Als die Körper sprechen lernten Alexei Ratmansky liefert mit seiner neuen Rekonstruktion von „La Bayadère“ beim Staatsballett Berlin einen stilistischen Karneval

La Bayadere von Alexei Ratmansky ist eine Pleite

Kein rundum gelungener Abend, aber viele Künstler, die sich Mühe gaben, auf der Bühne der Staatsoper Unter den Linden: nach der Premiere von „La Bayadère“ von Alexei Ratmansky beim Staatsballett Berlin. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Was für eine furiose Mogelpackung! Versprochen war eine „historisch rekonstruierte“ Version des Balletts „La Bayadère“ von Marius Petipa, aus der Hand des für solche Dinge als Experte geltenden Alexei Ratmansky. Der Ex-Bolschoi-Chef Ratmansky, seit Jahren in New York ansässig und von dort aus freiberuflich tätig, rekonstruierte bereits diverse Petipa-Ballette, und sein „Dornröschen“ etwa begeisterte rundum mit nostalgisch-neckischem, aber auch tiefsinnig-ästhetischem Flair. Als würden alte Fotografien lebendig! Was für die gestern mit dem Staatsballett Berlin (SBB) in der Staatsoper Unter den Linden premierte neue alte Fassung von „La Bayadère“ leider gar nicht gilt. Wir sehen einen simplifizierten und verwässerten Petipa-Stil, der bestenfalls Karnevalsanmutung hat. Ratmansky und das SBB sind in meinen Augen weitestgehend grandios gescheitert. Aber es gibt auch gute News: Polina Semionova spielt und tanzt dennoch brillant eine Nikia, die zwar nichts mit Werktreue zu tun hat – das ist nicht ihre Schuld – der zuzusehen aber einfach Spaß macht! Supertoll und fast schon allein den Abend wert ist auch Yolanda Correa als ihre Rivalin Gamsatti: Sie trifft noch am ehesten den maliziösen historischen Stil des 19. Jahrhunderts. Alejandro Virelles als Solor schließlich katapultiert einen in den siebenten Himmel, wenn er einerseits exzellent sauber und hoch springt und andererseits die bescheidenen Anmutsgesten der Belle Époque nachzeichnet.

Hätte er noch etwas mehr Spannung in den Unterschenkeln, man könnte ihn glatt mit Herman Cornejo vom American Ballet Theatre aus New York vergleichen, der den nostalgischen Ratmansky-Stil wie aus dem Effeff beherrscht.

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In der Mitte die Primaballerinen Yolanda Correa (links) und Polina Semionova (rechts), in der Mitte hinter ihnen Alexej Orlenco. Gute Stimmung beim Applaus! Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Erwähnenswert sind auch Alexej Orlenco als zuverlässiger Freund von Solor mit dem wunderbaren Namen Toloragwa und Vahé Martirosyan als stattlicher Großbrahmane, der viel Pech in der Liebe hat.

Vladislav Marinov als Fakir toppt zudem alle – er ist so geschmeidig und mit dem Körper so sehr „sprechend“, wie kaum ein Berliner Ballerino es kann.

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Alejandro Virelles als Solor in Aktion: so zu sehen in „La Bayadère“ von Alexei Ratmansky beim Staatsballett Berlin. Foto: Yan Revazov

Trotzdem ist hier kein einheitlicher Stil in Sicht – und der Charme der Ur-Bayadère kann noch nicht einmal erahnt werden. Denn:

Die erste große Enttäuschung in Berlin ist, dass hier nicht die Uraufführung von „La Bayadère“ von 1877 nachinszeniert wurde, sondern der zweite Aufguss dessen, den Marius Petipa unter dem Eindruck der Weltausstellung in Paris zur Weihnachtszeit 1900 in Szene setzte.

Diese Version wurde auch nicht von dem damals schon verstorbenen Vladimir Stepanov, einem Freund Petipas, sondern von einem Gegner Petipas – nämlich von Alexander Gorsky – aufgezeichnet.

Leider verschweigt das Berliner Team im Programmheft sowohl den Pariser Einfluss als auch die Differenzen, die Petipa und Gorsky hatten. Und dann wird sogar ein Foto falsch datiert, sodass man den Eindruck gewinnt, es sei im Grunde egal, ob man die Inszenierung von 1877 oder 1900 sehe.

Es liegen aber 23 Jahre und somit auch Dutzende von Balletten, die Petipa kreierte, zwischen der Uraufführung und dieser Zweitversion der „Bayadère“. Nach fast einem Vierteljahrhundert gab es eine Neuinszenierung, keine Wiederaufnahme im heutigen Sinn. Es gab 1877 auch noch keine Möglichkeit der choreologischen Aufzeichnung. Und die ballettöse Kulturgeschichte und auch das Bewusstsein der damaligen Zeitgenossen hat sich selbstredend in der Spanne bis 1900 sehr geändert.

Doch dazu später mehr.

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Das Ensemble vom Staatsballett Berlin und Ballettstudentinnen der Staatlichen Ballettschule Berlin beim Applaus nach der Premiere von „La Bayadère“ von Alexei Ratmansky in Berlin. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Zunächst mal ein Eindruck des zu sehenden Ballettabends.

Es beginnt sehr schön, tänzerisch voll durchgearbeitet – Kompliment an die Berliner Ballettmeisterin Nadja Saidakova – mit der Bekanntmachung mit dem Leben beim Tempel in einem fiktiven Indien, das noch nicht kolonisiert wurde, sondern das Bedürfnis nach märchenhafter Fantastik befriedigt.

