Schönheit mit Saftladen Neuer Ballettfilm: Ted Brandsen kreierte „Coppélia“ im Stil von animierten Werbefilmen – und lässt die Geschichte als Satire auf Schönheits-OPs erscheinen

"Coppélia" ohne Charme von Ted Brandsen

Swan tanzt mit Franz, Michaela DePrince mit Daniel Camargo – leider viel zu selten in „Coppélia“ von Ted Brandsen. Foto: Niels Zonnenburg

Die süße Swan, die hier nicht Swanilda, sondern eben nur Swan heißt, kuschelt sich noch gemütlich im Bett, als die Morgensonne sie weckt. Wie in der Marmeladenwerbung hüpft sie alsbald im Minirock durchs Zimmer, und nur, dass sie quietschblaue Spitzenschuhe zum gelben Top trägt, lässt sie als Ballettmädel kenntlich werden. Michaela DePrince vom Boston Ballet tanzt hier die junge Heldin, die vorerst in einer animierten Küche wie ein Star im Zeichentrick wirkt. Ihre füllige, gut gelaunte Frau Mama stört das nicht, sie erfreut sich an ihrem Kind, setzt ihm eine Schleife ins Haar. Damit sind die tiefen Gefühle zwischen Mutter und Tochter in diesem Machwerk aber auch schon ausgereizt. Kitsch hoch zehn und bemühtes Grinsen bis zum Abwinken, dazu einfallslose Kitschkulissen – schnell ist klar: Ted Brandsen, der langjährige Chef von Het Nationale Ballet in Amsterdam, hat aus dem 1870 in Paris uraufgeführten, an sich ja fast unkaputtbaren romantischen Tanzstück „Coppélia“ ein oberflächliches, dümmliches Filmballettchen gemacht. Die neue Musik von Maurizio Malagnini hat mit den ursprünglichen Zauberklängen von Léo Delibes auch nichts zu tun und ist auf stromlinienförmigen Werbesound getrimmt – wer Kultur statt Kommerz liebt, sollte diesen Kinofilm also wirklich meiden.

Der simple Alltag ist darin Trumpf, und genau so wünscht sich das die Werbeindustrie. Mit Ballett und seinen Themen hat das Ganze eigentlich nur am Rande zu tun.

Nicht mal das banale Malheur einer gerissenen Fahrradkette wird uns hier erspart. Ach herrje, scheint die stumme Heldin Swan zu denken, auch das noch! Aber allein schon der Anblick ihrer Spitzenschuhe am Fahrradreifen lässt einen die Situation als ohnehin unpassend empfinden. Und wie aus dem Horrorlehrbuch für Kommerzkunst saust in diesem Moment auch noch ein tadellos sanft rollendes Auto durchs Bild, damit jedes Kind im Zuschauersaal bemerkt: Radfahren bringt es im Grunde nicht, nur die Autoindustrie macht wirklich glücklich. Wie peinlich und wie rückschrittlich ist das: Kunst, die jene Industrie verherrlicht, die uns alle krank machen und verfrüht ins Grab bringen kann.

Das süßliche Säuseln der Pseudoballettmusik aus London kann da auch nichts verbessern: Man ist schon frustriert, bevor es überhaupt richtig losgeht.

Und unverdrossen wird weiter heile Welt gespielt, ohne jeden Hintergrund oder Hinweis auf dunkle Seiten der Gesellschaft, wie man sie in jedem guten klassischen, romantischen oder modernen Ballett findet.

Mit munteren Sprüngen und vielen Chainés tänzelt die unbedarfte Swan durch die niedlichen Gassen der Computeranimation. Da gibt es keinen Plastikmüll und keine Luftverschmutzung, keinen Autolärm und auch keinen Stau, sondern nur das Idyll eines netten, gepflegten, supersympathischen Städtchens. Wie in der Werbung eben.

