Mach’s noch einmal, Onegin! Eine weitere neue Besetzung in „Onegin“ von John Cranko debütierte beim Staatsballett Berlin mit Standing Ovations: Elisa Carrillo Cabrera und Alexei Orlenco in den Hauptrollen sowie Alizée Sicre und Alexandre Cagnat als zweites Paar

"Onegin" beim SBB mit Alexej Orlenco in der Titelrolle

Tiefe Gefühle und ein dramatisches Ende: Elisa Carrillo Cabrera und Alexei Orlenco, hier unmittelbar nach Orlencos Debüt in „Onegin“ von John Cranko am 24.09.21 in der Staatsoper Unter den Linden. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Man kennt das Stück so gut und doch ist es jedes Mal beim Ansehen etwas Neues. Zumal, wenn eine neue Besetzung etliche Rollen in „Onegin“ von John Cranko interpretiert. Beim Staatsballett Berlin (SBB) debütierten gestern aufregenderweise der Solist Alexei Orlenco (der sich bisher Alexej Orlenco schreiben ließ) in der Titelrolle – mit der Primaballerina Elisa Carrillo Cabrera als Tatjana an seiner Seite – sowie Alizée Sicre als Olga mit Alexandre Cagnat als ihrem geliebten Lenski. Am Orchesterpult sorgte Maestro Paul Connelly für beste Stimmung: rhythmussicher und doch gebührend melodiös mit fein herauskristallisierten Soli sowie gefühlvollen Crescendi einzelner Orchestergruppen ließ er die Staatskapelle Berlin zur Hochform auflaufen. Die Musik von Kurt-Heinz Stolze auf der Grundlage diverser Werke von Peter I. Tschaikowsky ist aber auch unerschöpflich mitreißend! Und auch das Staatsballett Berlin findet sichtlich zurück zur alten Form – und tanzte die zahlreichen Gruppentanz-Szenen mit spielfreudiger Verve und anmutiger Sicherheit.

Die Staatsoper Unter den Linden war zudem gefühlt richtig voll, sodass niemand mehr sagen kann, das große Haus sei zu leer, um sich wohl zu fühlen.

Und bereits mit den ersten Takten der Ouvertüre übermittelt sich hier das Gefühl, mit dabei zu sein, wenn auf der Bühne der Gazevorhang hochgeht und das emsige Treiben der Familie Larina in ihrem Garten aus dem 19. Jahrhundert zu sehen ist.

Jason Reilly und Polina Semionova tanzen "Onegin" in Berlin.

Auch Madame Larina ist eine durchdachte Rolle. Ballettmeisterin Barbara Schroeder tanzt sie seit Jahren mit viel Gefühl beim SBB. Das Foto stammt aus dem Archiv und von Gisela Sonnenburg.

Außer der ein wenig abseits bäuchlings lesenden Tatjana sind drei Damen, die an einem Tisch sitzen, stehen, tanzen, hier von Belang: Tatjanas Schwester Olga, die von Alizée Sicre mit mädchenhaftem Elan und spritziger Lebensfreude gespielt wird; ihre Mama Madame Larina, die von Ballettmeisterin Barbara Schroeder so spaßhaft-zünftig wie betulich-freundlich gegeben wird; die Amme, die als ihre Erzieherin im Haushalt geblieben ist und sich wie ein Faktotum um alles und nichts kümmert. Viele Jahre lang verkörperte die im letzten Jahr verstorbene Birgit Brux beim SBB diese Rolle. Jetzt tritt Martina Böckmann in ihre Fußstapfen und müht sich, das ewige Tantengefühl wiederzugeben. Irgendwie beneidenswert: In dieser Partie darf man geruhlich alt werden!

Bis in die Details der Nebenrollen hinein ist dieses Stück choreografisch sinnvoll konzipiert. Und das zeigt sich gleich in der ersten Szene.

Das neue Kleid von Olga, an dem noch die letzten Stiche genäht werden und das Olga sich dann fröhlich vor den schönen Körper hält, ist hier offenkundig Gesprächsthema der Damen. Das Kleid ist für die kommende Gesellschaft gedacht, und fröhliche Erwartungen werden daran geknüpft.

Madame Larina versteigt sich sogar soweit, pantomimisch einen Offizier mit Schnurrbart darzustellen, der Olga mit einem Kniefall und Handkuss den Hof macht.

Die Damen belustigen sich so – wissen sie doch, dass Olga bereits verlobt ist, und zwar mit dem schwärmerisch-heißblütigen Dichter Lenski.

"Onegin" beim SBB mit Alexej Orlenco in der Titelrolle

Die spritzige Olga (Alizée Sicre) und der heißblütige Lenski (Alexandre Cagnat) mit dem exzellenten Corps de ballet nach „Onegin“ beim jubelnden Schlussapplaus. Foto: Gisela Sonnenburg

Alexandre Cagnat, gebürtig in Cannes, tanzt erstmals diese Rolle, und es ist bemerkenswert, wie der junge Mann, der erst seit dieser Spielzeit zum Corps de ballet der Berliner gehört, die Figur des später glücklich-unglücklichen, aber immer schwer verliebten Lenski zu füllen weiß. Mit exquisiten Grands jetés und konzentriertem Spiel ist er ein Talent, auf das man achten muss. Die ersten fünf Jahre seiner Karriere tanzte der im Institut von Rosella Hightower ausgebildete Ballerino übrigens im Ballett der Pariser Opéra, bevor er dann ein Jahr bei Helgi Tomasson in San Francisco verbrachte, wo er auch schon als Choreograf auf sich aufmerksam machte. Herzlich willkommen in Berlin!