Der bärtige Fakir namens Mahdawaja – exzellent von Vladislav Marinov getanzt, mit feinen, dennoch hoch fliegenden Sprüngen und nahezu vollkommenen Linien in allen Einzelheiten der Bewegungen – steht einer Gruppe von ebenfalls zerzausten, ärmlich und asketisch lebenden Fakiren vor. Die betten sich hier aber nicht sichtlich aufs Nagelbett, sondern sind Überbringer von Nachrichten.

Ihre Tänze als Gruppe berücken, bergen sie doch den Geschmack von Naturhaftigkeit, obwohl sie in klassische Ballettformen gegossen sind.

Der Großbrahmane, hier ein ganzer Mann (schön, stark, groß und expressiv wie ein Sci-Fi-Held: Vahé Martirosyan), ist der Herr über den Tempel. Er ist verliebt – in die schönste seiner Tempeltänzerinnen, sie heißt Nikia (in anderen Versionen „Nikija“ genannt).

Mit herrischem Klatschen holt sich der Oberpriester die Schöne heran – und als Polina Semionova auftaucht, rosa verschleiert, bis ihr der Brahmane den Tüll vom Gesicht nimmt – erkennt man an ihrem Spiel sofort eine so derart klassische Situation von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, dass man auf einmal weiß, dass auch Petipa solche Vorgänge nur allzu gut aus seiner Lebenserfahrung heraus kannte.

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Polina Semionova als leidgeprüfte Nikia im ersten Akt des Liebesdramas „La Bayadère“, das Alexei Ratmansky beim Staatsballett Berlin historisch rekonstruierte. Foto: Yan Revazov

Polina, mit glitzerndem Kopfschmuck und prachvollem goldgelbem, zudem sexy geschlitztem Rock ausgestattet, spielt das fantastisch: Sie, die beruflich existenziell vom Brahmanen abhängig ist, muss sich einerseits eifrig zeigen, andererseits möchte sie sich instinktiv diesem Mann entziehen.

Als der Brahmane ihr bald direkte Anträge macht, weist sie ihn so kühl wie kühn in seine Schranken. Es war wohl nicht zum ersten Mal.

Dabei ist sie selbst schwer verliebt, nicht in einen Angehörigen des Tempels, sondern in den Krieger Solor, der hier – anders als in anderen Versionen – kaum als gefeierter Held auftritt, vielmehr ein ebenfalls in starker Abhängigkeit vom Chef lebender Unterdrückter zu sein scheint.

Alejandro Virelles sprüht nur so vor Empfindungen; Solors Faszination von der Schönheit der Tempeltänzerin geht ebenso von ihm aus wie die Ratlosigkeit, was zu tun sei. Denn die indische Gesellschaft, die hier gezeigt wird, lässt den Liebenden keine Luft zum Atmen.

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Yolanda Correa und das Bildnis des Solor: Gamsatti nimmt sich, was sie will – in „La Bayadère“ von Alexei Ratmansky beim Staatsballett Berlin. Foto: Yan Revazov

Im ausführlichen Libretto von 1877, das glücklicherweise im Programmheft vom Staatsballett Berlin abgedruckt ist, liest sich das wie in einem Roman von Hedwig Courths-Mahler.

Auf der Bühne sehen wir die entsprechenden Pantomimen: Wenn sich ein Mann mit begeistertem Ausdruck ums das Gesicht fährt, so ist die Rede von der schönsten Frau im Lande, also von Nikia.

Und wenn die Liebenden einander treffen, ist die Umarmung der Höhepunkt der körperlichen Äußerung: Es gibt hier keinen Pas de deux zwischen Solor und Nikia, sie erzählen einander ihre Liebe allein mit Gesten und Mimik.

Nun sind solche Pantomimen natürlicher Bestandteil der Ballette des 19. Jahrhunderts. Aber sie wurden zumeist in feinem Mischungsverhältnis mit Tanz präsentiert.

Das ist in der 1972 für die Pariser Opéra von Pierre Lacotte rekonstruierten „La Sylphide“ so, das ist in Auguste Bournonvilles „Napoli“, welches Lloyd Riggins 2014 für das Hamburg Ballett rekonstruierte, das ist in „Schwanensee“ so, den es in vielen mehr oder weniger historisch interessanten Versionen gibt (auch in einer von Alexei Ratmansky, die er 2016 für das Zürich Ballett schuf) – und das ist auch in den bisher bekannten Stückfassungen von „La Bayadère“ so, derer es etliche gibt, von denen aber die auf der Überlieferung in den russischen und sowjetischen Ballettsälen beruhende von Natalia Makarova (1980) – dazu später mehr – die weltweit erfolgreichste ist.

In Ratmanskys Version von „La Bayadère“ aber tritt Marius Petipa anscheinend den Kampf gegen den Stummfilm an. Das hält eine Weile wach, aber nach dem spannenden Entrée wartet man einige Zeit vergeblich auf Ballett. Tanz ist hier im ersten Teil nur Nebensache, kann nur als „Balletteinlage“ in einem stummen Schauspiel bezeichnet werden.

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Sarah Mestrovic – hier halbhoch in Blau – mit dem Ensemble vom Staatsballett Berlin nach der Premiere von Ratmanskys „La Bayadère“. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Die prächtigen, aufmotzenden Kostüme werden von reichlich Statisterie zur Schau getragen – und es gibt eine so deutliche, psychologisch-theatralische Gestik bei den Protagonisten, dass man sich schon wundert, ob das nun wirklich typisch fürs 19. Jahrhundert war. Immerhin kennt man streng stilisierte Pantomimen aus dieser Zeit, und damit hat das hier wenig zu tun. Man fühlt sich an Kindertheater erinnert.

