Meistens auf Nummer sicher Das Staatsballett Berlin stellte seine Pläne für die Spielzeit 2022/23 vor – geflüchtete Tänzer:innen aus Russland, die keine Russ:innen sind, sind ihm zudem willkommen  

Staatsballett Berlin - in Zukunft noch top?

Christiane Theobald erklärt ihre Pläne für die Spielzeit 2022/23 – am 21.3.22 im „Foyer de la Dance“ in der DOB. Foto: Gisela Sonnenburg

Große Risiken geht sie nicht ein, in keiner Hinsicht, dafür geht sie lieber auf Nummer sicher: Die kommissarische Ballettintendantin vom Staatsballett Berlin (SBB), Christiane Theobald, stellte heute ihre Pläne für die kommende Saison vor, und zwar ohne große Überraschung auszulösen. „Über-Gänge“ heißt das Motto, wobei es der Rede von Theobald nach ganz normal um „Übergänge“ geht und das kindliche  Wortspiel „Über-Gänge“ mit Bindestrich, das es schriftlich von ihr gibt und das an Sasha Waltz erinnert, keinen nachvollziehbaren Grund hat. „Über Gänge“ würde ja bedeuten, über Gänge und Flure zu sinnieren – aber das ist kein Themenfeld im Ballett in Berlin. Statt dessen wird einiges Gutes bewahrt, einiges Neues wird hinzukommen – und insgesamt kann man von einem durchaus sanften Wechsel von der verkrachten Ära der Doppelintendanz von Johannes Öhman und Sasha Waltz zur kommenden Regentschaft von Christian Spuck als alleinigem Ballettintendanten Berlins sprechen.

Spuck, derzeit noch Ballettdirektor in Zürich, war heute auch in Berlin im „Foyer de la Danse“ in der Deutschen Oper Berlin (DOB) anwesend und stand mit schwarzer Maske und eher humorlosem Auftreten für einige Fragen zur Verfügung.

Im Herunterschnurren von wie auswendig gelernten, leblos-uninspirierten Sätzen, die aber in jedem Fall regierungskompatibel sind, ist er eh ein Großmeister, das wusste man schon – und wer sich über pralle Sinnlichkeit und energetische Menschlichkeit im Ballett freuen möchte, muss sich sowieso woanders hinwenden als an Spucks Fluidum von dressierter Langeweile.

Manchen gilt er als kalter Technokrat des Balletts, anderen als typisch deutscher Hoffnungsträger für ein Bürgertum, das es vielleicht schon nicht mehr gibt. Wie auch immer:

Seine wirklich gelungenen frühen Stücke wie den ultrawitzigen „Grand Pas de Deux“, in dem die Ballerina eine Brille und eine Handtasche trägt, oder seine fast lyrische Tanzkomödie „Leonce und Lena“ nach dem gleichnamigen Büchner’ schen Drama, oder wenigstens seine hochdramatische „Anna Karenina“ mit den erlesenen Ballroben von Emma Ryott stehen so schnell nicht auf dem Berliner Programm.

Staatsballett Berlin - in Zukunft noch top?

Christian Spuck, kommender Ballettintendant vom SBB ab 2023/2024, während der Pressekonferenz am 21.3.22. Foto: Gisela Sonnenburg

Fürs erste kommt von Spuck nur seine tiefernste „Messa da Requiem“ auf Berlin zu: Sie ist mit immensem Choraufgebot gespickt und darum noch stärker ein Musikstück als ein Ballett. Sogar Spuck selbst sagt, er habe hier „den Tanz der Musik untergeordnet“.

Am 14. April 2023 soll die Premiere in der DOB sein, mit 36 Tänzer:innen und 80 Chorsänger:innen.

Das SBB hat übrigens derzeit 81 Vollzeitstellen für Tänzer:innen, wovon 75 besetzt sind. Spuck soll dann auffüllen, wenn er zur übernächsten Spielzeit seinen Dienst in Berlin antritt.

Von den vom SBB immerzu viel gelobten Fellows aus dem „Mentorship“-Programm, dessen Weiterbestand vom Bund noch nicht gesichert wurde, ist im übrigen keine einzige, kein einziger ehemalige:r Student:in der Staatlichen Ballettschule Berlin ins SBB übernommen worden. So toll scheinen sie also nicht zu sein. Oder woran liegt es?

In Zürich gab es übrigens rund 100 Chorsänger:innen bei dem „Messa“-Stück, also dem getanzten Requiem. Anscheinend hatte man da mit der vollen Bestückung in Berlin Probleme.

