Melancholische Erinnerungen und tödliche Raserei „Le Pavillon d’Armide / Le Sacre“: Das Wiener Staatsballett berauscht mit zwei Stücken von John Neumeier

"Le Sacre" und "Le Pavillon d'Armide" von John Neumeier

„Le Sacre“ von John Neumeier ist überwältigend – und enthält außer einem atemberaubenden Schlusssolo auch erschütternde Ensembleszenen. Foto vom Wiener Staatsballett: Ashley Taylor

Als dieses Programm, bestehend aus zwei Stücken von John Neumeier, vor einigen Jahren beim Hamburg Ballett lief, hatte es den Titel „Nijinsky-Epilog“. Denn beide Stücke haben in ihrem Ursprung starken Bezug zu Vaslav Nijinsky, jenem Tanzgenie der Ballets Russes, das als Tänzer und Choreograf Ballettgeschichte schrieb. Das erste Stück, „Le Pavillon d’Armide“ („Armides Pavillon“), wurde 1907 in Sankt Petersburg erstmals aufgeführt, um ab 1909von Paris aus bekannt zu werden. Der Choreograf Mikhail Fokine ging zwar vor allem mit „Les Sylphides“ („Chopiniana“) in die Ballettgeschichte ein, aber auch der „Pavillon“ bezeugt sein Gespür für Themen, die Elemente der Fantasie und der Wirklichkeit auf poetische Weise mischen. Nijinsky begeisterte darin als Tänzer. Außer einigen Fotografien und Entwürfen von Alexandre Benois ist allerdings nicht viel vom Original erhalten. Aber die dramatisch-tänzerische Originalmusik von Nikolai Tscherepnin gibt es, und sie inspirierte John Neumeier 2009 zu einer Hommage an Nijinsky, die dessen Leben auszugsweise als Rückblende und Traumcollage schildert. Neumeiers „Le Sacre“ („Das Opfer“) hingegen, ein Neumeier-Frühwerk von 1972, ist für mich der ultimative „Sacre“ überhaupt: Mit hektisch wechselnden, grandiosen Lichteinfällen und einer Titelpartie, die ursprünglich splitternackt getanzt wurde, subsummiert dieses Stück die menschlichen Bestrebungen, Spannungen durch Euphorie und Gruppenwahn, durch tänzerische Ekstase und orgiastische (a)sexuelle Übungen zu entladen. Das Wiener Staatsballett hat diese beiden Tänze im Repertoire und ist zu ihrer Wiederaufnahme am 16. März 2019 nur zu beglückwünschen! Zumal Startänzer wie Roman Lazik und Mihail Sosnovschi, Davide Dato und Denys Cherevychko mit Ballerinen wie Liudmila Konovalova und Nina Poláková gemeinsam den „Pavillon“ zu einem melancholischen, lyrisch-theatralen Fest machen werden und dann die junge Nikisha Fogo mit dem Ensemble die brachiale Modernität vom „Sacre“  zelebrieren wird. Selbst schuld, wer das verpasst!

"Le Sacre" und "Le Pavillon d'Armide" von John Neumeier

Noch ein Blick auf die wilde Raserei in „Le Sacre“ von John Neumeier. Foto vom Wiener Staatsballett: Ashley Taylor

Und wer sich noch an die Uraufführung von Neumeiers „Sacre“ in Frankfurt / Main oder auch an seine Aufführungen in Hamburg ab 1975 erinnert, wird dieses nicht tun, ohne an die heute in Berlin lebende Beatrice Cordua zu denken, eine weltweit einzigartige Anti-Ballerina, die Neumeier zwar zunächst nicht mal im Ensemble haben wollte, die dann aber in Rollen wie dem „Sache“ (und als Lykainion in „Daphnis und Chloe“ sowie als Mutter von Julia in „Romeo und Julia“) mit ihrem seltenen, wilden und erotischen Temperament auftrumpfte.

Ihre Stärke lag nie in hochgeworfenen Beinen – sie beherrschte nicht mal annähernd ein 180-Grad-Penché –  sondern in hundertprozentiger Präsenz. Und im „Sacre“ war sie unersetzlich!

Im Schlusssolo musste sie den Kopf mit den offenen, langen Haaren exzessiv über den vornübergebeuten Körper werfen, immer und immer wieder… eine anstrengende choroegrafische Bewegung, die Pina Bausch in ihrem „Sacre“ von Neumeier übernahm und auf das Ensemble als Leitmotiv übertrug.

Anders als bei Bausch müssen die Tänzer bei Neumeier indes bis an ihre Grenzen gehen. Vor allem am Ende vom „Sacre“.

