Wenn er lacht, dann scheint die Sonne: Jean-Christophe Maillot (dessen französischer Nachname „Majóh“ ausgesprochen wird) hat schon immer mit seinem vitalen Charme alle um den kleinen Finger wickeln können. Eine sehr nützliche Tugend im rauen Kulturbetrieb, der in Deutschland zunehmend auf Personen statt auf Kunst zu setzen scheint. Aber Maillot absolvierte nur den ersten Teil seiner Karriere in Deutschland – als Tänzer bei John Neumeier in Hamburg – um schließlich erst im französischen Tours, dann im Luxus-Hort Monte-Carlo in Monaco als Ballettdirektor und Choreograf einen festen Platz im europäischen Tanzgefüge einzunehmen. In Tours wurde er 1960 geboren, erhielt dort auch den ersten Ballettunterricht, bevor er nach Cannes zu Rosella Hightower wechselte. Die weltberühmte Lehrerin blieb ihm eine Mentorin, und als er vor vielen Jahren in Tours zum ersten Mal „Juliette et Roméo“ choreografierte – mit Julia als zentraler Figur einer Suite und Essenz des Stücks mit nur 12 Tänzern – zeigte Hightower auf einer Gala einen Ausschnitt dessen. 1996 entstand dann in Monaco die vollendete Version von Maillots „Romeo und Julia“ zur Musik von Sergej Prokoffiew, welche jetzt beim Ballett Dortmund seine bejubelte Premiere erlebte.
In den Hauptrollen tanzten tadellos und mit großer Kraft die bewusst jung ausgesuchten Sae Tamura als Julia und Filip Kvacák als Romeo sowie Simon Jones als Pater Lorenzo. Die ursprünglich avisierte Alternativbesetzung bestand in Daria Suzi als Julia, Simone Dalé als Romeo und Filip Kvacák als Pater Lorenzo – sie lernten die Rollen ebenfalls. Das Studium von gleich zwei tragenden Partien beeinträchtigte übrigens keineswegs die Glaubhaftigkeit von Kvacák als Romeo: Maillots Stil liegt ihm, er passt ohnehin sehr gut auf die Grundlage des Stils von Xin Peng Wang. Vor allem aber berückt auch der Gesamteindruck der ungewöhnlichen Inszenierung, die mit mancher Plüsch-Renaissance in Shakespeare-Vertanzungen so gar nichts gemeinsam hat.
Maillots Konzept dabei lautet folgendermaßen: „Ich wollte alles weglassen, was konkrete Hinweise an das Publikum gibt. Also: dass es in Italien spielt, in Verona, zu einer bestimmten Zeit, in einer bestimmten Epoche. Dass es da einen Balkon gibt und so weiter. Mir war vielmehr wichtig, eine neue Art der Erzählung zu präsentieren, die es den Zuschauern erlaubt, sich auszusuchen, mit wem sie sich identifizieren.“
Das chronologische Schema, die Geschichte stringent vom Anfang bis zum Ende hin zu erzählen, wollte er dabei durchbrechen.
Darum steht der traurige Tod der Liebenden hier am Beginn.
Und weil Jean-Christophe Maillot außerdem keinen Applaus und auch keine andere „Störung“ während der Bühnenhandlung zulassen wollte, lässt er in „Romeo und Julia“ alle Szenen fließend ineinander übergehen. Der literarische Gedankenstrom eines James Joyce ist zu einem tänzerischen Fluss der Aktion geworden.
Neu ist vor allem auch die Ausgestaltung der Figur des Pater Lorenzo.
Maillot fragte sich, über das Stück nachdenkend, wer darin am meisten zu bereuen habe, wer von den Überlebenden die vielseitigsten Emotionen haben könnte – und er befand, dass der Mönch Lorenzo sich vermutlich schwer schuldig fühlen müsse am Tod des jungen Paares.
Denn er hatte die beiden heimlich getraut, er hatte die Idee mit dem Schlaftrunk, und er schaffte es nicht, Romeo rechtzeitig davon zu informieren, dass Julia während ihrer Verbringung in die Familiengruft nur im Koma liegt, aber keineswegs wirklich gestorben war. Dieses Versagen beim Umsetzen seines Plans führt dann zum Tod durch Suizid sowohl von Romeo als auch von Julia.
Die Sache mit dem Boten wird übrigens in den meisten Romeo-und-Julia-Balletten einfach vergessen. Man lässt diese Szene aus, und der Fehler liegt damit bereits im mangelhaften Masterplan von Pater Lorenzo – und nicht erst in der Umsetzung eines an sich guten Plans. Aber würde ein intelligenter Mönch so schlecht planen? Woher soll Romeo dann wissen, dass Julia in der Gruft nur schläft? Wie soll da eine Flucht der Liebenden gelingen, wenn Romeo glauben muss, seine geliebte kleine Gattin sei tot?