Hatte ich da nun falsche Erwartungen? Oder sind die Unterlagen, nach denen Alexei Ratmansky akribisch bei der Umsetzung der Choreografie vorging, falsch?

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Alexej Orlenco, Yolanda Correa, Polina Semionova und Alejandro Virelles nach der Premiere von „La Bayadère“ von Alexei Ratmansky in Berlin. Schlussapplaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Die so genannte „Sergejev-Sammlung“ ist ein Konvolut aus choreologischen Notationen, die Vladimir Stepanov, ein Weggefährte Petipas, begonnen hatte, sowie diverser weiterer Unterlagen wie Fotos, Kostüm- und Bühnenbildentwürfen.

Nicholas Sergejev war indes nicht wirklich ein ehrenwerter Mann. Als Tänzer und „Régisseur“ bis 1918 beim Mariinsky Theater in Sankt Petersburg angestellt, flüchtete er mit den oben genannten Dokumenten vor der Russischen Revolution gen Westen. Streng genommen war er ein Dieb.

In Paris und London inszenierte er anhand seiner geraubten Schätze Ballette – mehr oder weniger unwissenschaftlich. Er starb 1951 in Nizza.

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Tempeltanz à la Alexei Ratmansky in „La Bayadère“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Yan Revazov

Ein Londoner Theaterhändler war dann an Sergejevs Unterlagen gekommen und verscherbelte (nach meinem Wissensstand) 1967 zunächst die „Schwanensee“-Notationen, dann, 1969, die restlichen Notate an die Harvard University in den USA. Dort werden sie heute als so genannte „Sergeyev Collection“ archiviert.

Von 1918 bis 1969 ist eine Menge Zeit vergangen. Ob hier zwischenzeitlich Fälschungen in die Sammlung eingefügt worden sind, wurde meines Wissens nach nie mit gebotenem Aufwand untersucht. Zunächst befand man diese Unterlagen auch nicht wirklich als besonders wertvoll.

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Tatiana und Alexei Ratmansky beim Applaus nach der Premiere von „La Bayadère“, neben ihnen rechts Birgit Brux, die „Dienerin“-Darstellerin. Auf jeden Fall haben sich alle sehr angestrengt! Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Erst, seit sich ein neueres historisches Bewusstsein und ein Interesse an der Wiederaufbereitung von alten Balletten entwickelte, stieg der Wert der Sammlung.

Meiner Meinung nach ist aber das, was sich darin befindet, ebenso mit Vorsicht zu genießen wie irgendwelche Tagebücher oder Briefe, die auf Dachböden gefunden werden.

Da seit der Russischen Revolution viele Tänzer, die bei Stepanov und im Mariinsky dessen System der choreologischen Notationen erlernt hatten, gen Westen türmten und manche dort auch von Armut bedroht waren, ist es nicht ganz unwahrscheinlich, dass hier früher oder später für ein wenig Geld etwas dazu gefälscht wurde.

Blumen für die Primaballerina! Polina Semionova (kniend) und die Künstler vom Staatsballett Berlin nach der Premiere von „La Bayadère“ von Alexei Ratmansky. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Übrigens lernten auch Léonide Massine und Vaslav Nijinsky in ihrer frühen Petersburger Zeit die Notation am Mariinsky Theater Beide entwickelten später jeweils eigene Notationsformen aus ihr.

Und auch der Autor der „Bayadère“-Aufzeichnungen, Alexander Gorsky, lernte am Mariinsky die Notationshandwerk und entwickelte es weiter. Nach Stepanovs Tod 1896 übernahm Gorsky sogar die Führung des Notationsprojekts vor Ort. Allerdings war er, jung und dynamisch und dem Modernen aufgeschlossen, sehr an einer eigenen Karriere interessiert – und eben kein dienstbeflissener, untertäniger Helfershelfer, wie Petipa es von Stepanov gewohnt war. Gorsky wurde später selbst Choreograf, und Petipa hasste die modernisierten, in Petipas Augen verstümmelten Versionen seiner Ballette wie „Don Quixote“, die Gorsky auf die Bühne stellte. Auch das Revival der „Bayadère“, das Gorsky  1904 inszenierte, fand keineswegs Petipas Gnade.  Gorsky nutzte hierfür wohl seine eigenen Aufzeichnungen von 1900.

1900 nun war das Jahr der Weltausstellung in Paris. Auch in Russland las und hörte man allerhand davon, und Paris galt einmal mehr als das Zentrum des Wissens, des Fortschritts, der Trends. Petipa als gebürtiger Franzose und Künstler, der eine gebildete Oberschicht zu bedienen hatte, las und hörte viel, sah die damals in Magazinen und als Stiche kursierenden Illustrationen und Berichte. Und Paris war 1900 mehr en vogue denn je.

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Schatten mit Schatten: „La Bayadère“ mit dem „Köngreich der Schatten“, womit eigentlich die weiß gekleideten Tänzerinnen gemeint sind, die hier aber zusätzlich starke Schatten werfen. So zu sehen in Alexei Ratmanskys Inszenierung beim Staatsballett Berlin. Foto: Yan Revazov

Möglicherweise kam Petipa so auf den Film. Denn in den Pariser Varietés wurden seit 1895 Stummfilme von den Brüdern Lumière gezeigt. Als Ballettkünstler muss man darüber bodenlos erschrocken gewesen sein, denn die Einfachheit des neuen Mediums im Vergleich zur aufwändigen Ballettvorstellung ließ befürchten, dass das, was wir heute als Kino kennen, dem Theater Konkurrenz machen würde.

