Zum 100. Mal voll genial! Polina Semionova tanzte mit Alejandro Virelles in der Titelrolle den 100. „Onegin“ in der Choreo von John Cranko beim Staatsballett Berlin

"Onegin" zum 100. Mal in Berlin

Viel Jubel beim Schlussapplaus nach dem 100. „Onegin“ in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Manche Abende sind einfach eine Gnade. So der letzte Freitagabend mit dem Staatsballett Berlin (SBB), als Polina Semionova in ihrer Paraderolle als Tatjana mit Alejandro Virelles als Titelheld „Onegin“ die Stimmung in der Staatsoper Unter den Linden in Berlin zum Brodeln brachte. Und die beiden Weltkünstler waren nicht allein damit: Alizée Sicre als Olga und Alexandre Cagnat als Lenski tänzelten so köstlich und anmutig-leicht als Gegenpaar zur düsteren Liebesgeschichte von Onegin, dass man jede Sekunde bedauerte, die schon vorbei war. Nicht umsonst wurde Cagnat von einer nicht besonders renommierten Organisation, die vor allem sich selbst damit bekannt machen möchte, soeben zum „besten Nachwuchstänzer“ gekürt. Uns vom Ballett-Journal fiel er schon im September 2021 als Supertalent auf. Mehr dazu weiter unten. Yevgeniy Kissamutdinov war dann am Freitag als Fürst Gremin ein verständliches Pendant zu all den überbordend Verknallten; er bot Tatjana alias der gefühlsstarken Polina Semionova das tiefe, innige Glück der Ehe an, während Eugen Onegin, also Alejandro Virelles, eine liebestolle Wildheit mit Hormonrausch total in Aussicht stellte.

Auf in ein neues Ballettjahr!

Polina Semionova und Wieslaw Dudek – ein unvergessenes Dreamteam in „Onegin“ beim Staatsballett Berlin, bis Dudek im April 2015 seinen Bühnenabschied nahm. Foto: Enrico Nawrath

Unbestreitbar war Polina Semionova die Königin des Abends, was Emotionen, Tanzkunst, Willenskraft angeht. Ihre Gestaltung der Rolle Tatjana fesselt stärker denn je. Sie reicht vom naiven, seriösen Mädchen vom Lande, das sich lesenderweise gerne bildet, über die sich in verliebte Träume hoch versteigende junge Dame bis zur tief und ehrbar liebenden Gattin und – erschütternderweise – bis zur auf die amour fou wissend verzichtende, emanzipierte Erwachsene. Woher hat sie nur dieses Flair, alle menschlichen Regungen so nachvollziehbar darzustellen?

Und es gab noch eine Schönheit zu genießen, eine akustische: Das neue Glück fürs Ballett am Dirigentenpult der Staatskapelle Berlin verkörpert Jonathan Stockhammer. Fein und ausgewogen, dennoch dramatisch passend und schön auf die Tanzenden abgestimmt begeisterte sein Dirigat von Peter I. Tschaikowsky in der von Cranko gewünschten Bearbeitung von Kurt-Heinz Stolze. Es war somit ein rundum cineastischer Abend – und zudem ein Jubiläum, denn Crankos „Onegin“ wurde zum 100. Mal in Berlin aufgeführt.

Am 9. November 2003 war die Berliner Premiere, die Tatjana wurde damals von Nadja Saidakova getanzt, die bis zu ihrer Abschiedsvorstellung in dieser Partie im Mai 2017 immer wieder darin begeisterte und heute als Ballettmeisterin die Rolle lehrt.

Seither gab es Dutzende von Besetzungen der Hauptpartien, hervorstechend waren Vladimir Malakhov und Dinu Tamazlacaru als Lenski, Wieslaw Dudek und Mikhail Kaniskin als Onegin, Elisa Carrillo Cabrera und Aya Okumura als Tatjana, Corinne Verdeil und Iana Balova als Olga… und natürlich Polina Semionova als Tatjana, mit viel Temperament und hoch präziser psychologischer Studie.

