Die Überirdische „La Sylphide“ flattert in der von Frank Andersen gecoachten Bournonville-Version im dänischen Stil mit dem Staatsballett Berlin

"La Sylphide" vom Staatsballett Berlin premierte in der Deutschen Oper Berlin

Maria Kochetkova und Marian Walter beim Premierenapplaus nach „La Sylphide“ am 1. März 2019 in der Deutschen Oper Berlin. Applaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Sie ist so zart, so leicht, so fragil, so flüchtig: „La Sylphide“, die Sylphide, ist eine echte Überirdische. Sie ist ein weiblicher Luftgeist in weiß leuchtendem Tüll, von Blümchen weiß bekränzt, mit feinen Flügeln am Rücken begabt und in seidenen Spitzenschuhen mehr fliegend als tanzend, so scheint es. Natürlich hat sie Schwestern, die ebenfalls ganz weiß gekleidet und geschmückt sind und durch die Lüfte schweben – und die, wenn sie sich gerade auf dem weichen Waldboden befinden, vornehmlich zierlich trippeln, mit nachgerade unerhört anmutigen Hand- und Armposen dazu. In der Deutschen Oper Berlin premierte jetzt am letzten Freitag – nach rund zehn Jahren – mit dem Staatsballett Berlin (SBB) erneut dieses höchst romantische Ballett von August Bournonville, das 1836 in Kopenhagen uraufgeführt wurde. Es handelt sich ja, by the way, um das erfolgreichste Plagiat der Kulturgeschichte, denn das französische Original von Filippo Taglioni aus Paris ist vier Jahre älter, wird aber viel seltener aufgeführt. Frank Andersen, der aus Kopenhagen kommende Coach, inszeniert „La Sylphide“ jedenfalls als ein feines, leicht verdauliches Kunstmärchen, das zugleich ein trauriges Lehrstück über die Liebe ist.

Welt und Gegenwelt: Das ländlich anmutende Interieur, das Marie í Dali mit viel Sinn für Gestaltung schuf, besticht mit geschmackvoll-dezenten Farben und ansprechender Raumarchitektur. Da ragt hinten rechts eine Treppe hinauf auf einen Flur, während darunter ein großes Fenster neugierig macht.

Im braun-beigen Ensemble aus Holz mit schmiedeeisernem Lüster von oben fallen die grünen Samtvorhänge und der links beim Kamin platzierte grün bezogene Komfortsessel auf. Darin schlummert James, also der hübsche Kammertänzer Marian Walter.

James trägt einen Kilt, wie es zu festlichen Anlässen für Männer seit Jahrhunderten in Schottland üblich ist. Der festliche Anlass steht kurz bevor: James‘ geplante Hochzeit.

Auftritt der Gegenwelt in Person der filigranen Sylphide, die zwar ganz in Weiß an eine Braut erinnert, die aber aus einer anderen Sphäre kommt und für das Geisterhafte zuständig ist: Maria Kochetkova bringt als Stargast beim SBB alle Voraussetzungen mit, um eine formidable Fee zu sein. Ihre grazile Gestalt und ihr keckes Wesen passen vorzüglich, und ihr ausgeprägten Talent erlaubt ihr auch die Annahme des dänischen Tanzstils ganz so, als sei sie damit aufgewachsen.

Und noch etwas zeichnet Kochetkova aus: Sie kann schauspielern. Das ist gerade hier wichtig, denn:

Pantomime und Tanz sind hierin so fein verwebt, dass kaum auffällt, dass nur die Sylphiden Spitzenschuhe tragen. Es wird getanzt, dann mit Gestik erzählt, dann wieder getanzt und so fort. Das macht den Abend so abwechslungsreich und die Märchenhandlung so spannend. Das Edle, Vornehme der Sylphiden ist ebenso fein eingeflochten wie die Pantomime.

Aber auch, wenn im ersten Akt die schottischen Bauerntänze, die zu vom Komponisten Herman Severin Løvenskjold integrierter, schottischer Folklore dargeboten werden, vom Ensemble ganz vorzüglich getanzt werden: Das Herz des Abends gehört dem Damencorps in Weiß im zweiten Akt.

Da flattert und flittert, flirtet und flottiert das Sylphidenwesen mit ungeahntem Flair über die große Bühne, die es formvollendet füllt. Das heiter-melancholische Naturell dieser überirdischen Schönheiten gerade im Gegensatz zu den schon gesehenen sinnlich-folkloristischen Bauerntänze der irdischen Gegenwelt machen die Sache rund.