Als Chor wurde denn auch der Rundfunk-Chor Berlin gewählt – der hervorragende Opernchor der DOB war mit soviel Zusatzmusik zu all seinen Opern offenbar entweder überfordert oder nicht willens, sich auf das Staatsballett derart umfassend einzustellen.

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Zusätzlich wurden für Spucks „Messa“ vielversprechende Gesangssolist:innen von außerhalb engagiert, auch da will man sich anscheinend bewusst gegen die DOB absetzen – allerdings schaffte man es nicht, den hervorragenden Zürcher Dirigenten Fabio Luisi auch mit nach Berlin zu locken. In Zürich hat er stets für Ovationen für die musikalische Seite der „Messa“ von Spuck gesorgt – was nun in Berlin auf uns zukommt, werden wir sehen und hören. Nicholas Carter und Dominic Limburg werden alternierend das gute alte voluminöse Stücke von Giuseppe Verdi dirigieren.

Für die beiden Tschaikowsky-Ballette „Schwanensee“ (weiterhin in der Version von Patrice Bart) und „Dornröschen“ (in der Inszenierung von Marcia Haydée) steht beim SBB auch nicht die aktuelle Nummer Eins aus Deutschland im Fach „Ballettmusik“ am Pult, nämlich Robert Reimer, aber immerhin ab und an das fast ebenbürtige Pultgenie Paul Connelly.

Der noch relativ junge Robert Reimer, der früher häufig die Herzen der Ballettfans in der DOB erfreute, dirigiert mittlerweile bei den Staatsballetten in München und Wien – wer den Weg dorthin schafft, sei beglückwünscht.

Alle anderen, die in Berlin bleiben müssen, stellen sich auf heftiges Lachen ein, etwa wenn ab dem 16. Februar 2023 das Programm „Ek / Ekman“ das heftige Stück „A Sort of…“ von Mats Ek und das superleichte Lachstück „Cacti“ von Alexander Ekman vereint. Letzteres war vor einigen Jahren vorzüglich getanzt beim Semperoper Ballett in Dresden zu sehen, es handelt sich um eine Satire auf den Kunstmarkt, in der mit Kakteen in Blumentöpfen getanzt wird.

Das Stück von Ek stammt von 1997 und kann immerhin zugleich als Außenseiterstück wie auch als Klassiker des zeitgenössischen Tanzes gelten. Es sei „eine Art von Reise“, philosophiert Ek dazu, und die wirklich schwere Musik von Henry M. Gorécki bildet dazu eine zusätzliche Herausforderung, auch wenn sie – mal wieder beim Staatsballett Berlin – vom Tonträger kommt.

 

Staatsballett Berlin - in Zukunft noch top?

Christiane Theobald im Profil – bei der Vorstellung ihrer Pläne für das Staatsballett Berlin in der kommenden Saison. Foto: Gisela Sonnenburg

Am 10. Juni 2023 kommt dann eine Double Bill unter dem Titel „Strawinsky“ auf uns zu, was nicht wirklich originell ist. Zuletzt premierten beim Ballett Dortmund zwei packend moderne Kreationen unter dem Titel „Strawinsky!“ und auch das Ballett in Cottbus ließ sich soeben zu einem Ausrufezeichen bei diesem beliebten russischen Komponisten hinreißen und titelte „Straw!nsky“.

In Berlin kommen zwei Werke von Igor Strawinsky nun ohne Ausrufezeichen heraus, dafür aber mit reichlich Patina.

Ausgerechnet von Marco Goecke stammt die abgedroschenste „Petruschka“-Choreografie, die mir bekannt ist – als hätte man von Goecke, der hierzulande schon des öfteren gelangweilt hat, nicht schon genügend Selbstwiederholungen gesehen.

Goeckes Bewegungsvokabular ist weder abwechslungsreich noch ästhetisch, dafür aber spektakulär wenig bezaubernd. Darauf kann man hereinfallen wie man auf geistige Armut als angebliche geniale Einfachheit hereinfallen kann.

Wer unter „moderne Bewegungen“ zappelige, abgehackte, auch an Fließbandarbeit erinnernde Wiederholungen versteht, wird hier glücklich – alle anderen bleiben besser daheim und schauen eine gute DVD oder BluRay, etwa „Nijinsky“ oder „Tatjana“ von John Neumeier mit dem Hamburg Ballett.

