Er ist ein Genie, ein Phänomen, ein einmaliges Vorkommnis und für viele seiner Anhänger der bedeutendste Künstler überhaupt. John Neumeier hat die magische Ausstrahlung eines souveränen Schöpfers und zugleich das glückliche Händchen eines gesegneten Kaufmanns. Vielleicht passt er deshalb so gut in die Hansestadt Hamburg, in seine Wahlheimat, die ihren Reichtum dem Hafen und dem Handel verdankt. Von „Haiku“, einem asiatisch inspirierten Solo für eine Tänzerin mit Fächer, bis zum „Epilog“, der kommenden und vielleicht letzten großen Uraufführung Neumeiers beim Hamburg Ballett: Die meisten seiner mehr als 170 Werke kreierte der letzte lebende Ballettmogul von Welt in Deutschland. Trotzdem ist Neumeier, der vor fast 85 Jahren in Milwaukee in den USA geboren wurde, eher ein Kosmopolit, ein internationaler Künstler, als ein typischer Deutsch-Amerikaner. Er denkt und arbeitet für sein Publikum, wie es sich gehört, und nicht nach Kalkül. Das und die immense, nachgerade überwältigende Qualität seiner Stücke zeichnen ihn aus. Kann man seine innere Reise von Werkschöpfung zu Werkschöpfung als Odyssee bezeichnen?
Es ist wohl kein Zufall, dass er sich selbst zum Jubiläumsgeburtstag am 24. Februar 2024 die Wiederaufnahme seiner 1995 frei nach Homer kreierten „Odyssee“ schenkt.
Odysseus, ein Held der langen Abenteuerfahrten auf hoher See, pendelt darin zwischen unbändigem Freiheitsdurst und anhänglicher Heimatliebe.
Die von ihm regierte Insel Ithaka mit seiner Gattin Penelope, die er verlässt und zu denen er nach Jahrzehnten der Irrfahrten – und Erholungszeiten bei anderen Frauen – zurückkehrt, werden nie aus seinem Herzen ausgeblendet.
So ist es auch bei „Johnny“, wie ihn manche seiner älteren Fans immer noch liebevoll und in Angedenken der 70er- und 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts nennen:
Der choreografierende, auch designende Künstler John Neumeier hat seinen christlichen Glauben und sein ästhetisches Ideal mental immer bei sich – ganz so, wie Odysseus seine Insel Ithaka und seine große Liebe Penelope in der Erinnerung mit sich trägt. Er ist ein Held der Kunst und auch der Versöhnung, zweifelsohne.
Gott ist für Neumeier ein Bezugspunkt, aber auch die Vermittlung göttlicher Werte wie Liebe, Nächstenliebe, Sanftheit, Kampf für das Gute spielen in seinen Werken eine große Rolle. Ihre Ausgestaltung ist Gegenstand der künstlerischen Arbeit: mal im Handlungsballett, mal im Thementanz, mal in einer Ballettoper, mal in zu Tanz transkribierter Musik.
Bilderrausch und Erkenntnis in eins, sind seine Stücke meistens überbordende Bekenntnisse sowohl zur Subjektivität der Kunst als auch zur Objektivität von Wahrheit.
Wir verdanken John Neumeier viel: Anregung und Genuss, Rührung und Erleuchtung. Für viele ist es eine Gnade, seine Stücke zu sehen, zu erleben.
Aber jetzt zieht es diesen Odysseus des Balletts, nach 51 Jahren in Hamburg, zu neuen Ufern. Er wird ab Spätsommer 2024 woanders neue Werke schaffen – in Paris, in Baden-Baden, in Chicago, in Tokio, wo auch immer – aber wir werden in Hamburg weiterhin die Repertoire-Stücke von ihm sehen können.
Der Odysseus Neumeier wird nicht aus Hamburg verschwinden. Er wird auch nach seinem Abschied als Chef vom Hamburg Ballett sowohl der katholischen Kirche als auch seiner kreativen Kunst in der Hamburgischen Staatsoper in Tätigkeit treu bleiben.
Er wird seine Stücke weiterhin mit den Hamburger Tänzern einstudieren, und er wird seinem Nachfolger Demis Volpi mit Rat und Tat den Rücken stärken.
Als oberster Grandseigneur des Tanzes, als Kapitän vom Ballettschiff Hamburgs, geht er jedoch von Bord.
Neumeier tritt nicht ab, aber er wird viel mehr reisen als bisher – und seine Visionen wird er woanders verwirklichen. Er wird uns darum in Hamburg fehlen, weil seine Odyssee ihn häufig abwesend sein lässt.
Sein Ehemann Hermann Reichenspurner, der Neumeiers Kalender kennt, stellte schon fest: „Ich werde ihn wohl noch weniger sehen als bisher.“
Was sollen da erst die Hamburger Fans sagen? Zunächst mal:
HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH ZUM GEBURTSTAG, TOITOITOI FÜR DIE ODYSSEE!
Manche seiner Fans werden ihrem Odysseus nachreisen und Premieren an anderen Häusern lieben lernen. Aber für viele wird eine Ära beendet sein, die ihr Leben unauslöschlich mit Schönheit und Ausdruck, mit Aufregung und Stil beschenkt hat.
Die „Odyssee“ beim Hamburg Ballett ist das vorletzte gemeinsame Abenteuer, zu dem John Neumeier in dieser Saison aufruft – es wäre hirnverbrannt, diesem Aufruf nicht zu folgen.
Gisela Sonnenburg