Es liegt also nahe, dass Petipa sich damit auseinander setzte und ausprobieren wollte, ob das Publikum theatral gespielten Stummfilm – in dem der Tanz nur nebensächlich war – akzeptieren würde. Es gibt keinen Beweis dafür – aber wenn man die Inszenierung von Ratmansky sieht, so wäre das eine mögliche Erklärung.

Die Bilder lernten gerade das Laufen, die Körper konnten im Ballett derweil schon längst sprechen:

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Eine Ausstattung, an der wohl nicht gespart wurde: so zu sehen in „La Bayadère“ von Alexei Ratmansky beim Staatsballett Berlin. Foto: Yan Revazov

Statt die Pantomime abzuschaffen, betonte Petipa sie also zur Jahrhundertwende – und baute sie aus, zu einer emotional aufgeladenen, expressiven gestischen Show.

Außerdem ist die Pantomime in Ratmanskys „Bayadère“ im Stil auffallend verschieden von z. B. der bekannten „Schwanensee“-Pantomime, die weniger Schauspiel als vielmehr stilisiertes Ritual ist.

Kaum zu glauben, dass sie aus derselben künstlerischen Hand stammen.

Aber es kann auch sein, dass hier Gorsky die Aufzeichnungen geprägt hat. Vermutlich sieht man in Ratmanskys Version mehr Gorsky als Petipa.

Gorsky nämlich war schwer beeindruckt von Isadora Duncan, die wiederum 1900 auf der Weltausstellung in Paris auftrat und damit ziemlich viel Wirbel auslöste.

Sie faszinierte und schockierte zugleich mit ihrer Form des Ausdruckstanzes: wahres Anti-Ballett. Viele Ballettschaffende hat sie aber sehr inspiriert – unter anderem Gorsky.

Bei der Ratmansky’schen „Bayadère“ nun ist auffallend, dass sich in den ausladenden Gesten und Pantomimen einige Haltungen finden, die an Fotos von der Duncan erinnern.

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Vahé Martirosyan als Großbrahmane nach der Premiere von „La Bayadère“ in der historischen Version von Alexei Ratmansky. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Der Großbrahmane zum Beispiel hebt die Arme im Affekt, als wäre er in einer Ausdruckstanzszene zugange. Und wenn eine bestimmte Form von Ausgelassenheit im folkloristischen Gruppentanz gezeigt wird, hat man fast den Eindruck, hier sei nicht Petipa, sondern Duncan rekonstruiert worden.

Möglicherweise war es Petipas Wille, hier betont „expressiv“ zu wirken, möglicherweise war es aber auch die Idee von Gorsky, dieses Ballett der Nachwelt entsprechend zu erhalten.

Womöglich werden wir es nie erfahren.

Wichtig erscheint mir aber, dass Gorsky genau im Jahr 1900 erst in Petersburg zum Ersten Solisten befördert wurde und dann eine Stelle als Ballettmeister beim Bolschoi in Moskau angenommen hatte – und also zwischen Petersburg und Moskau pendelte.

Worauf würde ein ehrgeiziger Mann wohl seine hauptsächliche Konzentration legen? Auf die Notationen der Ballette seines alten, ungeliebten Vorgesetzten (Petipa) oder auf die eigene Produktivität?

Merkwürdig ist, dass Alexei Ratmansky im Programmheft mitteilt, dass ausgerechnet diese Gorsky-Aufzeichnungen der „Bayadère“ ganz besonders detailliert seien.

Wieso konnte Gorsky gerade 1900 für diese Arbeit so viel Zeit aufbringen?

Oder erklärt sich so, dass die Choreografie hier oftmals seltsam platt und einfallslos wirkt und gar nicht typisch für Petipa, gerade auch im Vergleich mit seinen anderen Werken?

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Yolanda Correa, hier in einer schönen Arabeske zu sehen, kommt vor allem in den kleinen Schritten der Delikatheit des 19. Jahrhunderts nahe: als Gamsatti in „La Bayadère“ von Alexei Ratmansky. Foto: Yan Revazov

Petipa hatte kein schlichtes Gemüt. Er war stets interessiert an Originellem und Außergewöhnlichen. Im Rahmen der Klassik allerdings.

Und gerade dieser Geist, gerade diese verzwickten Details vermisst man hier manchmal.

Gorsky hingegen wollte sein eigenes Süppchen kochen und selbst mit Kreationen brillieren. Er wollte den „altmodischen“ Stil Petipas überwinden und sich der Moderne öffnen.

Das, was man sonst an Petipa so liebt, gibt es hier jedenfalls nicht. Nichts Niedliches, nichts Neckisches. Wenig Liebevolles. Kaum Zärtlichkeit.

All die verspielten und detailfreudigen Pas de deux und auch Gruppentänze, die man von Petipa kennt, gerade in den rekonstruierten Balletten, fehlen hier komplett!

Der Stil wirkt plump und bestenfalls expressionistisch, ganz so, als hätte Gorsky einfach das Eine oder Andere weggelassen.

Dabei kennt man Petipa aus der rekonstruierenden Hand von Alexei Ratmansky ganz anders.

Mit dem Tanzhistoriker Doug Fullington inszenierter er zum Beispiel beim Bayerischen StaatsballettPaquita“ – und es gab keinen Grund zu meckern.

Die "Nijinsky-Gala XLIV" 2018 war ein großer Erfolg

Lieblich und authentisch: Tiler Peck und Herman Cornejo in Alexei Ratmanskys hochkarätiger Rekonstruktion von „Dornröschen“ in der Originalversion von Marius Petipa – nach den Stepanov-Notationen erstellt. Bravo! Foto: Kiran West / Hamburg Ballett – wo das Bühnenpaar im Sommer 2018 auf der Nijinsky-Gala gastierte. 