Nadja Saidakova wechselt im Ballettsaal die Seite

Leidenschaft pur: Nadja Saidakova in „Onegin“ in den Armen ihres Schicksals alias beim Pas de deux mit Mikhail Kaniskin, einer unbestreitbaren Mega-Besetzung der Titelrolle. Foto: Enrico Nawrath

Die kongeniale, nach Alexander Puschkins Versroman „Eugen Onegin“ entstandene Inszenierung von John Cranko, die in der geltenden Version 1967 in Stuttgart uraufgeführt wurde, langweilt aber auch keine Sekunde, egal, wie oft man sie schon gesehen hat. Ich weiß nicht, ob es jemanden gibt, der alle 100 Berliner Aufführungen sah, ohne zum SBB zu gehören. Aber verschenkte Lebenszeit wäre es auf gar keinen Fall.

So ist das eben mit Könnerschaft im Tanz: Man ist gebannt, gefesselt, fasziniert – und zwar nicht von Akrobatik und Technik, sondern von dem, was die Choreografie auszudrücken in der Lage ist.

Sogar das Ensemble hat hier außergewöhnliche Szenen, etwa den ausgelassenen Tanz im Garten mit den seriellen Spagatsprung-Reihen oder die Festtänze, bei denen auch ältere Generationen, also Opas und Omas, gezeigt werden.

Barbara Schroeder als Madame Larina, die verwitwete Mutter Tatjanas, bringt zudem Frische und Humor in die Aufführung.

Es gibt außerdem noch eine Rolle, die ein wichtiges Faktotum ist, obwohl sie eine Schreitrolle ist: Tatjanas Amme. Martina Böckmann wächst langsam, aber sicher in diese Partie.

Die Lebens- und Liebesgeschichte von Tatjana ist hingegen ungewöhnlich. In den zunächst überheblich-selbstverliebt auftretenden Onegin, der reich durch ein Erbe wurde und der als Snob auftritt, verknallt sie sich auf den ersten Blick.

Onegin gewinnt mit dem Ensemble

Was für ein Highlight! Das Ensemble vom Staatsballett Berlin bei den seriellen Spagatsprüngen der Damen an den Händen ihrer Herren in „Onegin“ im ersten Akt. Foto: Enrico Nawrath

Bei einem tändelnden Spaziergang macht er ihr insofern Hoffnung, als er sie ernst nimmt und ihr tänzerisch von seinem Weltschmerz erzählt.

Wenn er die Hand mit dem Handrücken an die Stirn legt, ist das wie eine Klage über die Langeweile der Zeitläufte. Hätte er, dieser anspruchsvolle Schöngeist und Dandy aus Überzeugung, nicht etwas Besseres verdient?

Alejandro Virelles tanzt die Partie mit Verve und mit einer sehr individuellen, hervorragend zur Rolle passenden Wildheit im Blick. Dieser Onegin ist tatsächlich ein auf Abenteuer lüsterner Wilderer in der Gesellschaft, die so gerne fein sein möchte. Und er sucht immerzu das Besondere, um sich aus der Masse hervorzuheben. Dass er Schwarz trägt, drückt seinen Hang zur melancholischen Noblesse aus.

Vielleicht ist er sogar ein Vorläufer der Nihilisten, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Russland aus die Kulturgeschichte Europas teilweise eroberten. Puschkins Versroman erschien übrigens 1833 zum ersten Mal.

Onegin trifft nun auf Tatjana – und begreift nicht, dass in ihr ein Vulkan tobt.

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Dass Tatjana ihm eben das offeriert, was er sucht, indem sie ihm aufrichtige Liebe und große Mühe, ihm zu gefallen, entgegen bringt. Onegin sieht nur das naive Mädchen aus niederem Landadel in ihr.

Wenn er sie hochhebt, dann um seine eigene Stärke zu zeigen. Und nicht etwa, um ihr ein Vergnügen zu bereiten.

In ihrem Traum aber erscheint er ritterlich und fürsorglich, hebt sie hoch über seinen Kopf, wirft sie durch die Luft, hält sie beim Pirouettieren, geleitet synchron ihre Gedanken… und ist schlichtweg der perfekte Partner für sie.

