Slapstick mit Schwanensee Mit „Pure Bliss“ mit drei Stücken von John Inger landete das Stuttgarter Ballett einen Hit

"Pure Bliss" von Johan Inger mit drei Stücken in Stuttgart

Alltagskleidung und frohes Gehopse: „Bliss“, der „Segen“ von Johan Inger, meint es nicht ganz so ernst mit uns. Foto: Stuttgarter Ballett

Wider den tierischen Ernst premierte am Freitag beim Stuttgarter Ballett ein lang erwarteter Dreiteiler namens „Pure Bliss“, bestehend nur aus Stücken des rundum beliebten Schweden Johan Inger. Und er war ein Erfolg! Der Applaus toste. In Kriegszeiten mögen die Menschen die Komöden besonders – dieser Effekt trat hier prompt ein. Choreograf Inger warf vor Rührung einen der Sträuße, die ihm zugedacht waren, in den Saal – und die anwesende Landtagspräsidentin fing ihn auf. Also den Strauß, nicht den Inger. Ob das wohl geprobt war? Diese Zulage gab es allerdings nur bei der Premiere. Dennoch lohnt sich das Programm, vor allem für das dritte Stück, die Uraufführung von „Aurora’s Nap“ („Auroras Schläfchen“): Diese kleine Ballettsatire verbindet totalen Klamauk mit virtuosem Tanz.

Bei kalkulierter Steigerung beginnt der Abend mit „Bliss“, dem „Segen“, wie John Inger, der große Ironiker unter den zeitgenössischen Choreografen, ihn sieht. Die Musik, das „Köln Concert“ von Keith Jarrett, liefert dazu nur die akustische Kulisse, es gibt keinerlei inhaltliche, aus der Musik herausinterpretierte Impulse. 2016 kreierte Inger das Stück, für das vor allem auf Ästhetik setzende italienische Aterballetto.

In Alltagskleidung nachempfundenen Kostümen laufen die Protagonisten gefühlt dauernd im Kreis, und zwar barfuß – und zunächst üben sie in der Formation von vier Frauen und vier Männern den gleichgeschlechtlichen, dann den gemischten Paartanz. Ein weiterer Schwarm Tänzer:innen kommt auf die Bühne, und wenn das hier der Alltag sein soll, so ist er vielleicht schon fast das Paradies auf Erden. Eine Utopie, ein Traum, eine geschönte Realität ohne Schmerz, ohne Mühsal, ohne Stress. Warum auch soll es mal nicht so leicht gehen?

Die äußere Dynamik erschöpft sich allerdings zusehens, ohne dass eine innere Handlung dazu käme. Das macht diesen Einstiegshappen ein wenig fade.

"Pure Bliss" von Johan Inger mit drei Stücken in Stuttgart

Eine schicke weiße Wand kann ein Problem sein oder Spaß machen – bei dem schwedischen Choreografen Johan Inger kommt es auf den Standpunkt an. Foto: Stuttgarter Ballett

Das zweite Stück ist dem Stuttgarter Ballettpublikum schon bekannt: „Out of Breath“ stammt von 2002 und lief bereits im großen Opernhaus in Stuttgart, das noch immer auf seine Sanierung wartet, damals wie heute.

Ein Mauer-ähnliches, asymmetrisches, im Sinken scheinbar festgefrorenes Konstrukt beherrscht hier die Bühne, und die Tänzer:innen mühen sich daran ab. Kann man diese weiße Mauer überwinden und wenn ja, wie?

In gewisser Weise ist „Out of Breath“, dem Außer-Atem-Tanz von Johan Inger, insofern ein Kontrast zu „Bliss“: Das Leben erscheint als Sisphus-Arbeit, man wird nie fertig, egal, wie sehr man sich anstrengt. Dass dennoch alle Menschen auf der Bühne hübsch und sexy aussehen müssen, gehört zur Philosophie des modernen Balletts, wie Inger es versteht. 2002 für die Jugendtruppe vom Nederlands Dans Theater, das NDT II, kreiert, ist es wegen der Skulptur auf der Bühne ein Hingucker, bringt aber nur selten so zum Schmunzeln, wie es eigentlich ein Markenzeichen der Stücke von Inger ist.

Die Lachreserven werden dann im dritten Stück endlich verbraucht. „Aurora’s Nap“ ist nicht nur eine Parodie auf „Dornröschen“, sondern auf das konventionelle menschliche Dasein überhaupt. Welchen Anteil der Dramaturg Gregor Acuna-Pohl daran hat, sei dahingestellt.

Das Bühnenbild, für das der Choreograf selbst zusammen mit zwei anderen Künstlern kreativ war, besteht aus Waffen-Arsenal: Raketen und Munition in Riesenformat werden zu Türmen und Mauern. Sehr aktuell. Aber war die Rüstungsindustrie als Dornröschen-Kulisse je out?