Merkwürdigerweise beschweren sich Publikum und Kritik so gut wie nie darüber – wahrscheinlich deshalb nicht, weil alle das Stück kennen und wissen, wie es ausgeht. Ob der Weg dahin dann noch dramaturgisch schlüssig ist (wie in der Theaterstück-Vorlage von William Shakespeare) oder höchst unlogisch (wie in den meisten Romeo-Tanzstücken), geht im Rausch der Gefühle und der cineastischen Musik von Sergej Prokoffiew meistens unter.
Nicht so bei Jean-Christophe Maillot: Höchst musikalisch und mit großer Klarheit setzte er choreografisch die innere und äußere Handlung des Stücks um, als Rückblende und aus der Sicht des geisterhaft viele Szenen begleitenden Pater Lorenzo.
Ob Lorenzo hier eine Art Erzähler und Berichterstatter ist oder mit uns seine Gedanken, Erinnerungen und Fantasien teilt, will Maillot dem Zuschauer zur Entscheidung anheim stellen. Sein Stück funktioniert – so oder so.
Lorenzo ist allerdings bei Maillot auch kein alter Mann, sondern Teil der Jugendkultur in „Romeo und Julia“. „Es ist ein Stück übers Erwachsenwerden“, sagt Jean-Christophe denn auch im Brustton der Überzeugung. Für ihn spielt der politische Konflikt zwischen den beiden Clans, zwischen den Familien von Romeo und Julia, der schon bei Shakespeare den Rahmen der Handlung abgibt, keine große Rolle. Es gibt keine groß angelegten Massenkämpfe bei ihm, und der Graben zwischen den Montagues und Capulets ist bewusst gering gehalten.
Immerhin birgt das ein Stück Naturalismus, wenn man das Stück ins Europa des 20. oder 21. Jahrhundert verlegt wissen will: Die sozialen Gräben zwischen Menschen können enorm tief sein, ohne dass das von außen zu erkennen ist.
„Mir geht es in meiner Arbeit vor allem um Beziehungen“, so Maillot, und damit emanzipiert er das Drama von zeitbezogenen, zeitkritischen Interpretationen. Einerseits. Andererseits schwächt er den politischen Kontext, der gerade heute schwer aktuell sein könnte: Man kann sich Romeo und Julia auch als Liebende aus Russland und der Ukraine vorstellen.
So deutliche politische Interpretationen sind im Ballett indes selten. Doch so überzeitlich und historisch entgrenzt wie in der Inszenierung von Maillot tanzen „Romeo und Julia“ auch nicht immer. Mit dazu beigetragen hat die Ausstattung.
Den Bühnenbildner – den Maler Ernest Pignon-Ernest – hatte Maillot schon von den ersten Vorbereitungen an im Kopf. Und der Kostümdesigner Jérome Kaplan hat sich seither einen sehr guten Ruf in der internationalen Ballettwelt gemacht. Für Maillots „Romeo“ schufen die beiden bildenden Künster zeitlos-elegante Werke, passend zum Konzept und zur mitunter spektakulär bravourösen, dann wieder grandios still-expressiven Choreografie.
Die Bühne besteht aus weißen Wänden und einer ebenso weißen Rampe, die in buntem Licht jeweils bestimmte Atmosphären verströmen.
Die Kostüme sind unaufdringlich, aber sehr ästhetisch gehalten, in Farben, die dem Auge schmeicheln, wie sanftes Oliv und zurückhaltendes Ocker.
Die Liebenden Romeo und Julia tragen vor allem Weiß – sie sind unschuldig, denn sie folgen ihren Herzen.
Jean-Christophe Maillot hat sich bei ihrer Besetzung in Dortmund vom Filmregisseur Franco Zeffirelli inspirieren lassen. Dessen legendäre Verfilmung des Shakespeare’schen Stoffes von 1968 setzt voll auf die realistische Wirkung ganz junger Darsteller: Olivia Hussey war gerade mal 16 Jahre alt, als Zeffirelli sie für die Rolle der Julia aussuchte.
Im Drama von Shakespeare ist Julia ja sogar noch zwei Jahre jünger. Man hat Kinder damals verkuppelt, um familiäre Vermögen zusammen zu bringen. Ganz so jung ist Sae Tamura nun natürlich nicht, denn sie ist eine fertig ausgebildete und auch schon mit Berufserfahrung gesegnete Ballerina. Aber sie hat das androgyne Flair einer Kindfrau, und die Fragen, die Maillot an das Stück stellt, weiß sie mit ihrer Körperkunst ebenso vorzüglich zu beantworten wie die anderen Tänzerinnen und Tänzer vom Ballett Dortmund.