"Strawinsky!" beim Ballet Dortmund

Javier Cacheiro Alemán springt als „Petruschka“ über alle Bedenken hinweg – beim Ballett Dortmund im Programm „Strawinsky!“. Wow! Foto vom Ballett Dortmund: Leszek Januszewski

Zumal der zweite Teil des Berliner „Strawinsky“-Abends sich dem mutmaßlich etwas muffigen Andenken an Pina Bausch widmet. Nach der künstlerischen Niederlage des Bayerischen Staatsballetts mit einem Bausch-Stück bei gleichzeitigem Jubel vor allem der unkundigen Presse dürfte echten Kenner:innen schon klar sein, dass man für Bauschs Stil andere Tänzerinnen als die heutigen vom SBB braucht, die mit megahohem Spann und superdünnen Gliedmaßen sehr toll für ätherische Stücke sind, ganz gewiss aber nicht per se für den naturhaften Stil der Bausch taugen.

Bei Bausch zählen explosives Temperament und individuell-flapsiger Ausdruck, und beides ist Mangelware in einer Compagnie wie dem SBB, die sich auf technische Finessen und einen aalglatten Allerweltsstil spezialisiert hat.

Es kann also nur ein Desaster werden, es sei denn, man versteht nichts von der Sache und ist stark gewillt, unbedingt viel zu applaudieren.

„Das Frühlingsopfer“ alias „Le Sacre du Printemps“ von Bausch ist immerhin ein Frühwerk von ihr und insofern, als es noch unter „modernes Ballett“ fällt und nicht unter „Tanztheater“ mit Sprache und Schauspieler:innen, sicher passender als ein Spätwerk von ihr fürs SBB.

Doch wie gesagt: Mit ätherischer Leichtigkeit und geschmeidiger Gefälligkeit ist es hier wirklich nicht getan. Die Kenner:innen werden das Berliner Ergebnis mit den Filmaufnahmen des Originals vom Tanztheater Wuppertal aus dem letzten Jahrhundert vergleichen. Danach wissen wir dann definitiv mehr.

Eine Überraschung kommt vom Stuttgarter Ballett, das schon ab dem 22. September 2022 ein Gastspiel in Berlin geben wird, und zwar aus Platzgründen (denn in der DOB wird dann der Orchestergraben umgebaut) im nach allen Seiten offenen Tempodrom.

Pure Bliss“, das jüngste Programm der Stuttgarter, das drei Stücke des bewährten Schweden Johan Inger vereint, lockt dann mal raus aus dem Opernhaus und rein in etwas, das man „Fast-Experiment“ nennen könnte.

"Pure Bliss" von Johan Inger mit drei Stücken in Stuttgart

„Dornröschen“? „Aurora’s Nap“ von Johan Inger zelebriert das Feiern als Fest grobschlächtiger Satire. Das Stuttgarter Ballett kommt damit im September 2022 auf ein Gastspiel nach Berlin. Foto: Stuttgarter Ballett

2014, man erinnere sich, reüssierte übrigens die tolle Russin Polina Semionova als „Boléro“-Gast mit dem Béjart Ballet Lausanne im Tempodrom – die Vorstellungen waren legendär. Ob das Stuttgarter Ballett mit seinen munteren Inger-Happen da heranreichen wird?

Immerhin ist die furiose „Dornröschen“-Parodie „Aurora’s Nap“ dabei, und sie dürfte nun wirklich viele Neugierige geradezu magnetisch anziehen.

Einführungsmatineen und Podestdiskussionen unter dem Motto „Ballet for Future – Wie müssen reden!“ drohen beim SBB auch in der kommenden Spielzeit mit total unkritischer Bildungsaufbereitung. Bitte nur ausgeschlafen hingehen!

Eher schon leicht erschöpft darf man sein, wenn ab dem 11. Oktober 2022 in der Komischen Oper Berlin „Lab_Works“, also neue Choreografien der Tänzer:innen, und der grauenvoll penetrante Techno-Tanz „Half Life“ von Sharon Eyal zu einem Abend zusammengefasst werden. Kleiner Tipp: Ohrstöpsel können nützlich sein!

Bleiben die weiteren Repertoire-Reste zu belobigen. Sie enthalten zwar leider nicht mehr die edlen „Jewels“ von George Balanchine, aber mit „Giselle“ von Patrice Bart, „Onegin“ von John Cranko und „Dawson“ von David Dawson handfest bewährte Suggestivstücke. Vermutlich werden diese drei Stücke weiterhin das Kerngeschäft vom Staatsballett Berlin ausmachen, zumindest in künstlerischer Hinsicht.