"Coppélia" ohne Charme von Ted Brandsen

Swan (Michaela DePrince) flirtet in animierter Kulisse mit dem Bäcker, von der Bolschoi-Legende Irek Mukhademov mehr pantomimisch gegeben als getanzt. Hier eine seltene Tanzpose. Foto: Niels Zonnenburg

Ein einziger Lichtblick irrt durch diesen Kitschballast:

Irek Mukhamedov, als Bäcker verkleidet. Der ehemalige Superstar vom Bolschoi, der 1990 den „Spartacus“ tanzte wie niemand vor und niemand nach ihm, arbeitet seit Jahren als Ballettmeister in London. Hier im Film wurde er nun als Seniordarsteller für eine pantomimische und gestische Glanzleistung  engagiert. Schade nur, dass seine Rolle über die Typologie eines Abziehbildes nicht hinauskommt. Er ist der nette Bäcker mit runden Bewegungen und stets guter Laune. Mehr ist da nicht. Wenn er mit Swan tanzt, ohne dass es dafür einen Anlass gibt, ist das allerdings ob seines Alters nicht immer prickelnd, zumindest nicht in dieser Choreografie. Warum tut man ihm das an?

Schließlich kommt Swan auf einem Platz an und öffnet dort die Fensterläden eines Kiosks: es ist ein kleiner Saftladen mit Außen-Sitzplätzen, der offenbar ihr gehört. Bunte Früchte stapeln sich – Vitamine sind ja chic. Und wer schon immer mal sehen wollte, wie eine Ballerina im Walzerschritt Blumenvasen auf Outdoor-Tischen verteilt, der kann sich das hier anschauen. Der Symbolgehalt der Szene tendiert allerdings gen Null.

Nur das Namedropping berühmter Ballett-VIPs geht weiter. Darcey Bussell höchstselbst, eine Frau, die seit Ende ihrer aktiven Tanzkarriere vor Jahrzehnten mehr oder weniger unverändert aussieht, übt sich im Kostüm mit Ratskette als Bürgermeisterin in einigen Referenzen. Mit der großen Tanzkunst, die sie vor vielen Jahren beherrschte, hat das nichts mehr zu tun.

Aber Bussell ist berühmt und mutmaßlich kosmetisch auf dem neuesten Stand behandelt. In dieser Werbewelt der immerzu Schönen, die schier unendlich Zeit haben, wird sie mit Winken begrüßt. Was für eine tolle Action!

"Coppélia" ohne Charme von Ted Brandsen

Darcey Bussell als Bürgermeisterin beim Frisör, im Kinofilm „Coppélia“ von Ted Brandsen. Foto: Niels Zonnenburg

Ted Brandsen, der sich früher unter anderem mit einem „Mata Hari“-Ballett bemühte, große zeitgenössische Choreografen wie John Neumeier und Christopher Wheeldon zu imitieren, ist jetzt da angekommen, wo die Kunst des Tanzes niemals hinwollte: in der seichtesten Flachheit, die man sich denken kann.

Immerhin kann man anhand seiner Arbeit paradigmatisch lernen, wie man ein schlechtes Ballett, einen schlechten Ballettfilm fabriziert  – und das ist auch typisch für all jene Fachleute, die zwar hervorragende  Tänzer:innen oder Trainer:innen sein mögen, von Kreativität und Konzeption, von gesellschaftlichem Bezug oder psychologischer Tiefe aber eben gar keine Ahnung haben. Ein Ballett kann man nicht machen ohne eine gewisse literarische Fantasie – und da haben die Gymnasten unter den Künstlern das Nachsehen.

Leider gibt es diese Menschen gelegentlich in Direktionen oder anderen Spitzenpositionen von Ballettensembles. Der Grund: Sie haben Ellenbogen, nicht Know-how, sie sind Manager, nicht schöpferische Naturen. Aber sie boxen sich nach oben und wollen sich dann als Macher beweisen.

Die Sensiblen, die oft viel näher am Fantastischen leben, werden offenbar aussortiert im aktuellen Kulturbetrieb, damit die Robusten genau das machen, was das kommerzorientierte Geld sich wünscht. Wie die Verherrlichung von Autos im Ballettfilm, beispielsweise.