Vor allem aber das „Dornröschen“, das Ratmansky 2015 in den USA rekonstruierte, bot ungeahnte Ausblicke: Welche Delikatheit geht hier von den Figuren aus, die sich umschlingen und umwerben!

Da hat man den Eindruck, die Postkarten aus dem zaristischen Russland, die die Ballettstars zeigen, werden auf der Bühne lebendig!

Das gelingt in Berlin leider nicht ein einziges Mal.

Völlig unverständlich auch die rein technisch zu erkennenden Mängel dieser „Rekonstruktion“. Mit der Ästhetik des 19. Jahrhunderts brechen sie radikal.

Da hebt Nikia – Polina Semionova – beim Passé die Fußspitze vom Spielbein konsequent hoch und legt sie in der Kniekehle des Standbeines an, was wegen des historisch korrekten langen, nur wenig steifen Tutus zur Folge hat, dass man ihr Spielbein gar nicht mehr sieht.

Petipa hätte sich im Grabe umgedreht!

Nur Polinas Spielfreude reißt da noch was raus.

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Wunderhübsch sehen die Mädchen in ihren Tutus aus: Das Corps aus „La Bayadère“ von Alexei Ratmansky nach der Premiere beim Staatsballett Berlin. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Auch die Attitüden und Arabesken sind viel zu hoch für eine Inszenierung von 1877 oder von 1900.

Man hatte einen ganz bestimmten Look mit den Beinen in den niedrigen Positionen entwickelt.

Das fehlt in Berlin komplett!

Auch die Damen vom Corps – wie auch die Herren – die häufig in Attitüden en avant hüpfen und Attitüden en arrière halten müssen –halten die Spielbeine viel zu hoch für ein nostalgisches Flair.

Man konnte und wollte damals nicht so hoch wie möglich die Beine halten. Man hatte eine Ästhetik entwickelt, die auf ganz anderen Winkeln, Rundungen und Körperlinien beruhte – und nach wie vor entzücken und bezaubern kann.

Das Passé wurde an der Wade oder sogar am Knöchel angelegt, und die Attitüden waren so niedrig gehalten, dass es auch mit den langen Flattertutus noch enorm elegant aussah.

Noch schlimmer ist der nicht geführte Bewegungsfluss in dieser „Bayadère“.

Da reißen die als kleine Araber in Blau-Weiß antanzenden Ballettkinder von der Staatlichen Ballettschule Berlin die Arme hoch, als befänden sie sich auf dem Sportplatz.

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Iana Balova (rechts vorn kniend) fiel in „La Bayadère“ von Alexei Ratmansky beim Staatsballett Berlin als Solo-Schatten angenehm auf: tolle, anmutige Sprünge, kleine, aber feine Zwischenschritte, Anmut und ein klares Spiel. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Und auch die Herren vom SBB schaffen es nicht, die Brust zwar wie in einem Tanzrausch hoch und offen zu präsentieren, aber gleichzeitig die Arme elegant zu führen. Vielmehr reißen auch sie Arme – und dann auch die Beine – ohne Eleganz empor, als befänden sie sich in einem Spaß-Workshop nach dem Motto „Mach mal was mit Tanz“.

Wer jemals historisch rekonstruiertes Ballett im Stile des 19. Jahrhunderts gut getanzt gesehen hat, bekommt hier – mit Verlaub – das Grausen.

Besonders schlimm dräut das auf der Bühne, wenn die Feierlichkeiten gezeigt werden, an deren Ende Nikia stirbt.

Noch schlimmer aber ist das sinnentleerte Grinsen im ersten Teil des Abends auf der Bühne.

Dabei wissen wir ja schon seit der ersten Szene, dass die Gesellschaft, die Petipa hier entworfen hat, keine glückliche ist.

Kein freudiges Strahlen, sondern Sehnsucht muss die Gesichter beseelen.

Zuviel Grinsen kann hier schaden!

Das hat Ratmansky offenbar vergessen, vor lauter Konzentration auf einen Stil, den er hier dem SBB ohnehin nicht einzupauken vermochte.

Der Prunk und das Militär im Heim des Herrschers – dem Radscha von Golconda mit dem Namen Dugmanta – bestätigen, dass es sich hier um eine Tyrannei handelt, in der ein Patriarch allein das Sagen hat.

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Es gibt hier keine Höflinge, aber Fakire, allen voran Vladislav Marinov, hier beim Applaus nach der Premiere von „La Bayadère“ von Alexei Ratmansky beim Staatsballett Berlin. Schlussapplaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Es gibt nicht mal auf Augenhöhe scharwenzelnde Höflinge – Petipa ließ seiner Wut auf das Zarentum und die Obrigkeit beim Ersinnen des Librettos 1877 wortlos freien Lauf, indem er es überzeichnet in indische Kostüme steckte.

Tommaso Renda spielt den Radscha als jemanden, für den es ganz locker ganz selbstverständlich ist, allein zu herrschen, und der als einzige menschliche Regung nachgerade in seine Tochter Gamsatti verliebt ist.

Yolanda Correa tanzt und spielt diese in bezaubernder Weise als eine höhere Tochter, die sich zwar rücksichtslos, aber mit Begeisterung einfach nimmt, was sie haben will.

Der schöne Solor ist ihr versprochen – und auch, wenn er ihr gegenüber kühl und abweisend bleibt, so vermag sie ihn im Verlauf des Abends immer stärker zu involvieren.