"La Sylphide" vom Staatsballett Berlin premierte in der Deutschen Oper Berlin

Maria Kochetkova beim Schlussapplaus nach der Premiere von „La Sylphide“ mit der sehr talentierten Bühnen- und Kostümbildnerin Marie í Dali. Applaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Maria Kochetkova tanzt als Gast die wichtigste Sylphide mit gebührender Anmut, während Marian Walter als tragischer Held James die dänischen Sprünge eher noch auf russische Art zelebriert. Er tanzte diese Partie ja schon mal in der Deutschen Oper, ab 2008 – aber er hat seitdem nicht nur an technischer Präzision und jugendlichem Charme, sondern vor allem auch an schauspielerischem Spiel nachgelassen. Damals war er als James mitreißend verwirrt, verliebt, versonnen, erschüttert, er war hin- und hergerissen zwischen den beiden Welten, die beide der Seele des James entsprechen.

Davon ist zumindest bei der Premiere nicht allzu viel übrig geblieben.

Der künstlerischen Entwicklung nach hätte man Dinu Tamazlacaru die Rolle übertragen sollen, an den Walter manchmal wie von ferne in den besseren Passagen seines Tanzes erinnert. Walters Flachhalten des Balls ist indes keine Überraschung. Er ist schon seit einiger Zeit nurmehr als dauergrinsender Prinz goldrichtig besetzt, hingegen er in Rollen, die vielseitigen emotionalen Einsatz verlangen, nicht immer bravourös dabei ist.

Da man Marian Walter aber erst im Dezember 2018 zum hiesigen Tanzkönig von Senatens Gnaden, also zum „Berliner Kammertänzer“ kürte, wurden seine Eitelkeit und auch Selbstüberschätzung, die ihm künstlerisch deutlich im Wege sind, nur noch mehr geschürt. Armer erfolgreicher König Walter! Er rührt meiner Einschätzung nach niemanden mehr zu Tränen.

Immerhin aber sind seine battierten Sprünge mit sanften Landungen noch sehr zu genießen, auch wenn sie keine abendfüllende Rolle machen.

"La Sylphide" vom Staatsballett Berlin premierte in der Deutschen Oper Berlin

Effie (Alicia Ruben) und Gurn (Ulian Topor) Hand in Hand beim Schlussapplaus nach „La Sylphide“ am 1. März 2019 beim Staatsballett Berlin: eine schöne Überraschung, so hohe Qualität zu sehen! Im Hintergrund die ebenfalls vollauf beglückenden Sylphiden alias das Damencorps. Applaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Eine veritable Überraschung lässt aber nicht lange auf sich warten: Ulian Topor– von dem ich ein solches Aufblühen nicht unbedingt erwartet hätte – beherrscht in der zweiten männlichen Hauptpartie namens Gurn wirklich aufs Beste die knifflige, kleinteilige, höchst grazile dänische Sprungtechnik.

Gurn ist verliebt in Effie und hat die Hoffnung, ihr Herz zu erringen, nie aufgegeben.

Topor ist hier als Gurn eine Augenweide, beim Tanzen wie beim Darstellen, es macht Freude, ihm bei den folkoristisch angehauchten, hoch präzise, aber zugleich auch temperamentvoll dargebotenen Tänzen wie beim Schauspielern als eifersüchtiger Nebenbuhler von James zuzusehen.

Die von beiden Männern umworbene blutjunge Bühnenpartnerin Alicia Ruben als Effie bezaubert aber auch mit schwungvollen, stilistisch sauberen dänischen Körperhaltungen. Prima!

Es ist ja auch so ein allerliebster Stil, diese Bournonville-Tanzart! Und in dieser Inszcenesetzung durch Frank Andersen aus Kopenhagen spielt im Grunde nicht die Handlung, sondern der spezifische dänische Stil die Hauptrolle.

Die Sprünge sind nicht vor allem hoch und „angeberisch“ zirkusreif, sondern leben von der Virtuosität im Detail: Sie sind besonders gestreckt, besonders angespannt und viel schneller als im klassisch-russischen Ballett, sodass die betonte Taktnote nicht in der Luft, sondern beim Landen am Boden oder sogar schon beim Absprung erklingt. Die Arme und der Oberkörper der Tänzer biegen sich ab der Hüfte zudem bei jeder Gelegenheit in puppenhafte, kindlich-niedliche Rundungen. Das ergibt eine ganz andere Anmutung als die besonders hoch fliegenden, meist geradlinig und stolz getanzten Träume der sonst getanzten Schulen.

