Polina lockt an Ein Film und ein Comic nennen sich „Polina“. Aber besser ist es, authentisches Ballett anzusehen

Ballett und Ballett sind nicht immer dasselbe

Lüster sorgen im Bolschoi-Theater in Moskau für die richtige Stimmung: auf ins klassische Ballett! Im Film „Polina“ täuschen die Bilder allerdings ein wenig… Videostill aus dem Film „Polina“ (Capelight): Gisela Sonnenburg

Der Titel ist beide Male irreführend. „Polina“, der Film, und auch „Polina“, der Comic, haben nichts mit der berühmten Primaballerina Polina Semionova zu tun. Das ist gezielter Etikettenschwindel, denn Semionova ist als „Polina“ im Ballett weltbekannt. Dennoch lohnt es sich, sowohl den Film als auch den Comic mit wachem Verstand anzuschauen, und zwar als Negativbeispiele. Der Comic, erschienen bei Reprodukt, imponiert zwar zeichnerisch in avantgardistisch-puristischer Manga-Manier, während der Kinofilm durchaus psychologisch punktet. Aber satt machen beide nicht. Polina Semionova bleibt derweil von beidem unberührt und vermag auch nach ihrer Babypause mit seelenvollem Ausdruck und technischer Finesse beim Staatsballett Berlin (SBB) zu beglücken. Und auch das echte russische klassische Ballett lebt – zum Beispiel in den Gastspielen des Sankt Petersburg Balletttheaters (SPBT) in Berlin.

Auf der Film-DVD geht es derweil noch bunter, wenn auch nicht schöner zu. Unter Beihilfe der Schauspielkunst des Filmstars Juliette Binoche, die gekonnt eine Choreografin spielt, zeigt der Film den Weg einer Ballerina aus Moskau zum zeitgenössischen Tanz in Frankreich. Natürlich werden hier Klischees bemüht: Der klassische Tanz wird als eher steif und langweilig dargestellt, das zeitgenössische Gezappel hingegen als aufregend und spannend.

Dass solche Generalurteile Unfug sind, weiß jeder, der auch nur ein wenig zu differenzieren weiß. Ebenfalls Unfug sind Film-Szenen, die die Profi-Ausbildung fürs Ballett an der Moskauer Bolschoi-Akademie zeigen sollen. In der Realität werden hier ausgesuchte Talente zu Spitzentänzern erzogen. Im Film aber kommen die Kinder und Teenager wohl aus dem Laienbereich. Da mit Bildern vom Bolschoi-Theater immer wieder suggeriert wird, hier handle es sich um die dort tatsächlich ausgebildete Polina Semionova, muss sich der Film massiv zumindest moralischen Betrug vorwerfen lassen.

Aber auch die wenigen Stärken des Films, für den Valérie Müller und Angelin Preljocaj verantwortlich zeichnen, lassen sich nicht übersehen. So wird die innige Beziehung der Ballettschülerin Polina zu ihrem superstrengen Tanzlehrer glaubhaft in kurzen Dialogen wiedergegeben. Auch die Unterstützung der Familie fürs tanzwütige Kind wird gezeigt, und tatsächlich ist es ja unmöglich, Hochbegabtenförderung gegen den Willen der Eltern zu bekommen.

Später erhält die Film-Polina dann ein Engagement am Bolschoi. Aber auch jetzt sieht man kein richtiges russisches Profi-Ballett im Film. Das tut schon weh.

Der Handlung nach gibt es dann ein Gastspiel aus Frankreich. Ohne es zu merken, ironisiert und persifliert Choreograf Angelin Preljocaj sich damit aber selbst. Denn der Gastspiel-Tanz, den wir im Film sehen, ist ein fader Abklatsch eines seiner Stücke.

2008 schuf Preljocaj für seine kleine Truppe in Aix-en-Provence ein zauberhaftes „Schneewittchen“-Ballett nach Sinfoniemusik von Gustav Mahler. Mit Kostümen des Designers Jean-Paul Gaultier war dieses Stück auch mit dem Staatsballett Berlin ein ballettös anspruchsvoller Augenschmaus, der von Erotik und Eifersucht handelte.

Ballett und Ballett sind nicht immer dasselbe

Elisa Carrillo Cabrera wurde von Angelin Preljocaj ausgesucht, um sein „Schneewittchen“ beim Staatsballett Berlin zu sein. Extrem unter die Haut gehend waren die Vorstellungen! Google zeigt bei der Schlagwortsuche die richtigen Bilder. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Elisa Carrillo Cabrera, heute Primaballerina beim SBB, war die entzückend-erotische Titelheldin der Berliner Premiere – Fans nicht nur aus Berlin werden sich gern erinnern. Geschmeidig tollte die in ganz und gar nicht unschuldiges Weiß Gekleidete über die Bühne – heißblütig und doch diszipliniert zugleich, wie es sich für hochkarätiges Ballett gehört.

Im Film mutieren diese Szenen nun anscheinend zu einer Art Sasha-Waltz-Gehopse. Der Stil des Ballets, dem die Aufführungen in Frankreich und Berlin verpflichtet waren, fehlt hier. Locker-flockiges Bewegen statt streng geführter Linien: Lieb- und farblos wird so der Stil des Spätwerks des mittlerweile 60-jährigen Preljocaj beworben. Mit seiner ursprünglichen Inszenierung, die ja so sehr erfolgreich war, hat all das aber nicht mehr viel zu tun.