Solor kann der Eheschließung mit ihr nicht entkommen. Als der Radscha vom eifersüchtigen Großbrahmanen erfährt, dass Nikia und Solor die Flucht planen, ist der Herrscher entsetzt. Mehr noch: Auch Gamsatti erfährt davon und ruft Nikia zu sich. Mit Schmuck will sie sie abfinden, damit sie Solor frei gebe.

Doch die heißblütige Tempeltänzerin greift erbost zum Dolch, der auf dem Schachspieltisch liegt, und würde die Dienerin Gamsattis (treuherzig wie eh und je in solchen Rollen: Birgit Brux) nicht dazwischen gehen, wäre aus Nikia womöglich eine Killerin geworden.

Leider ist all das hier nur als stumme Pantomime zu sehen, nicht als tänzerische Gestaltung.

Danach beschließt Gamsatti Nikias Tod: Zum Zeichen dessen zeigt sie den sich langsam senkenden Daumen ins Publikum.

Hier muss man wieder etwas tadeln.

Weder im ausführlichen Libretto von 1877 noch in der Berliner Zusammenfassung fürs heutige Ballettvolk auf dem Besetzungszettel steht, dass Gamsatti zur Mörderin Nikias wird.

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Das Staatsballett Berlin mit den Schleiern der Schatten: so zu sehen in „La Bayadère“ von Alexei Ratmansky. Foto: Yan Revazov

Im 19. Jahrhundert gab es eine Zensur, die über das Weltbild wachte. Man musste das Feingefühl des Adels schonen und bezichtigte darum keine Herrscherstochter des Mordes. Man deutete ihre Schuld nur szenisch an.

Dass aber auch heute wieder etwas im Libretto weggelassen wird, wenn es doch wichtig ist, muss man negativ sehen. Darf man nicht wissen, dass auch eine Tochter eines mächtigen Mannes eine Mörderin sein kann?

Seit dem 18. Jahrhundert grassierten die absurdesten Zensur-Regeln in Europa. Es ist wirklich schade, wenn man heute daran anknüpft.

Der gesenkte Daumen Gamsattis bezüglich Nikia und der Satz im Libretto, Nikia müsse sterben, sind allerdings deutlich, ohne eindeutig zu sein.

Unterdessen ist auch der Showdown auf der Bühne hier eine Enttäuschung.

Und ganz offensichtlich war da 1877 etwas anders als 1900.

Denn im Libretto von 1877 ist diese Szene en detail beschrieben, sodass man da den Tanz (!) inszeniert sieht, in dem Nikia in den Armen Solors am Schlangenbiss stirbt.

Man sollte hier das Programmheft lesen statt auf die Bühne zu sehen.

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Polina Semionova als Nikia in ihrem letzten Tanz als Lebende – in Alexei Ratmanskys „La Bayadère“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Yan Revazov

Auf der Bühne aber muss Nikia alias Polina Semionova erst eine sperrige Laute während des Tanzes in beiden Händen halten – damit Grand jetés en tournant zu springen, ist sichtlich schwierig – und dann mit dem Blumenkorb, den ihr Gamsatti schickt, so wild umher fuchteln, dass es aussieht wie aus einem lustigen Kinderspiel. Denkbar unpassend für eine Sterbeszene.

Ich bin mir sicher, dass Petipa den Blumenkorb stets gerade in der Luft sehen wollte – auch eine todtraurige Frau kann im klassischen Ballett mit allem stets die Balance wahren.

Vor allem aber fehlt die im Libretto beschriebene Interaktion mit der vor Eifersucht über Nikias Schönheit rasenden Nebenbuhlerin Gamsatti – sogar die mit dem gemeinsamen Geliebten.

Nikia stirbt, nachdem eine Schlange aus den Blumen kroch und sie biss. Der Brahmane bietet ihr noch rasch ein Fläschchen mit Gegengift an – aber sie lehnt ab, denn da sie Solor nicht haben kann, will sie sterben.

Eigentlich müsste man hier sehr berührt sein.

Aber ich kenne niemanden, der hier wirklich traurig wurde. Das Theater hat versagt, Ratmansky hat versagt.

Vielleicht ist das nicht so schlimm. Es kann ja auch mal was daneben gehen. Man muss das Künstlern zugestehen.

Aber wenn man sich auf einen „echten“ Petipa gefreut hat, dann ist das schon ärgerlich.

Wieso aber spielt das Ganze eigentlich in Indien?

Schon 1862 hatte sich Petipa mit „La Fille du Pharaon“ in nahöstliche Gefilde vorgewagt. Der Zeitgeist, also auch Petipas Publikum, war sehr interessiert an fremden Ländern und ihrer Eroberung, man lebte – bitte nicht vergessen – im Zeitalter der Kolonialisierung.

Petipa ließ sich von Illustrationen etwa von Gustave Doré anregen, und weil sein Lieblingsmagazin aus Paris, „L’Illustration“, den Besuch des Prince of Wales in Britisch-Indien jahrelang sehr wichtig nahm, kam er 1877 auf Indien.

Tigerjagden, Tempeltänzerinnen, Gottheiten mit Macht über die Natur – all das entstammt seinen Recherchen, die ihm der Zeitgeist sozusagen zuspielte.

Leider gibt es von dieser Uraufführung nur wenige Zeugnisse.