"La Sylphide" vom Staatsballett Berlin premierte in der Deutschen Oper Berlin

Eine schöne Stimmung beim Applaus: Das Staatsballett Berlin verbeugt sich nach der Premiere von „La Sylphide“ in der Deutschen Oper Berlin. Applaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Keck, niedlich, freundlich – das ist der hauptsächliche Ausdruck im Dänischen (was das klassische Ballett angeht). Die dänische Schule bildet die stärkste eigene Stilistik im Vergleich zur russischen Klassik. Die französische Schule, der der Choreograf August Bournonville ursprünglich entstammt, hat weniger deutliche Unterschiede zum Russischen, sie ist ja auch älter als diese und sozusagen deren Mutter, während die erst im 20. Jahrhundert in England entstandene englische Spielart sich vor allem auf Details der Ports de bras, also der Arm-, Kopf- und Schulterarbeit bezieht.

Die ebenfalls erst im 20. Jahrhundert entstandene amerikanische Stilart von George Balanchine hat sich hingegen aus einer Radikalisierung der russischen Klassik entwickelt und bezieht sich vor allem auf die lineare Ästhetik, bevorzugt von den Beinen ausgehend. In Deutschland entwickelte John Neumeier eine weitere Variante der russischen Klassik, bestehend aus verschiedenen auch modernen Elementen, die auf der Systematik von Agrippina Waganowa und auf der strengen Ästhetik von Balanchine fußen. Waganowa fasste zu Beginn des 20. Jahrhunderts die russische Technik zusammen, wie sie sich bis dahin in Sankt Petersburg entwickelt hatte, sie verfeinerte und ergänzte sie.

"La Sylphide" vom Staatsballett Berlin premierte in der Deutschen Oper Berlin

Alicia Ruben, Frank Andersen und Ulian Topor beim Applaus nach der Sylphiden-Premiere in Berlin. Schlussapplaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Es ist übrigens falsch, was im Programmheft des SBB zu „La Sylphide“ steht, nämlich dass George Balanchine eine eigene Technik ersonnen hätte, die im Gegensatz zu Waganowa stünde. Er war vielmehr Schüler von Waganowa und entwickelte ihre Systematik mit einem bestimmten Schwerpunkt auf strikte Linienformung weiter. Ein neues System oder auch nur ein rundum erneuertes schuf er mitnichten, ebenso wenig wie die Engländer – das ist im klassischen Ballett auch gar nicht notwendig. Es handelt sich lediglich um verschiedene Schulen des klassischen Tanzes, die nur in Details und Stilistik voneinander und vom russisch-klassischen Tanz abweichen.

Am stärksten unterscheidet sich da die Dänische Schule von den anderen.

Ihr Begründer, August Bournonville (sein Vorname wird, seiner französischen Herkunft gemäß, auch Auguste geschrieben), hatte es im Einklang mit dem dänischen Königshaus auch genau darauf angelegt.

"La Sylphide" vom Staatsballett Berlin premierte in der Deutschen Oper Berlin

Eine schöne gefüllte Rose – auch sie kann den Geist der Romantik verkörpern. Foto: Gisela Sonnenburg

Bournonville, 1805 als zunächst noch unehelicher Sohn eines französischen Ballettmeisters geboren, wurde in Kopenhagen an der Königlichen Ballettschule Dänemarks ausgebildet. Sein Lehrer war der Gründer des dazugehörigen Königlichen Dänischen Balletts, ein Italiener namens Vincenzo Galeotti. Im Teenageralter begann Bournonville seine Karriere als Tänzer – die dänische Truppe wurde damals bereits von seinem Vater, Antoine Bournonville, geleitet.

Vier Jahre verbrachte Bournonville dann in Paris, vor allem, um sich tänzerisch und choreografisch fortzubilden. 1830 kehrte er nach Kopenhagen zurück, um in Kopenhagen sein eigenes Ding zu drehen, wie man heute sagen würde. Man sollte aber nicht dem Eindruck folgen, er sei jemals durch und durch ein Parisien oder ein eigenständig entscheidender Künstler gewesen.

