotzten nur so vor Extensions, ohne dass einzelne Strähnen durch die Körperbewegungen ins Wippen gekommen wären – so stark waren sie mit Haarspray fixiert worden.
Die altbackenen protzigen Ballkleider, die manche Damen früher gern in der Oper zur Schau trugen, wurden somit abgelöst von spaßig-geckenhafter Mode, die sich selbst vor allem als „cool“ beschreibt und die gern mit dem klassischen Travestiethema spielt.
Auf der Bühne ist das Outfit der drei Stücke von „William Forsythe“ weitaus unspektakulärer.
Obwohl es im dritten Teil des Abends, den kürzlich auch beim Stuttgarter Ballett premierten „Blake Works I“, immerhin neckische hellblaue – typisch neoklassische – Kostüme gibt. Die Damen tragen Trikotminiröckchen, die Herren Trikots mit Bein. Forsythe hat mit Dorothee Merg dieses Outfit ersonnen. Aber für den großen Auftritt reicht es nicht.
Auf den ersten Blick meint man, eine Ballettschulaufführung vor sich zu haben. So naiv sind die Gruppentänze gesetzt, so gefällig wollen sie sein, trotz aller Avantgarde-Bestrebungen.
Was zum Beispiel beim Stuttgarter Ballett glaubhaft Lebensfreude und überschießende Wonne transportiert, wirkt beim SBB unsicher, verkrampft, wie aus Verlegenheit melancholisch grundiert. Manches scheint vergröbert.
Immer wieder gibt es Tendu-Posen mit Ports de bras zu sehen, immer wieder. Manchmal scheint da heuer der Choreograf David Dawson mit seinen langgezogenen Armen Pate gestanden zu haben. Aber auch die Attitudes wiederholen sich. Flotte kleine Hüpfer wechseln mit eleganten Ausfallschritten – a bisserl wirkt das Stück wie ein schlecht nachgemachter Balanchine.
Zumal die Musik – ziemlich banale, manchmal bluesige Songs im elektronischen Alternative-Stil – nüchterne Menschen auch nicht vom Hocker reißen. James Blake heißt der Songwriter, und er wurde wohl vor allem deshalb erfolgreich, weil er verkündet, dass ihn die klassische neue Musik langweilt.
Sein trivialer Allerweltssound aber ist auch nicht wirklich begeisternd. So hängt der Tanz für sich auf der Bühne ab, während die langweiligen Liedchen, die textlich oft aus „I and you“ oder auch „Me and Me“ bestehen, einfach nur so und ohne Verbindung zum Tanz nerven.
Der Geruch von Haschischkonsum waberte während der Pause durchs Foyer, und möglicherweise empfinden Drogenkonsumenten Kunst generell nicht so stark und sensibel wie nüchterne Menschen. Da ist vielleicht irgendeine musikalische Plörre nachgerade genehm und irgendein buntes Hüpfen genau das, was man sich wünscht.
Tänzerisch gibt es hier drei Highlight-Künstler:
Polina Semionova, Haruka Sassa (deren Anmut unübertrefflich ist) und Gregor Glocke, der auch hier, wie schon im ersten Stück, mit exzellenten Linien und wunderschönem Aplomb begeistert.
Den fast lieblich zu nennenden Pas de deux am Ende tanzt Polina dennoch mit Martin ten Kortenaar, aber ganz so virtuos wie bei der Premiere Ende Januar mit dem Stuttgarter Ballett gerät die Sache nicht. Immerhin: Für Berlin und seine hysterischen Lauter-geht-es-nicht-Rufer reicht es.
Insgesamt war es dennoch der kürzeste Applaus, den das Staatsballett Berlin nach einer Premiere jemals gehabt hat: nicht mal zehn Minuten dauerte der Schlussapplaus.
Als dessen Höhepunkt überreichte Ballettintendant Christian Spuck mit einer innigen Umarmung einen Blumenstrauß an den fast väterlich wirkenden Altchoreografen Forsythe, der mit einer bunten Krawatte zum blitzweißen Hemd und ebenso weiß leuchtenden Turnschuhen erschienen war.
Kurz darauf bat Forsythe von der Bühne aus um Ruhe, um mitzuteilen, dass er seit 40 Jahren mit dem neben ihm stehenden Komponisten Thom Willems zusammen arbeite. Nach diesem kurzen Statement brandete der Applaus erneut hoch, als sei soeben die Weltrettung bekannt gegeben worden. Dann war Schluss.
Zum Vergleich: Ein normaler Premierenapplaus beim Staatsballett Berlin dauert um die zwanzig Minuten, manchmal länger. Wenn jetzt deutlich kürzer applaudiert wird, kann man daraus seine Schlüsse ziehen: Die Show wird als toll empfunden, wirkt aber nicht nachhaltig.
Forsythes Triple Bill, die „dreifache Rechnung“, wie man dreiteilige Tanzabende nennt, trifft von daher nicht ganz ins kleine Schwarze. Aber sie genügt immerhin, um einen totgesagten Abend noch irgendwie munter zu verbringen.
Gisela Sonnenburg