Soweit der Traum einer verliebten jungen Frau, deren Held nur für sie aus dem Spiegel bei Nacht in ihr Leben eintritt. Um darin so mysteriös zu verschwinden, wie er gekommen war.

Die Realität sieht dann anders aus.

Bei einer Festlichkeit, bei der das Corps de ballet vom Staatsballett Berlin mal wieder ebenso begeistert wie in den ausgelassenen Ensembleszene im Garten von Tatjanas Elternhaus, düpiert Onegin die junge Verliebte, als sie trotz seiner Absage an sie weiterhin versucht, ihn anzutanzen.

Oh! Tränen bleiben hier nicht aus.

Und weil Onegin auch noch Olga anbaggert, um seinen Freund Lenski zu ärgern – Alejandro Virelles spielt das toll mit Spott und Hohn in der Mimik – kommt es zum Duell. Lenski ist nämlich ein heißblütiger Dichter, der es als ungeheuren Verrat empfindet, dass sein Kumpel ihm die Braut wegnehmen könnte.

"Dornröschen" von Marcia Haydée jetzt auch in Berlin

Alexandre Cagnat tanzt auch mit Polina Semionova, und zwar hier in „Dornröschen“ von Marcia Haydée beim SBB. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Zu Alexandre Cagnac stellte ich bereits letztes Jahr fest, dass er mit ungeheurer Eleganz und Spielfreude, mit Anmut und verführerischer Schönheit der Bewegungen verzaubert. Von Sanftmut und Lieblichkeit bis zum explosiven Wutausbruch nimmt man ihm alles ab. Er ist ein Lenski wie aus dem Bilderbuch.

Alizée Sicre als seine Verlobte Olga – die zugleich Tatjanas jüngere Schwester ist – füllt ihre Partie mit energiegeladener Poesie. Ganz leicht und selbstverloren, bis über beide Ohren verliebt und überaus leichtlebig tanzt ihre Olga durch die beiden ersten Akte.

Dass die Männer wegen Olga in Streit geraten, ist mehr als glaubhaft. Sie begreift gar nicht, was sie macht, wenn sie auf Onegins Avancen eingeht. Dann ist die Katastrophe da: Lenski fordert Onegin mit dem Handschuh zum Duell.

Alle Bemühungen auch von Seiten Onegin, Lenski zum Rückzug zu bewegen, scheitern. Atemberaubend ist das Solo von Alexandre Cagnat im Mondlicht kurz vor Morgengrauen – und dann fällt er durch die Pistole des erfahrenen, älteren Onegin.

Damit sind auch Tatjanas letzte Hoffnungen auf eine liebende Verbindung zu Onegin dahin.

"Onegin" zum 100. Mal in Berlin

Und noch ein Applaus bitte für die Stars nach „Onegin“ in der Staatsoper Unter den Linden! Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Nach der zweiten Pause sind auf der Bühne zehn Jahre vergangen. Onegin hat die Sphäre seines Landaufenthaltes von damals gemieden, Olga hat sich anderweitig vermählt – und Tatjana ist eine geliebte Fürstin in der quirligen Metropole Sankt Petersburg geworden.

Onegin tritt erneut in ihr Leben.

Wir sehen ihn, wie er die zahllosen Damen, die er schon beglückte, in seiner Erinnerung an sich vorbei ziehen lässt. Schön sind sie, aber austauschbar für ihn, denn Liebe war für ihn nur ein Wort.

Dass Tatjana den Fürsten Gremin ehelichte, hat Onegin glatt verpasst. Jahrelang war er unterwegs, reiste, vergnügte sich, war auf der Flucht vor Bindungen und anderen Werten als hedonistischen.

Jetzt sieht er sie. Tatjana in den Armen von Gremin. Welch ein Glück!

Dieser Pas de deux gelang Cranko als Auftakt zum zweiten Teil der seltsamen Lovestory von Onegin und Tatjana superbe. Alle kontinuierlichen Gefühle, die eine Ehe festigen und immer wieder fundamentieren, finden sich hier in graziös-eleganten Posen und Bewegungen formuliert.