Ballett und Ballett sind nicht immer dasselbe

So sieht der französische zeitgenössische Tanz im Film „Polina“ aus: nicht wirklich überzeugend. Aber man erinnert sich an Preljocajs tolles „Schneewittchen“ beim Staatsballett Berlin. Videostill aus „Polina“ (Capelight): Gisela Sonnenburg

Preljocaj ist daran nun nicht unschuldig. Erstens nicht als Mitverantwortlicher für diesen Film, zweitens aber auch nicht als ein Künstler, der sein eigenes Niveau schlichtweg nicht halten konnte und darum auch außerhalb dieses filmischen Werks in recht langweiliges Allerweltsgehüpfe verfiel.

Er erschreckte mich in den letzten drei Jahren immer mal wieder auch mit anderen dubiosen Werken: Preljocaj, der früher sorgfältig niveauvolle und dann auch international bejubelte Ballette wie „Le Parc“ und „Les Nuits“ kreierte, krebst nurmehr im Ich-kann-nicht-mehr-Bereich herum, offenbar kassiert er jetzt gern mal auf die Schnelle ab.

Unsere Film-Polina brennt aber vor Begeisterung für diesen Stil und reist mit ihrem Freund nach Frankreich. Dort spielt Binoche die Rolle der Choreografin, sie verkörpert Preljocajs Künstler-Ich.

Nach einem Vortanz-Workshop müssen Polina und ihr Liebhaber dann nicht mehr so hart trainieren wie im Ballett üblich: Zappeltante Binoche engagiert das Pärchen. Friede, Freude, Eierkuchen, meint der Film und endet.

Ballettfans fühlen sich davon angeleimt, denn niemals wünschen sie sich, dass viel versprechende Bolschoi-Tänzer ihre Liebe zum Ballett aufgeben, um in einer kleinen Hampelei-Truppe anzufangen.

Ballett und Ballett sind nicht immer dasselbe

Hier trainieren Mädchen Ballett. Aber das gewohnte Niveau der Bolschoi-Akademie haben sie nicht. So zu sehen im Film „Polina“ von Capelight. Videostill aus dem Film: Gisela Sonnenburg

Nur Binoche-Fans kommen auf ihre Rechnung: Immerhin sehen sie Juliette mal wieder, sie sieht jung aus, und sie macht keine schlechte Figur. Künstlerische Botschaften hat der Film mitnichten.

Noch schlimmer verhält es sich mit dem Comic. Der Zeichner Bastien Vivès hat von Ballett nicht genug Ahnung und kein Gespür für Pädagogik. Hier ist Polina das Produkt eines sie dressierenden, größenwahnsinnigen Ballettmoguls in Moskau – eine Type, wie es sie weder in der Realität noch in guten Comics geben sollte.

Über Berlin schafft Polina hier den Weg nach Paris, wo sie am Ende selbstzufrieden auf dem Balkon ihres Penthouses sitzt, mit lukrativem Blick auf den Eiffelturm, eine Zigarette paffend.

Ja, auch unter Tänzern gibt es Raucher, auch Tänzer benutzen Smartphones. Insofern ist der Comic korrekt. Alles andere ist darin traurig daneben gegangen, und Sätze wie „Tanzen ist eine Kunst. Das kann man nicht lernen“ hört man zum Glück in der realen Ballettwelt niemals.

Kindern, die sich mit Ballett beschäftigen wollen, werden von dieser Art Jugendliteratur Minderwertigkeitskomplexe eingetrichtert. Also bitte was anderes zu Weihnachten schenken!

Schrecklich ist, dass ein solcher Schund mit Steuergeldern finanziert wird, und zwar mit französischen, dank der Dummheit oder Unbildung der Kulturabteilung der französischen Botschaft in Berlin.

Als Gegenmittel empfehle ich, sich rasch Tickets für einen richtigen Ballettabend mit Klassik zu besorgen.

Zum Beispiel mit dem Sankt Petersburg Balletttheater (SPBT). Es tanzt Ende November in Berlin, und zwar eine köstlich klassische, sehr fidele Version vom Nussknacker“, aber auch einen fein-weiß, rein-klassisch daher trippelnden Schwanensee“.

Viele seiner Tänzer kommen von der hoch renommierten Vaganova-Akademie in Sankt Petersburg, und während andere Tourneetruppen kalt und protzig wirken mögen, hat das SPBT beim Tanzen das Herz auf dem richtigen Fleck (siehe auch: www.ballett-journal.de/sankt-petersburg-balletttheater-irina-kolesnikova/).

Außerdem empfiehlt es sich natürlich, die echte Polina Semionova tanzen zu sehen! Ab dem 15. Dezember 2017 wird sie als Stargast mit dem Staatsballett Berlin wieder brillieren: in den „Jewels“ von George Balanchine.
Gisela Sonnenburg

Die DVD „Polina“ erscheint bei Capelight. Der Comic bei Reprodukt (29 Euro).

Termine mit Polina Semionova: www.staatsballett-berlin.de/de/termine_mit_polina_semionova

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