Nach dem „Sacre“-Schlusssolo hatte sie stets „Rührei im Kopf“, also ein leichtes Schleudertrauma, sagte Cordua mir. Für sie und  Neumeier bedeutete ihre Nacktheit aber nicht nur ungezügelten Eros, sondern vor allem auch Schutzlosigkeit, Ausgeliefertsein.

"Le Sacre" und "Le Pavillon d'Armide" von John Neumeier

Ein Ausschnitt aus einem Foto belegt en Detail  Wildheit muss das ganze Ensemble vom „Sacre“ aufbringen. Foto vom Wiener Staatsballett: Ashley Taylor

Die Schambehaarung durfte man damals übrigens ohne Probleme auf der Bühne sehen. Und die Cordua wirkte unglaublich zart und zerbrechlich, obwohl ihre Bewegungen stark und alles andere als zauderlich waren. Obwohl schlank, wirkte sie nie auch nur andeutungsweise magersüchtig.

Diese Art von Tänzerinnen gibt es heute nicht mehr im Ballett.

Das muss leider festgestellt werden, wenn man über den „Sacre“ von John Neumeier spricht. Denn „anders“ talentierte Ballerinen wie Beatrice Cordua würden heute nicht mal in die Profi-Ausbildung kommen, für sie gilt, ähnlich wie für die große Marcia Haydée, das Glück der Stunde – und die Gnade der frühen Geburt, was die Karriere angeht.

Technik sollte auch heute nicht alles sein bei Tänzerinnen – aber die hohen technischen Ansprüche und auch die Ansprüche an entsprechende körperliche Eignung verhindern heute international im Ballett viele andere künstlerische Qualitäten.

Insofern darf man also besonders gespannt sein, wie die in Schweden geborene, unter anderem in London an der Royal Ballet School ausgebildete und seit 2013 in Wien tanzende Nikisha Fogo diese Herausforderung meistern wird.

Außerdem aber hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten leider eine sinnlose Prüderie im Ballettleben etabliert, sodass die Neumeier‘sche Opfer-Partie schon seit längerem nicht mehr nackt, sondern in einem hautfarbenen Trikot absolviert wird. Es ist eine unerhörte Anstrengung für jede klassisch ausgebildete Ballerina, dennoch überzeugend die tödlich endende radikale Ekstase dieser Rolle darzustellen.

Es ist aber nicht unmöglich.

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Typischerweise gelingt das besonders ganz jungen Tänzerinnen, weshalb Neumeier in Hamburg auch schon seine Profi-Ballettschule das Stück tanzen ließ, und zwar mit großem Erfolg und starker Überzeugungskraft.

Alle Phasen der Erschöpfung, der Unruhe, der Raserei finden sich in diesem Solo, dessen Choreografie mit anderen Opfer-Versionen in Hinsicht Stimmigkeit und Nichtübertreibung unvergleichlich ist.

Derweil wusste schon der Philosoph Georges Bataille zum „Heiligen Eros“ in seinem gleichnamigen Buch: „Die entscheidende Handlung ist die Entblößung“.

Die ist jetzt bei Neumeier vor allem ein Seelenstriptease. Bataille, radikalen Revoluzzer-Russen nahestehend, denn auch weiter: „Das Göttliche ist nicht weniger paradox als das Laster.“

Insofern ist auch „Le Pavillon d’Armide“ sowohl eine Referenz als auch eine Hinterfragung der Person von Vaslaw Nijinsky.

Er war ein „Übertänzer“, eine männliche Anna Pawlowa. In der Spielzeit der Handlung vom „Pavillon“ ist er allerdings bereits ein gebrochener Mann: Nach der Heirat mit der Tänzerin Romola warf ihn sein Geliebter, der Impresario Serge Diaghilev, aus den Ballets Russes.

"Le Sacre" und "Le Pavillon d'Armide" von John Neumeier

Liudmila Konovalova brilliert in „Le Pavillon d’Armide“ von John Neumeier. Foto vom Wiener Staatsballett: Ashley Taylor

Der Arbeit beraubt, unter homosexuellem Liebesentzug und den Fesseln der heterosexuellen Ehe leidend, wird Nijinsky verrückt. Seine Schizophrenie wird ihn nie wieder in das normale Leben entlassen. Darüber hat Neumeier mehrere Ballette gemacht, unter anderem den abendfüllenden  „Nijinsky“ aus dem Jahr 2000.

Im „Pavillon“ trifft der einstige Ballettgott Nijinsky auf Fantasiegestalten der Erinnerung.