Maillot: „Was ist die Leidenschaft der Liebe? Was ist das Gegenteil von Freundschaft, der Exzess des Hasses?“ Das sind für ihn die Leit- und Leidfragen im „Romeo“.
Die beiden rivalisierenden Clans der Montagues und der Capulets verachten sich hier denn auch gegenseitig mit der Körpersprache, nicht mit gezogenen Degen. Es ist ein psychologischer Kampf, den Maillot choreografiert hat – fantastisch!
Tybalt, der Cousin von Julia, der von Javier Cacheiro Alemán mit stürmischer Lust getanzt wird, ist hier ein komischer Charakter: Er tänzelt spielerisch umher, will sich wichtig machen, ist ein ausgelassener Teenager wie die anderen jungen Leute. Besonders aggressiv ist er eigentlich nicht.
Der Tod von Mercutio passiert ihm ohne Absicht, es ist ein Unfall – und alle sind entsetzt, er selbst inbegriffen. Wieder zitiert Maillot, was er bei Zeffirelli entdeckte: „Das sind hier doch fast noch Kinder. Und man kann den Text von Shakespeare natürlich in diesem Sinn umsetzen. Da ist Wildheit, Verrückheit, Nervösität – alles befindet sich im Extrem. Wie es für die Pubertät typisch ist.“
Diese Frische und das Impulsive der Jugend sind trotz der hohen technischen und bei Maillot selbstverständlich auch hoch ästhetischen, oft neoklassischen Ansprüche der Choreografie beim Ballett Dortmund zu spüren. Mit viel Schwung und Schmiss tanzen nicht nur die Solisten – unbedingt erwähnenswert auch Isabelle Maia und Márcio Barros Mota – sondern auch das Ensemble, angeführt von Guillem Rojo i Gallego.
Außer dem Interesse als Choreograf am „Romeo“ hat Maillot aber auch eine ganz persönliche Geschichte hinter sich, die ihn mit dem Stück verbindet.
Dass er früher als gewünscht zur Existenz als Choreograf kam, verdankt sich einem an sich unglücklichen Umstand. Er verunfallte 1983 kurz vor seinem Debüt als Romeo während einer Bühnenprobe zur John-Neumeier-Version von „Romeo und Julia“ in Hamburg. Der entstandene Knieschaden bedeutete das Aus für Maillots Karriere als Tänzer.
Aber: „Was ich am Choreografieren liebe, ist, dass ich dadurch – durch die Tänzer – immer noch tanze“, sagt Maillot, zugleich glücklich und auch etwas wehmütig.
Sich mit dem Stück nicht als Tänzer, sondern als Choreograf zu beschäftigen, eröffnete ihm erweiterte Möglichkeiten. Ein Stück weit brachte es wohl auch Heilung der psychischen Verletzung, die so ein organisches Trauma mit sich bringt.
Seine zweite berufliche Lebensrolle als Choreograf, als Tanzmacher, schien tatsächlich nur auf ihn gewartet zu haben. Bis heute hat er kontinuierlich als solcher gearbeitet, auch wenn ihm die Anstrengungen, eine Company zu leiten und künstlerisch tätig zu sein, manchmal viel abverlangen. Les Ballets de Monte Carlo, so der vollständige Name seines Ensembles, ist zudem auch eine Tournee-Truppe, die oftmals auswärts auftritt, mitunter in Deutschland oder Italien, viel öfter aber in den USA.
Maillot ist ein Weltbürger. Natürlich hat er als solcher auch sehr gute Erfahrungen mit Russland gemacht, dem Herkunftsland des klassischen Tanzes, wie wir ihn kennen. Maillot hat 2016 sogar seine umjubelte „Der Widerspenstigen Zähmung“ am Bolschoi Ballett in Moskau kreiert (und dem Ballett-Journal ein Interview dazu gegeben), und er hatte schon 2007 den „Prix Benois de la Danse“ unter der Ägide von Yuri Grigorovich erhalten. Bereits 2002 dirigierte das russische Vorzeige-Genie Valery Gergiev zu Maillots „Romeo und Julia“ in Monte-Carlo.
Gergiev sollte demnächst wieder zu Gast in Monte-Carlo sein, um „Les Noces“ zu dirigieren. Aber Maillot musste ihm absagen, der politische Druck war groß, und auch Gergiev sah ein, dass es schwierig sein könnte, dagegen anzugehen. Niemand will einen Skandal.
Wir sind beide kurz vor dem Tränenausbruch, als die Rede auf Moskau kommt. Man hat uns mit mangelhafter Politik die russische Tanzkunst und den Austausch mit den großartigen Russen genommen, und roh und ohne Kunstverstand mischt sich neuerdings die Politik im Westen in das Kulturgefüge ein.