Es muss nicht jeder Ballettchef oder jede Ballettchefin schöpferisch tätig sein. Aber er oder sie muss unbedingt einen sehr guten, sehr sicheren Geschmack haben. Bei aller Lust am Geldverdienen, am Provozieren, am Erfolg!

Wer sich aber nie zeitaufwändig mit Literatur, Kunst- und Theaterwissenschaft beschäftigt hat, kann kein großes Ballett kreieren. Das ist sogar logisch – aber offenbar glauben viele, das würde schon alles irgendwie gehen. Motto: Je ungebildeter das Publikum ist, desto weniger Bildung muss man ihm servieren.

Doch das ist eine Milchmädchenrechnung.

Auch ein ungebildetes Publikum merkt instinktiv, ob ihm eine fadenscheinige dünne Suppe als Handlung präsentiert wird oder ob die Sache Tiefgang hat.

Es ist hochnotpeinlich für das weltweit angesehene Het Nationale Ballet, dass es mit einer solchen Dumm(y)verkaufsnummer wie „Coppélia“ in die Kinos kommt. Es stellt hier das Corps de ballet, das allerdings nicht allzu viel zu tun hat.

"Coppélia" ohne Charme von Ted Brandsen

„Coppélia“ ist in diesem Film nur eine Animationsfigur (links), die zudem an Tortenschmuck erinnert, und Swan (Michaela DePrince) kann davor nur warnen. Foto: Niels Zonnenburg

Die Titelfigur, die im Originalballett von 1870 betörend schön und anmutig ist, besteht übrigens aus einer plumpen Animationsfigur, und sie sieht so unoriginell-hässlich aus, dass man sich fragt, wie so etwas als Kreatur eines Ästheten präsentiert werden kann. Die nach Art billiger Plastikfigürchen designte Madame, die auch als Vorlage für Tortenschmuck dienen könnte, erinnert allerdings an Zeichentrick und Pop.

Und nur darauf kommt es hier wohl an: Die Sehgewohnheiten ganz ins Gewöhnliche zu zerren.

Wie weit ist das Ballett eigentlich gesunken, dass es so etwas mitmacht?

Vor rund zehn Jahren brachte Het Nationale Ballet einen „Don Quixote“ mit Matthew Golding in der Hauptrolle als DVD in den Handel, und damit saß man vor Lachen und Staunen, vor Bewunderung und Mitdenken fasziniert vor der Mattscheibe. Da gab es Tanz satt!

Was ist nur geschehen, dass der Chef dieser Truppe sein hohes Niveau so bodenlos verlassen hat und sich jetzt als langweiliges Anhängsel der Werbeindustrie wiederfindet?

Der Tanz hat in diesem Film praktisch null Bedeutung; die meisten Szenen verzichten ohnehin auf ihn.

Im Folgenden geht es dann auch noch um Dr. Coppélius als dubiosen Chirurgen einer Schönheitsklinik. Er raubt den Menschen ihre Individualität und damit auch ihre gute Laune. So will es hier die Handlung. In Tanz ist das nicht umgesetzt. Und: Dass der Film vorgibt, der Schönheitsindustrie kritisch gegenüber zu stehen, ist der pure Hohn.

Denn gerade die Ballettwelt, in der geschätzt jede dritte Nase sowohl bei Tänzerinnen als auch bei Tänzern schönheitsmäßig operiert sprich verkleinert ist, sollte sich lieber schamhaft zurückhalten, wenn es darum geht, nur Natürlichkeit als echtes Schönheitsideal anzuerkennen. Ballett hat andere Stärken als nicht operierte Gesichter!

Die Dinge passen hier einfach nicht zusammen. Die seit Jahrzehnten wie supergeliftet aussehende Darcey Bussell spielt in diesem primitiven Pamphlet gegen die Schönheitschirurgie eine unbedarfte Kleinstadtvorsteherin. Da lachen wirklich die Hühner.

Zumal ja auch alle Mitwirkenden ohnehin den gängigen Idealen der Industrie entsprechen. Ein Aufbegehren gegen einen mainstreamigen Zwang zum Mitmachen suchen wir hier vergebens.