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Alejandro Virelles tanzt als Solor mit Polina Semionova als Nikia im „Königreich der Schatten“ – in Alexei Ratmanskys „La Bayadère“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Yan Revazov

Alexei Ratmansky, der 1968 in Leningrad geborene russisch-amerikanische Choreograf, der zunächst ein hervorragender Ballerino war, hat sich nach Ausschöpfung seines kreativen Potenzials als neuschöpfender Choreograf auf historische Rekonstruktionen von Balletten spezialisiert. Er begann damit bereits in seiner Zeit als exorbitant junger Chef vom Bolschoi Ballett und hat mittlerweile als in New York ansässiger Freiberufler internationale Erfolge als praktisch tätiger Experte eingeheimst.

Arbeiten wie „Paquita“ beim Bayerischen Staatsballett entstanden noch zusammen mit dem Tanzhistoriker Fullington; mittlerweile arbeiten Ratmansky und seine ihm auch in Berlin assistierende Gattin Tatiana Ratmansky selbständig mit der „Sergeyev Collection“.

Man wundert sich aber schon, warum das Berliner Ergebnis so daneben ging.

Dass es kein „Goldenes Idol“ hier gibt, jenes virtuose Solo einer goldenen Gottheit, mit dem so mancher Ballerino seine Karriere starten konnte, wusste man: Es wurde erst 1948 in der sowjetischen Theaterpraxis eingearbeitet.

Aber was ist mit dem „Königreich der Schatten“, dem eigentlichen Glanzstück der „Bayadère“?

Als Solor, über Nikia trauernd und hilflos angesichts der vom Radscha geschmiedeten Ehe mit Gamsatti, eine Opiumpfeife raucht, träumt er sich in dieses Land der wunderschönen feingliedrigen Tutu-Damen…

Überraschenderweise findet sich hier beim Entrée in Serpentinen der Damen die Choreografie doppelt so schnell getanzt wie gewohnt – und ohne den berühmten Schritt zurück, bevor die Tänzerinnen in das Tendu gehen.

La Bayadere von Alexei Ratmansky ist eine Pleite

Das Staatsballett Berlin mit dem „Königreich der Schatten“ aus „La Bayadère“ von Alexei Ratmansky. Foto: Yan Revazov

Weil es so zügig voran geht, ist zudem auch keine Zeit für ein Penché, und der ganz große Glanz des Auftritts, der in dieser Szene vermutlich wirklich erst nach Petipa entstand, bleibt uns also versagt.

Vielmehr empfindet man die Szene als das, was sie wohl ursprünglich auch war: als ein Anklang an die Wilis aus dem romantischen Ballett „Giselle“ von 1841, deren Steigerung Petipa hier zugleich kreierte.

In fahlem Mondlicht statt in blau ausgeleuchteter Romantiknacht kommt allerdings nur wenig Atmosphäre auf.

Und: Die damaligen Tänzerinnen hatten den Oberkörper gebeugt, auch bei der Arabeske, wodurch sich eine ganz andere Linie, nämlich ein Vorwärtsstreben, ergibt. Ratmanskys weiße Mädchen wirken dagegen so starr und steif wie Pappfiguren.

Interessant ist hingegen das Kostüm, das mit einem auf dem Oberkopf verankerten Schleier wiederum die Wilis zitiert.

Natürlich ist die Szene ein Hingucker. Und es gibt Achtungserfolge für die technische Leistung. Aber sie berührt nicht und verströmt keine Poesie. Dass man es hier mit elfenhaften toten Seelen zu tun hat, mit lauter aus Liebe gestorbenen Mädchen, übermittelt sich nicht – zu sehr achten alle auf die Technik und die Synchronizität. Darüber geht die Magie flöten.

Das war 2015 noch ganz anders, als das Staatsballett Berlin in „Die Bajadere“ von Vladimir Malakhov – er hatte seine Version 1999 für das Wiener Staatsballett entwickelt – ein überwältigendes Corps im Ballet blanc auffuhr. Was war man ergriffen, begeistert, gerührt!

Und jetzt? Die Mädchen, die Ratmansky da hinstellt, wirken wie verklemmte Revue-Girls, und vermutlich ist das den notierten Anweisungen von Alexander Gorsky zu verdanken.

Petipa war ein feinfühliges Genie, Gorsky ein vergleichsweise talentfreier Neidhammel. Ratmansky hätte das und vor allem den Einfluss von Gorsky 1900 erkennen müssen. Etwa, wenn die Mädchen sekundenlang in Attitüden im Plié – ouverts – verharren müssen, ohne irgendeinen szenischen Drive zu haben. Sie sehen dann aus wie Enten, die nicht wissen, wohin. So etwas stammt vermutlich von Gorsky, nicht aber von Petipa, der immer eine bestimmte Ästhetik im Blick hatte.

Und so war die Wirkung der weißen Schatten eine andere als 1877.

La Bayadere von Alexei Ratmansky ist eine Pleite

Jekaterina Wazem im Kostüm der Nikija – sie war die erste Titelheldin von „La Bayadère“ von Marius Petipa 1877. Im Programmheft vom Staatsballett Berlin wird das Foto irrtümlich auf 1900 datiert. Foto: anonym

Von der ersten Nikia der Ballettgeschichte, der damaligen Petipa-Favoritin Jekaterina Wazem, gibt es dazu folgende Überlieferung:

„Hier waren die Gruppierungen und Tänze von echter Poesie durchdrungen.“

Wazem tanzte übrigens 1877 die Nikia und nicht 1900, wie die Datierung eines Fotos im Programmheft nahe legt.

Warum aber wirken die Ballerinen heute in Berlin so fade? Das ist Poesie für geistig Arme.

Vielleicht war hier der Druck auf die Neuinszenierung schlicht zu hoch. Vielleicht konzentrierte man sich zu sehr auf die Technik. Vielleicht scheiterte man auch bei dem Versuch, den nostalgischen Stil zu treffen.