Onegin wird eifersüchtig – und er erwacht aus seiner Unruhe des ewigen Genießers.

So viel Schönheit und Liebe hat Tatjana zu geben. Warum hat er das vor zehn Jahren übersehen?

Aber er weiß: Als erste große Liebe wird er immer einen Platz in Tatjanas Herzen haben. Er wird sie doch noch erobern können?

Dreist kündet er in einem Brief an Tatjana seinen intimen Besuch an.

Dann ist er da. Bei ihr. Es erklingt dieselbe Musik wie in ihrem Jungmädchentraum von seinem Spiegelbild. Eine Melodie aus „Romeo und Julia“, einer sinfonischen Dichtung von Tschaikowsky. Und doch sind die Gefühle jetzt ganz andere.

Sie bleibt kühl. Zunächst. Doch er weiß, wie er ihr Feuer entfachen kann. Er traut sich vor, er liegt ihr zu Füßen, er bestürmt sie.

Unter seinen Händen wird sie eine magische femme fatale.

Was für eine Anziehungskraft hält diese zwei Menschen zusammen!

Bleibt sie stark? Oder gibt sie ihren Gefühlen nach?

Oh, sie erinnert sich. Einst zerbröselte er ihren Liebesbrief in ihre Hände.

Jetzt zerreißt sie seine heißen Worte auf Papier. Geh!

Er kann es kaum begreifen. Fühlt sie nicht, was zwischen ihnen ist?

Doch sie wirft ihn raus. Und er stürmt von dannen, verwirrt, verletzt, gekränkt.

Und sie ist in heller Aufregung. Aufgelöst. Ergriffen von der Tragik der Liebe.

"Onegin" zum 100. Mal in Berlin

Die beiden tragischen Paare aus „Onegin“ beim Schlussapplaus: Alejandro Virelles, Polina Semionova, Alexandre Cagnat und Alizée Sicre. Foto: Gisela Sonnenburg

So, wie Polina Semionova es jetzt tanzt, ist ihre Absage an Onegin, nachdem er sie beinahe verführt hätte – der Höhepunkt dessen sind die beiden „Hexensprünge“, für die er sie aus der Rückenlage emporzieht – endgültig.

Manchmal hat man Zweifel an Tatjanas Entschiedenheit und könnte sich vorstellen, dass Onegin eines Tages zurückkommen wird.

Aber hier und jetzt ist es für Tatjana eine schmerzliche Gewissheit, dass sie auf das ganz große Glück sexueller Liebe verzichten muss, um ihre Ehe, ihren Frieden, ihre Sicherheit und ihre Verankerung im Leben nicht zu gefährden.

Polinas Tatjana weiß jetzt ganz genau, was sie will. Aber sie weiß auch, was ihr entgeht. Und dieser Schmerz scheint sie fast zu zerreißen.

Sie hat nicht mal mehr die Kraft, ihre Hände langsam, zu Fäusten geballt, erst zu heben und dann zu senken. Sie lässt die Arme herunterhängen, spielt ganz von innen heraus den Schmerz… jedes zarte Zucken ihres Körpers ist wie ein Schluchzen der Seele.

"Onegin" zum 100. Mal in Berlin

Wunderschön: Polina Semionova mit Dirigent Jonathan Stockhammer und dem Staatsballett Berlin nach dem 100. Berliner „Onegin“ in der Staatsoper Unter den Linden. Foto: Gisela Sonnenburg

Wer hier nicht ergriffen war, der hat wohl kein Herz. Das Publikum aber verstand und feierte die große Künstlerin wie auch das Staatsballett Berlin und die Musiker.

Wie gesagt: ein großer Abend. Ein ganz großer, und nur die Blumen für die Tänzerinnen und Tänzer fehlten, wiewohl man sie hier doch erwartet hätte. Denken wir sie uns dazu… Und herzlichen Glückwunsch ans SBB für diesen Meilenstein!
Gisela Sonnenburg

Weitere Texte zu „Onegin“:

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www.staatsballett-berlin.de

 

 

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