Haare über Haare in "Ekman / Eyal" beim Staatsballett Berlin

Mitläufertum in Sex-Dessous: zu sehen beim Staatsballett Berlin in „Strong“ von Sharon Eyal in „Ekman / Eyal“. Foto: Jubal Battisti

Nochmal was zum Ablachen: „Lib“ und „Strong“ von „Ekman / Eyal“ verführen ab dem 8. März 2023 zum Schauen und Staunen über die Differenz von Qualität (Ekman) und Quantität (Eyal). Und wieder gilt es daran zu denken: Der aus der DDR stammende „Frauentag“ ist in Berlin ein offizieller Feiertag, also hier kein Shopping, sondern wirklich nur Ballett einplanen!
Gisela Sonnenburg

P.S. Anmerkung zur aktuellen Entwicklung

Rund 200 Tänzer:innen aus Russland fragten beim SBB an, ob sie umsonst am täglichen Training teilnehmen dürfen. Sie dürfen, war die Antwort, wenn auch nicht alle auf einmal. Arbeitslose deutsche und andere Tänzer:innen dürfen das so einfach übrigens nicht, würden aber auch sehr gerne.

Dass die aus Russland Kommenden als „Flüchtlinge“ rangieren und offenbar entsprechende Sozialleistungen sowie eben kostenlose Trainings erhalten, obwohl sie in Russland vor keinem Krieg fliehen, ist allerdings merkwürdig. Sollte in Deutschland gerade eine Massenhysterie grassieren, die ganz allgemein zu Fehleinschätzungen führt?

Des Rätsels Lösung: Keine und keiner von den bislang Anfragenden und Erhörten ist eine echte Russin oder ein echter Russe, sondern es handelt sich ausnahmslos um westlich orientierte Nationalitäten wie Ukrainer:innen, Brasilianer:innen und Italiener:innen, die aber immerhin am internationalen Olymp des Balletts, dem Bolschoi Ballett in Moskau, oder auch in weniger bekannten russischen Ensembles engagiert waren.

Sind Westler:innen, die vor westlichen Sanktionen gen Westen fliehen, wirklich politische Flüchtende? 

Warum sie nun anerkannte Flüchtlinge sind, ist juristisch nicht ganz einfach zu verstehen, denn sie werden weder verfolgt noch diskriminiert. Und die Sanktionen, vor denen sie fliehen, kommen ja nun gerade vom Westen – und nicht etwa von den Russen.

Echte Russinnen und Russen hätten es dagegen als Neulinge in der Ballettwelt in Deutschland zurzeit schwer, zumal, wenn ihre Gesinnung nicht ihr eigenes Herkunftsland denunziert. Haben sie hier kein Persönlichkeitsrecht mehr?

Sollten sie ihrer Heimat aber öffentlichkeitswirksam abschwören, bietet sich im Einzelfall eine feine Lösung für sie an, etwa die eines luxuriösen Exklusiv-Vertrags, wie Olga Smirnova vom Bolschoi ihn sich gerade von Ted Brandsen von Het Nationale Ballet hat geben lassen.

Man erinnere sich: Brandsen hat mit „Coppélia“ soeben den schlechtesten Tanzfilm ever gemacht (siehe Rezension hier im Ballett-Journal). Aber das wird Olga Smirnova nicht stören. Schließlich darf sie sich zu den Besserverdienerinnen in Euro zählen, und das hat bei ihrer Entscheidung für den Westen gewiss eine Rolle gespielt.

Olga Smirnova tanzt in "Schwanensee" am Bolschoi - im deutschen Kino

Unvergleichlich schön: Olga Smirnova als Odette in „Schwanensee“ von Yuri Grigorovich am Bolschoi. Künftig rangiert sie als Ballerina aus Holland. Foto: Natalia Voronova

So ein Luxus-Vertrag läuft übrigens nur bei Superstars – andere Tänzer:innen russischer Herkunft dürfen derzeit zum Beispiel in Deutschland nicht mal ein normales Bankkonto eröffnen, weil sie von den meisten Banken ohne jede Rechtsgrundlage unter den Generalverdacht der Geldwäsche gestellt werden.

Aber das kümmert die Verfechter:innen von Humanität und Antidiskriminierung im Berliner Staatsballett eher wenig.

Da mutet es fast skurril an, dass das private Geldinstitut „Weberbank“, ein Sponsor vom SBB, die PCR-Tests für die nicht-russischen „geflüchteten“ Trainingswilligen bezahlt. Andere arbeitslose Tänzer:innen würden sich diesen Service nebst kostenloser Class auch mal wünschen. Ob man daraus eine Tradition machen kann?
GS

 

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