Bournonville stammt trotz seines französischen Namens aus Kopenhagen und erfand den dänischen Stil dort keineswegs im Alleingang als autonomer Künstler.

Vielmehr subsummierte und entwickelte er das weiter, was er als Tanzschüler in Kopenhagen selbst gelernt hatte. Man wollte in Dänemark ja auch eine eigene Tanzstilistik – eine eher folkloristisch geprägte, im Unterschied zur höfisch-barock geprägten Stilart der Pariser Etikette.

Bournonville erhielt nach seinem vierjährigen Paris-Aufenthalt dafür eine leitende Stelle als Ballerino und Ballettchef, und in den folgenden Jahren reorganisierte er die Ballettschule, choreografierte um die 50 Ballette – und erlebte eine skandalumwitterte, unerfüllte Amour fou zu einer seiner hochbegabten Elevinnen, die dank seiner Ballette für ihn weltberühmt wurde: Lucile Grahn.

"La Sylphide" vom Staatsballett Berlin premierte in der Deutschen Oper Berlin

Keine Lucile Grahn, aber eine Maria Kochetkova tanzt hier „La Sylphide“ mit Anmut und Gestaltungskraft. Foto vom Staatsballett Berlin: Yan Revazov

Für sie schuf er sein berühmtestes Werk, das streng genommen ja ein astreines Plagiat ist: „La Sylphide“ entspricht vollauf dem psychologischen Konflikt, den der anderweitig solide verheirateten Ballettdoyen August Bournonville selbst erlebte.

Zwar hielt er seine Tanzschülerin und Ballerina Lucile für kein Geisterwesen. Und er bildete sich ihr Talent auch nicht ein. Aber er war heftig verknallt in die um eine Generation jüngere Dame. Für einen verheirateten Mann seiner Zeit keine Lässlichkeit.

Mit ihr zusammen sah er 1834 in Paris die weltberühmte Marie Taglioni als „La Sylphide“ in der Choreografie von deren Vater. Bournonville beschloss, seine Geliebte ebenfalls in dieser Rolle zu einem Wunderwesen zu verklären, das außerhalb der Moral und des Gesetzes steht.

Die Motivation zum Ideenklau an Taglioni war also: Liebe!

"La Sylphide" vom Staatsballett Berlin premierte in der Deutschen Oper Berlin

Krasina Pavlova (rechts) als Erste Sylphide mit dem Damencorps vom Staatsballett Berlin. Insgesamt sind es 20 Sylphen auf der Bühne! Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Später übernahm Bournonville sich übrigens bei seinen Liebeserklärungen an Lucile, die indes tatsächlich zu einer der berühmtesten Ballerinen ihrer Zeit aufstieg. Weil er zudem das Königshaus kompromittierte, wurde August für sechs Monate auf Reisen geschickt. Er kam bis Neapel – und brachte die Idee zum Ballett „Napoli“, heute sein zweitbeliebtestes Ballett, mit. Aber das ist eine andere Geschichte…

Erstmal geht es darum dass der dänische Ballettstil sich angenehm bescheiden ausnimmt, im Vergleich zu den anderen Schulen, die manchmal zum Angeberischen neigen.

"La Sylphide" vom Staatsballett Berlin premierte in der Deutschen Oper Berlin

Dominic Hodal und Alexander Bird (beide außen), Sofia Zubkova (links mittig) und Sarah Mestrovic (als Mutter von James) beim Applaus nach der Premiere von „La Sylphide“. Foto: Gisela Sonnenburg

Bournonville und seine Auftraggeber, also das dänische Königshaus, wollten einen Stil, der weniger grandios und zirkusreif, weniger dekadent und revuehaft, weniger vornehm und viel weniger höfisch war als vielmehr harmonisch, einfach und devot.

Zurück zu den folkloristischen Wurzeln des Tanzes! Das war die eine Devise des dänischen Zeitgeistes, die andere: Akkuratesse vor Brillanz!

Wohlgemerkt: Das war lange vor Waganowa und auch vor Marius Petipa, dessen Ballette vor allem die tänzerische Klassik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prägen.

Entsprechend sind Bournonvilles Figuren keine stolzen Götter, die man anbetet, wie noch im höfischen Barock in Frankreich, und es sind auch keine rundum schillernden Theaterfiguren wie die von Petipa, sondern es sind einfach gestrickte Menschen, die man gut verstehen kann, mit nachvollziehbaren, menschlichen Handlungsleitlinien.