Ein Gag an sich ist schon die Besetzung, nämlich Elisa Badenes und Friedemann Vogel – Stuttgarts aktuelles Vorzeigepaar für „Dornröschen“ in der Choreografie von Marcia Haydée – als sich selbst imitierendes Pärchen.

Im Schnelldurchlauf wird „Dornröschen“ getanzt, in drei Akten – und nach der Musik von Peter I. Tschaikowksy.

Miriam Kacerova und Roman Novitzky tanzen – und zwar mit Sprüngen und allem Drum und Dran – ein jung gebliebenes Herrscherpaar, das erst nach ein paar Anläufen – hahaha – ein Kind bekommt.

Aurora wird von Feen bewacht, aber als ihr Vater das Puppenkind tätscheln will, reißt er ihm gleich die Hand ab. Solcherart ist der Humor hier, durchaus deftig, aber eben auch deliziös und mit Perfektion als Slapstick umgesetzt.

Und als die Feen der Kleinen gute Wünsche überbringen, zeigt diese drastisch mit Urinieren, was sie davon hält.

Angelina Zuccarini als Carabosse, die böse Fee, und Agnes Su als Fliederfee haben eben hier besonders viel zu tun, nicht nur im Kampf um die Vorherrschaft.

Und das Mega-Märchenhafte setzt sich fort.

"Pure Bliss" von Johan Inger mit drei Stücken in Stuttgart

„Dornröschen“? Nein, „Aurora’s Nap“ von Johan Inger zelebriert hier das Feiern als Fest. Foto: Stuttgarter Ballett

Die vier Prinzen tanzen denn auch glatt die Choreografie der „Kleinen Schwäne“ aus „Schwanensee“ zur unpassenden „Dornröschen“-Musik. Natürlich ist das eine Gaudi, es stellt auf Travestie-Glam ab und zugleich auf die Komik des Absurden.

Das Schicksal nimmt seinen Lauf, Dornröschen sticht sich und fällt ins Koma. Bis der Märchenprinz kommt und es wachküssen soll.

Weil der Prinz hier aber nicht so richtig weiß, wie das mit dem Küssen geht, muss die Fliederfee ihm Nachhilfe leisten. Ob das wohl mal ein tauglicher Bräutigam wird?

Immerhin fruchtet der Kuss der Schlafenden (der nur im Märchen lustig ist): Schwupps, noch nie waren die hundert Jahre Dornröschen-Schlaf so schnell vorbei!

Die Hochzeit der beiden Zwangsverliebten wird alsbald so ausufernd gefeiert, wie es sich im Ballett gehört. Besonders Vittoria Girelli macht dabei auf sich aufmerksam: Im ersten Akt tanzte sie als „Gestiefelter Kater“ vor, im zweiten als „Rotkäppchen“, das den Kopf des Wolfes im Korb mit sich führt, und im dritten als poetisch-grotesker „Blauer Vogel“.

Das Traumpaar hingegen wirkt schon an sich putzig: Prinz Desiré ist mit obercooler Arroganzlerart so etwas wie ein Alain aus „La Fille mal gardée“ – oder auch ein Möchte-gern-Verschnitt von Alain Delon. Zum Piepen.

Prinzessin Aurora hingegen ist das unwissende, etwas tumbe Girlie, das mehr Spielball seiner Umgebung ist, als dass es – wie im Original – wundersam souverän auf die Zuschauenden wirkt.

Ihr gemeinsamer Tanz aber ist bezaubernd, sowohl in anmutiger Hinsicht als auch als Kicher-Event. Selten ist Ballet so boulevardesk!

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Immer mal wieder schraubt sich die Choreografie, die zu einem großen Teil aus der Originalversion von Marius Petipa besteht, dann aber immer wieder verblödelt und unter Lustgewinn zerstört wird, ins Virtuose hoch. Aber dann bricht sie regelmäßig abrupt ab, gerinnt zu skurril-lustigen Mini-Szenen.

Bemerkenswert ist auch der Abspann, den es sonst in „Dornröschen“ nicht gibt: die Hochzeitsnacht. Braut und Bräutigam befinden sich scheinbar nackt (in hautfarbener Unterwäsche) und können irgendwie nicht so, wie sie wollen. Oder sollen.

Schließlich sitzt Aurora auf dem Boden, während ihr Märchenheld rausgeht, wieder reinkommt, rausgeht, wieder reinkommt…

Und wenn sie nicht gestorben sind oder uns die Bomben treffen… dann lacht man sich noch morgen über sie kaputt.
Gisela Sonnenburg / Informant: Boris Medvedski

www.stuttgarter-ballett.de

 

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