Berlin hat somit mehrere Lenskis, die die anspruchsvolle Partie mit eigenem Leben zu füllen wissen.

Aber was ist mit Alexei Orlenco, dem frisch gebackenen Eugen Onegin?

Orlenco war ein traumhafter Romeo, ebenfalls in der Choreografie von John Cranko, aber es ist ein großer Sprung zum Onegin, zu diesem gelangweilt-melancholischen Dandy, der das Leben einerseits in vollen Zügen genießt, um sich andererseits blasiert und mit übersteigertem Stolz über die Mitmenschen zu erheben.

"Onegin" beim SBB mit Alexej Orlenco in der Titelrolle

Ein umjubeltes Debüt: Alexej alias Alexei Orlenco als „Onegin“ mit Elisa Carrillo Cabrera als Tatjana hier beim ersten Schlussapplaus. Foto: Gisela Sonnenburg

Und doch schafft Alexej Orlenco es, eine neue Interpretation dessen zu entwerfen. Sein Onegin ist menschlich, er ist nicht die verkörperte Arroganz. Daher versteht man Tatjana, die von seiner Schönheit und seinen geschmeidigen Bewegungen wie geblendet ist. Die Faszination des „coolen“ Einzelgängers, er strahlt sie aus – und findet in der Tatjana von Elisa Carrillo Cabrera genau jenen Widerhall, den Onegin sich erhofft.

Er ist ein Verführer um der Verführung willen, nicht etwa, weil er nach Erfüllung oder gar Liebe strebt.

Tatjana aber fällt auf seine Selbstdarstellung herein: Sie verliebt sich in ihn.

Elisa Carrillo Cabrera, die mit ihren erlesenen Arabesken auch schon mit ihrem Gatten Mikhail Kaniskin – einem begnadeten, ja legendären Onegin-Darsteller – in diesem Weltstück tanzte, zeigt auch jetzt alle Passion, die sich in einer jungen Frau erstmals erwecken lässt.

Da funkt es!

Aber man ahnt, dass diese Herzenssache nicht gelingt. Onegin mimt den Gentleman und auch den unverstandenen Intelligenzler. Doch kaum bringt Tatjana ihm tänzerisch alles Verständnis entgegen, das ein Mann sich nur wünschen kann, zieht er sich zurück.

Sie ist zu jung, um zu verstehen. In ihrem Traum tritt er nachts aus ihrem Spiegel – und die beiden tanzen sich schier um den Verstand. Was für eine schöne Illusion, die große Liebe so leicht zu finden!

Der Stückablauf ist bekannt: Onegin lehnt Tatjanas Liebesbrief ab, flirtet als Provokation zu heftig mit Olga und wird darum von Lenski zum Duell gefordert. Lenski, jünger und unerfahrener, stirbt. Onegin ist verzweifelt. Tatjana und Olga nicht minder.

"Onegin" mit Marian Walter - endlich ein Knüller

Paul Connelly ist ein Star unter den Ballettdirigenten – und macht seinem Namen und den Berlinern alle Ehre mit seinem Dirigat von „Onegin“ beim Staatsballett Berlin. Archiv-Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Zehn Jahre später begegnen Onegin und Tatjana einander erneut. Sie ist mittlerweile glücklich verheiratet, mit dem Fürsten Gremin, der ihr alles gibt, was sie zum Erblühen brauchte. Onegin ist fasziniert – und entflammt für sie.

Vor seinem angekündigten Besuch unter vier Augen ängstigt Tatjana sich nicht umsonst. Tatsächlich gelingt es dem feurigen Onegin beinahe, sie zu verführen und somit ihre eheliche Beziehung zu zerstören. Beinahe ergibt sie sich…

Immer wieder ist dieser Schluss-Pas-de-deux des Stücks ergreifend und anrührend, hochdramatisch und doch nachvollziehbar psychologisch anzusehen.

Elisa Carrillo Cabrera ist als Tatjana eine wandelnde Sehenswürdigkeit – man leidet mit ihr, man fühlt mit ihr, man sehnt sich mit ihr nach dem, was in der Realität doch unerreichbar ist.

Ihre Klugheit obsiegt über ihr Begehren, von dem beide – Onegin und Tatjana – wissen, dass es nie vergehen wird. Zu tief sitzt bei ihr der Schock der ersten großen Verliebtheit.

Ob Onegin wiederkommen wird? Sie jagt ihn hinaus, sie gibt ihm letztlich dieses Mal keine Chance, sie wie eine Festung zu vereinnahmen und willenlos zu machen.

Aber ist das schon das allerletzte Wort? – Hinreißend erbebt die Seele von Carrillo Cabrera, wenn sie in der Schlusspose mit gesenkten Fäusten zeigt: So siegt eine starke Frau wenigstens in diesem Moment über sich selbst.

"Onegin" beim SBB mit Alexej Orlenco in der Titelrolle

Bravo! Noch ein Blick auf den Schlussapplaus in der Staatsoper Unter den Linden nach „Onegin“ mit dem Debüt von Alexei Orlenco. Foto: Gisela Sonnenburg

Kein Wunder, dass es Standing Ovations gab für diese Vorstellung! Das Staatsballett Berlin, dem man durchaus Blumensträuße gewünscht hätte, befindet sich auf gutem Weg.

Und wie zum Beweis dessen ist nach einigen Vorstellungen mit den bekannten Casts für den 2. Oktober 21 nochmals eine neue Besetzung angekündigt: mit Yolanda Correa als Tatjana und Alejandro Virelles in der Titelrolle. Da kann man nur seufzen: Mach’s noch einmal, Onegin!
Gisela Sonnenburg

www.staatsballett-berlin.de

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