Nicht mal während des Kalten Krieges gab es eine solche Ausgrenzung und Diskriminierung innerhalb der internationalen Kunstwelt. Dass eine ehemalige Bolschoi-Prima – wie Olga Smirnova – sich hemmungslos beim Westen anbiedert und für Russland nur noch den Wortschatz der US-Propaganda übrig hat, wäre selbst zu Stalins Zeiten undenkbar gewesen.
Auch Rudolf Nurejew und all die anderen, die zu Zeiten des Eisernen Vorhangs die Seite von Ost nach West wechselten, ließen nie einen Zweifel daran, dass sie ihre Kunst ihrer Ausbildung in der Sowjetunion verdankten. Die russische Kultur war für immer tief in ihren Herzen, und das verschwiegen sie auch nie.
Heute aber brüsten sich Tänzerinnen und Tänzer damit, sich der Regierung Russlands entgegen zu stellen, als seien sie dadurch tolle Rebellen. Faktisch sind sie wohl vor allem undankbar. Von den Hakenkreuzen und Wolfsangeln – also deutlichen Nazi-Symbolen – die sich ohne jedes Verbot im ukrainischen Militär finden, wird von solchen Menschen geschwiegen. Auch vom antirussischen Hitler-Freund und Massenmörder Stepan Bandera, den die Ukraine als Nationalhelden feiert. Freilich spucken solche Künstler auch erst dann auf Putin, nachdem sie lukrative Verträge im Westen erhielten.
Dabei wird übersehen, dass der Tanz im Westen ohne den Austausch mit russischen Künstlern ästhetisch und auch pädagogisch unweigerlich verarmen wird.
Jean-Christophe Maillot weist darauf hin, dass auch Russland durch die neue Front des Hasses viel verliert. Das Bolschoi war seit 1990 zunehmend international geworden, und ein Großteil des aktuellen Repertoires stammt von westlichen oder aus Russland ausgewanderten Choreografen.
Noch tanzen sie am Bolschoi Stücke von George Balanchine, John Neumeier, Jean-Christophe Maillot – aber langfristig werden sie sich in Russland auf die eigenen Wurzeln besinnen.
Für sich rekapituliert Maillot, dass er seine Arbeit niemals ganz alleine machen kann. Er ist abhängig von den Tänzern, von der Musik, von der Bühne und den Kostümen, der Maske, der Beschaffenheit der Stoffe, der Schuhe – und von den Zuschauern. „Man kann das nicht total kontrollieren, was sie fühlen, wie sie ein Stück aufnehmen“, sagt er. Dieser Aspekt von Abenteuer hält ihn sichtlich wach, ermuntert ihn, weiterzumachen – es ist eine unbändige Lust auf Austausch und Entwicklung, die bei ihm zu spüren ist. Der Choreograf ist eben die wichtigste Persönlichkeit, die hinter einem Stück steht.
Auch in „Romeo und Julia“ kann man, wenn man darauf achtet, das Ergebnis von Experimenten sehen. Julia stirbt ohne Spitzenschuhe, tanzt aber ansonsten hoch versiert auf gleitender Spitze. Maillots damals erst sechsjährige Tochter hatte ihn darauf hingewiesen, dass eine Julia nicht in Spitzenschuhen sterben sollte. Und er selbst erinnert sich daran, dass er mit 18 Jahren erstmals sehr verliebt war, und die erste Berührung ihn fast zum Explodieren brachte. „Solche Gefühle möchte ich vermitteln“, sagt er – und das schafft seine exzellente, durchgestylte, manchmal superschnell-rasante, dann wieder empfindsam-ruhige Choreografie von „Romeo und Julia“.
Beim Ballett Dortmund fiel Maillot übrigens auf, dass der Umgang der Tänzer miteinander liebevoll und engagiert ist. Ein hervorragendes Arbeitsklima. Das müsse von der Ballettleitung, von Dortmunds Ballettdirektor Xin Peng Wang und seinem Ballettmeister-Stab kommen, meint Maillot.
Nicht der Konkurrenzgedanke, sondern das An-einem-Strang-Ziehen steht da im Vordergrund. „Das ist selten“, lobt Maillot und empfindet die Atmosphäre bei der Arbeit in Dortmund als besonders hilfreich.
Sein Wunsch: Dass auch die Tänzerinnen und Tänzer von seinem Werk etwas für sich mitnehmen können, sich entwickeln können, das zeigen können, was sie neu erlernt haben.
Seine Haltung Tänzern gegenüber entspricht der seiner Lehrerin Rosella Hightower. Von ihr weiß Maillot mit Rührung zu berichten, was er sich von ihr angeeignet hat. Nämlich, dass sie vehement die Meinung vertrat, dass Tanz absolut vielfältig und verschieden sein könne, dennoch sei es immer eine Welt.
Gisela Sonnenburg