"Coppélia" ohne Charme von Ted Brandsen

Auch für Eiscreme wird hier überflüssigerweise quasi Werbung gemacht: Swan und Franz stehen rum statt ihre Gefühle im Tanz voll auszudrücken. Foto aus dem Ballettfilm „Coppélia“ von Ted Brandsen: Niels Zonnenburg

Da war doch noch was? Ach ja, die männliche Hauptfigur: Franz. Er ist hier Fahrradverkäufer – immerhin, kein Porsche-Fahrer – und wird von Daniel Camargo getanzt, wenn er denn in dieser ballettarmen Szenerie mal ein paar Schritte tun darf. Doch er wird von Coppélius eingefangen und benutzt. Seine Seele, sein Herz, sollen der animierten Animierdame Coppélia Auftrieb verleihen.

Swan, die in Franz verliebt ist, kommt dahinter und kann helfen, Franz zu retten. Wenigstens das hat das Filmlibretto noch mit der Urversion gemeinsam.

Nach einem technikverliebten Finale, das mit bunten Schlieren in der Luft vor allem Kindergartenkids ansprechen dürfte, ist dann kurz noch mal Ted Brandsen selbst im Bild, so scheint es – in der Rolle eines nicht tanzenden Kunstmalers, bevor dieser dann auch noch einen Atavar, also ein computergeneriertes Abbild, erhält.

Hilfe, wer will das sehen?

Brandsen, der nicht im Abspann als Darsteller aufgeführt ist, darf sich denn auch einmal um die eigene Achse drehen und danach befreit fühlen. Der Schönheitswahn, den Coppélius verbreiten wollte, er hat sich rasch in Luft aufgelöst.

Dass die Verführungen der Industrie so leicht verfliegen, wäre uns allerdings neu – und es ist auch nicht glaubhaft.

Wie es in Werbespots so üblich ist, trinkt Swan schließlich mit ihrem Liebsten, mit dem netten Bäcker und mit der alterslosen Bürgermeisterin im sonnigen Garten aus Zeichentrick ein Glas Sekt. Echt aufregend! Ob sie sich dann auch noch einen Orangensaft dazu gönnt, bleibt allerdings im Dunkeln.

Sollte der Film ein Experiment sein, kann man ihm seine Existenz verzeihen. Ansonsten aber lautet die Empfehlung strikt: Ab in die Tonne für Industriemüll!

Drei Leute haben übrigens an dem handlungsarmen Script geschrieben. Aber Choreograf Ted Brandsen hat nicht mal die Regie geführt. Er ist wohl wirklich nur für die banalen Schrittchen zuständig. In gewisser Weise entlastet ihn das, wenn auch die Tatsache, dass er seinen Namen für den Film hergab, ihn wiederum schwer belastet.

Wirklich: Ist die Gier nach Populismus so groß?

Im Abspann werden vor den Künstler:innen die Namen der Produzenten und Techniker aufgeführt: Das ist verräterisch, es zeigt, was die Industrie möchte. Technik vor Inhalt!

Und bald soll wohl die künstliche Intelligenz die kritische Intelligenz ersetzen.

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Mit der ursprünglichen „Coppélia“, die nach der schauerromantischen Erzählung „Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann entstand, kann dieses Filmchen jedenfalls nicht mithalten. Auch eine akzeptable Neuversion hat Ted Brandsen eben nicht hinbekommen.

Wer sich mit der Thematik von Mensch und Roboter, um die es in „Coppélia“ geht und die wirklich brandaktuell ist, auf tänzerische Weise beschäftigen will, bleibe im Puschenkino und greife zu einer der Aufzeichnungen, die es gibt, etwa zur Version von Patrice Bart aus Paris. Da kann man dann auch die Musik von Léo Delibes genießen – und sehr viel Tanz.
Gisela Sonnenburg

Kinostart in Deutschland: Donnerstag, 3. März 2022

Und zur „Coppélia“ aus Paris von Patrice Bart geht es hier: https://www.opusarte.com/details/OABD7093D

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