Sie sind sogar jenen ähnlich, die man bei Volkstänzen beobachten kann. Freilich handelt es  um idealisierten Volkstanz, dem jeder Anflug von Trampeligkeit oder Derbheit abgeht. Aber die Inanspruchnahme von Identifizierbarkeit bei der Bevölkerung gehörte zum Konzept der Königlich-Dänischen Kunst.

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Und alle genießen den Applaus nach der Premiere von „La Sylphide“ beim Staatsballett Berlin. Applaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Ich warne davor, Bournonville – wie es ein Aufsatz im Programmheft des SBB macht – als eigenständigen, vom Königshof und seiner Balletttradition unabhängigen Künstler darzustellen. Das ist dumm und verfälscht das Kunstverständnis jener Zeit.

Ansonsten aber kann man diesen nur eineinhalbstündigen Abend durchaus genießen, insbesondere die feinen Sylphidenreihen und -reigen machen das getanzte Märchen zu einem Event für Jung und Alt.

Es ist indes ein tragisches Märchen: Als James zwar mit seiner Sylphide tanzen kann, sie aber nicht zu fassen bekommt, weshalb es auch keine Pas de deux in unserem Sinne gibt, sondern nur kurzzeitige Berührungen der beiden Verliebten, glaubt James der Hexe Madge und nimmt ihr einen verhexten Schal ab, um damit seine Sylphide einzufangen.

Madge, schön neidisch und regelrecht anti-mütterlich von Aurora Dickie angelegt, beherrscht die schwarze Magie, ist aber ebenso abgrundtief böse wie sie heuchlerisch in bettelarmen Klamotten Armut vortäuscht.

So stirbt der freiheitsliebende schöne weibliche Geist der Sylphide an der Fesselung mit dem von Madge vergifteten Schal.

"La Sylphide" vom Staatsballett Berlin premierte in der Deutschen Oper Berlin

Eine Pose wie nach einem klassischen Pas de deux, aber faktisch eine der seltenen Berührungen der beiden Hauptpersonen: Maria Kochetkova im Penché der „Sylphide“ mit Marian Walter und dem Ensemble vom Staatsballett Berlin. Foto: Yan Revazov

Maria Kochetkova tanzt dieses Sterbeszene dezidiert: von der ersten großen Freude über den Schal, auf den sie ganz lüstern wird, um sich damit zu schmücken, über das Abfallen ihrer kleinen Flügel als Zeichen für den beginnenden Sterbeprozess. Blind tastet sie in der Luft nach ihrem Liebsten – und stirbt ohne Hoffnung auf ein Wiedersehen im Jenseits. Denn Sylphiden haben der Legende nach keine unsterbliche Seele.

Die Choreografie gibt James nur wenig vor, um zu trauern. Bei Marian Walter ist es das Kräftemessen mit Madge, das ihm den Rest gibt. James stirbt, nachdem er sieht, wie seine Geliebte in den Lüften begraben wird, während Effie sich rasch tröstete und mit dem tollen Gurn Hochzeit feiert.

Das abschließende fiese Triumphieren der Hexe ist in mancher „Sylphide“-Inszenierung ein Knüller und ein teuflischer Sieg des Bösen. Hier ist es eher ein braver mahnender Abgesang an alle, seinen erotischen Fantasien nur nicht allzu sehr nachzugeben. Oder auch: Keine Hochzeit mit der Falschen zu planen, die viel besser zu jemand anderem passt.

Allerdings: Will man die Sylphide vor allem als James‘ Ausgeburt der Fantasie deuten, kann man nur schwer erklären, dass auch Gurn sie sieht – während sie für die anderen Menschen im ersten Akt unsichtbar ist.

Ist sie das sexuelle Gegenstück zu der eher burschikosen Effie?

"La Sylphide" vom Staatsballett Berlin premierte in der Deutschen Oper Berlin

Der Reigen der Sylphiden vom Staatsballett Berlin beim Applaus nach der Premiere. Schlussapplaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Sehen nur überhitzte Jungmänner diese mehr vornehme als typisch sexuelle fantastische Gestalt der Sylphiden?

Mehr noch: Sehen nur Männer, die eigentlich in Effie verliebt sind, auch dieses weiße Mädchen?