Nijinskys Original-Tänze werden zitiert: ein kaleidoskopartiges Panorama ergibt sich. Dessen Höhepunkt: ein getanztes Quartett.

Neumeier kreierte es bereits in den 70er Jahren in Hamburg, für seine erste sommerliche „Nijinsky-Gala“. Obwohl viele Quellen von einem Terzett, einem Pas de trois, sprechen, meinte sich die in die USA gewechselte russische Primaballerina Alexandra Danilova an einen Pas de quatre zu erinnern. Mit ihrer Hilfe entstand diese neualte virtuose Szene, die auf Neumeiers Gala mit Mikhail Baryshnikov und drei Ballerinen uraufgeführt wurde.

Die Geschichte vom „Pavillon“ geht im Original auf einen Roman von Theophile Gautier zurück, Alexandre Benois (der auch die originale Ausstattung entwarf)hatte ein Libretto fürs Ballett daraus gemacht. Darin spielt ein lebendig werdender Gobelin eine große Rolle, von dem herab eine bezaubernde Tänzerin steigt.

Dieses Motiv kommt auch in Neumeiers Collage vor, zusätzlich zu der Rahmenhandlung, dass Nijinsky in einem Park-Sanatorium namens „Bellevue“ logiert.

Der belesene Kunstwissenschaftler Hans-Michael Schäfer– Kurator der Stiftung John Neumeier– analysierte die erhaltenen Fotos von Nijinskys Auftritten im „Pavillon“. Sein Befund: Aufnahmen von Adolph DeMeyer von 1911 werden mit ihrer spröden Bildkomposition und den nebligen Schatten zu eigenständigen Kunstwerken.

Man glaubt regelrecht, Nijinsky darin atmen zu hören.

"Le Sacre" und "Le Pavillon d'Armide" von John Neumeier

Mihail Sosnovschi begeistert immer wieder – auch im „Pavillon d‘ Armide“ von John Neumeier. Foto vom Wiener Staatsballett: Ashley Taylor

Stoßweise. Erschöpft. Erregt. So wie 1913, als er „Le Sacre du Printemps“ (Das Frühlingsopfer) für dessen Uraufführung choreographierte. Sein Komponist Igor Strawinsky revolutionierte damals mit harten, synkopischen Rhythmen die Musikwelt. Nijinsky setzte dazu damalige Modernität mit einem drastischen Rückgriff auf folkloristische Kostüme in Szene, ließ die Tänzer einwärts tanzen und in schweren, bauschigen Bauernkostümen alles andere als leichtfüßig wirken. Die Rekonstruktion dieses Tanzes, die es gibt, wirkt denn auch heute eher skurril als berührend.

Oft kopiert, nie erreicht ist hingegen Neumeiers choreographische Interpretation (1972), ein moderner Klassiker: Er zeigt die triebhafte Entfesselung einer urtümlichen Horde. Ausschweifung total. Wird zu Beginn noch sensibel flaniert, tobt nach acht Minuten heller Wahn.

Das Bühnenlicht (auch von Neumeier) simuliert zwei Tage und Nächte. Es setzt grell-flambierte Stimmungen gegen rote Sonnenaufgänge; flirrende Mittagshitze gegen schattiges Zwielicht.

"Le Sacre" und "Le Pavillon d'Armide" von John Neumeier

Nina Poláková und Mihail Sosnovschi in „Le Pavillon d‘ Armide“ von John Neumeier. Foto vom Wiener Staatsballett: Ashley Taylor

Erzählt wird nicht chronologisch, sondern metaphorisch: Manche Sequenz ist wie im Traum oder Film antizipiert und vorgezogen.

So liegt schon zu Beginn ein lebloses Opfer da – das Leben als Totentanz.

Alarmiert rennt später ein Junge im Kreis, andere kommen ihm entgegen. Sein Solo voll äffischer Bewegungen und jazziger Sprünge ist eine auf Leben und Tod gehende Geisterbeschwörung.

Er überlebt, er haut rechtzeitig ab.

Aber das Mädchen, das ihm folgt, unterwirft sich den aggressiven Klängen. Kein schöner Tod. Aber ein atemloser. Sehr bühnenwirksam.

Spätere „Sacre“-Versionen wie die von Sasha Waltz (2013) wirken dagegen übrigens wie lauwarmer, abgestandener Kaffee. Aber eben drum sollten sich echte „Sacre“-Fans die Wiener Show nicht entgehen lassen. Ich wünsche ihnen viel Genuss! Und wäre für eine Spende ganz besonders dankbar.
Gisela Sonnenburg

www.wiener-staatsoper.at

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