Ist die Sylphide also das Weibliche schlechthin?

"La Sylphide" vom Staatsballett Berlin premierte in der Deutschen Oper Berlin

Beim Applaus können sich Gut und Böse die Hände reichen: Aurora Dickie (Madge) und Maria Kochetkova (Sylphide) nach der Premiere in der DOB. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Oder hat James soviel Angst vor der weiblichen Sexualität, dass er sie sich als unberührbares Wunderwesen imaginiert, womit er auch Gurns Ängste im Kern so genau trifft, dass der ihm bei der Geisterschau unwillkürlich folgt?

Es fällt auf, dass sie keinen weiteren Namen hat als die Luftgeistbezeichnung. Sie ist denn auch wohl ein Archetyp, so feminin und so sehr einer anderen als der erlaubten Welt zuzuschreiben, dass ein Name sie schon zu sehr verweltlichen würde.

La Sylphide – das weibliche Tabu. Darin liegt sicher auch ihr Mysterium und ihr Zauber, den sie bis heute auf uns ausübt.

Und die Macht der sterblichen Überirdischen wirkt auch nach einer Diskussion ihrer Metaphorik weiter.

Und auch zum Vergleich mit anderen „Sylphide“-Aufführungen lohnt sich Andersens Arbeit.

"La Sylphide" vom Staatsballett Berlin premierte in der Deutschen Oper Berlin

Die Hexe Madge (Aurora Dickie, links) eilt nochmal heran… zum weiteren Schlussapplaus! Foto nach der Premiere von „La Sylphide“: Gisela Sonnenburg

Schade ist nur, dass das abgedruckte Libretto relativ oft nicht mit dem deutlich zu sehenden (und ja auch aus anderen Quellen bekannten) Bühnengeschehen überein stimmt. Gerade für jüngere oder auch unerfahrene Ballettzuschauer ist das echt schlimm, denn man verlernt so, seinen eigenen Augen zu trauen.

Solche Dinge trüben das Niveau des Ganzen, ohne dass es etwas mit dem Balletttraining zu tun hat. Aber Sorgfalt ist auch hier vonnöten.

Vielleicht haben außerdem noch einige Zuschauer im Gedächtnis, was das ohnehin nicht empfehlenswerte Programmheft ebenfalls beharrlich verschweigt:

Es gab in den 90er Jahren mit der französischstämmigen, heutigen Berliner Ballettmeisterin Christine Camillo eine schlichtweg fantastische „La Sylphide“, und ihr James war mit dem Béjart-Tänzer Xavier Ferla ebenso hinreißend besetzt.

Auch mancher Hirsch aus Plüsch möchte eine Sylphide sein… oder ein Sylph, wie die korrekte männliche Form heißt. Foto: Gisela Sonnenburg

Man muss also, um nostalgisch auf die Berliner Sylphidentradition zurückzuschauen, nicht nur bis zu Eva Evdokimova und Rudolf Nurejew in die 80er Jahre zurückgehen.

Außerdem tanzte Marian Walter, wie schon erwähnt, schon 2008– damals mit viel mehr jugendlichem Schwung und mit sensibler Delikatheit – den James, und zwar an der Seite von der ätherisch sehr talentierten Shoko Nakamura. Das war in der Bournonville-Version von „La Sylphide“, die damals Peter Schaufuss in Berlin reanimiert hatte. Damals ging es weniger um den akkurat dänischen Tanzstil als vielmehr um die große Dramatik der Choreografie – ein Aspekt, der in der heutigen Version ein wenig fehlt.

"La Sylphide" vom Staatsballett Berlin premierte in der Deutschen Oper Berlin

Ellen Ruge, Henrik Vagn Christensen, Marie í Dali und Maria Kochetkova nach der Premiere in der DOB glücklich beim Applaus. Schlussapplaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Mit dem ebenfalls dänischen Dirigenten Henrik Vagn Christensen bringt in der jetzigen  Aufführungsserie ein echter Könner das Publikum wie das Orchester der Deutschen Oper Berlin zum romantischen Brodeln. Der Premierenapplaus war denn auch heftig – allerdings der kürzeste im  fast fünfzehnjährigen Bestehen des StaatsballettBerlin.
Gisela Sonnenburg

Hintergründe und Details bitte auch hier im Vorbericht! 

www.staatsballett-berlin.de

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