Eine verträumte Hingabe an eine Utopie – und nichts anderes ist dieses matriarchale „Königreich der Schatten“, von dem der Held Solor im Opiumrausch träumt – sieht indes anders aus als das, was ich bei der Premiere in der Staatsoper zu sehen bekam.

Dass das Damen-Corps dennoch anhaltenden Szenenapplaus erntet, ist verdient: Immerhin ist es eine Leistung, so schön synchron und mit exakt gleichen Beinhöhen über die Bühne zu schreiten und Arabesken zu zeigen.

Bei den Solo-Schatten ist unbedingt noch Iana Balova zu erwähnen, die so anmutig wie akkurat ihre Variationen tanzt.

Man wünscht dieser Ballerina, die seit Jahren immer wieder positiv auffällt, größere Rollen!

Anders verhält es sich mit Krasina Pavlova, die zu stolz und stur wirkt, um noch betören zu können. Sie tanzt den Solo-Schatten, als sei sie hier Odile – das passt gar nicht.

Alejandro Virelles und Polina Semionova aber zeigen, was die Liebe im Traum im Ballett vermag: Sprünge, Hebungen, Führungen – Liebe.

Mit dem echten Petipa-Stil des 19. Jahrhunderts hat aber auch das absolut nichts zu tun.

Kein Wunder, dass Solor, als er aufwacht, völlig desorientiert ist…

Im vierten Akt steht dann die Hochzeit von Solor und Gamsatti an.

Nikia huscht hier als entzückender Geist im weißen Tutu nach dem offenkundigen Vorbild von „La Sylphide“ durch die Szene.

Hier findet sich der eigentliche Höhepunkt der Neu-Alt-Inszenierung:

Es gibt zwar keinen delikaten Pas de trois, wie in anderen Versionen der „Bayadère“, aber wie Nikia immer wieder die Verbindungstänze zwischen Solor und Gamsatti sprengt, ist unbedingt sehenswert.

Da wirbelt sie mit Sprüngen und Chainés um die beiden herum, mal in ihrer Mitte hindurch – und mal tanzt sie mit Solor, mal mit der verwirrten Gamsatti.

Ein richtiger Irrwisch ist dieser Frauengeist, und man kann sich vorstellen, wie diese Szene im 19. Jahrhundert – oder etwas später – die Gemüter erregt haben muss.

Doch alle Versuche, die Hochzeit zu verhindern, nützen nicht.

Der Brahmane legt die Hände der Brautleute aufeinander, will sie vermählen, da entscheidet das Schicksal für einen Wettersturz.

Ein Gewitter, ein Erdbeben, ein Donnerschlag – der Tempel stürzt (jetzt auf der Videoleinwand am Bühnenhorizont) ein.

Und alle sterben, fallen tot um – und da kommt die unerwartete Pointe:

Am Horizont steht Nikia und schreitet vor, und kaum beugt sie sich über Solor, da aufersteht er, um liebend vor ihr zu Knien und seinen Liebesschwur endlich zu halten. Ewiglich.

La Bayadere von Alexei Ratmansky ist eine Pleite

Alejandro Virelles und Polina Semionova mit dem Staatsballett Berlin nach der Premiere von „La Bayadère“ von Alexei Ratmansky. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Und endlich nimmt Nikia alias Semionova eine Pose ein, wie sie nur bei Petipa denkbar ist: der rechte Arm ist niedlich-lieblich erhoben und eingedreht, der Kopf dabei so sanft geneigt, als riefe er eine Engelsschar herbei. Aber das wäre dann schon das nächste Märchen…

Merkwürdig ist allerdings, dass es hier wirkt, als hole sich die Bayadère auf diese Art ihren Geliebten. So aktiv wird Nikia aber zuvor nicht gezeichnet – nur im Affekt, als sie auf Gamsatti mit dem Dolch losging, wurde sie handlungsaktiv.

Vernichtet wird die moralisch verrottete, in Prunk badende Gesellschaft, die das Libretto von Petipa beschreibt, nicht von Nikia, sondern von den Göttern. Diese gestehen der Bayadère das ewige Glück im Jenseits mit Solor zu – insofern ist fraglich, ob die Rekonstruktion von Nikia als Racheengel historisch haltbar ist.

Ratmansky hat ja auch eigene choreografische Ergänzungen geleistet, wobei nicht deklariert ist, wo sich diese befinden.

Das ist ein weiteres Manko dieses Abends.

Man sollte darum davon Abstand nehmen, diese Inszenierung als historisch zu bezeichnen. Sie ist historisch inspiriert – oder auch pseudohistorisch, wenn man es überspitzt sagen will. Einen einheitlichen stilistischen Entwurf liefert Ratmansky  hier mitnichten, geschweige denn genügend Esprit des 19. Jahrhunderts.

Auch die Kostüme sind mehr moderner Fantasie-Prunk als historisch exakt. Dazu später noch.

Der noch sehr junge Victorien Vanoosten dirigierte die ebenfalls historisch „renovierte“ Partitur von Ludwig Minkus mit der Staatskapelle Berlin: solide, auf den Tanz zugeschnitten, aber ohne jede Besonderheit. Dass man zwischendurch minutenlange Stille bei einer Umbaupause hat, wäre allerdings sicher zu vermeiden gewesen, wenn man – was Petipa sicher angeraten hätte – zum Beispiel ein Stück aus „Le Papillon“, ebenfalls von Minkus stammend, gespielt hätte.

Minutenlange Stille ohne theatrale Funktion gehört jedenfalls nicht ins Ballett.

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Zur Ausstattung: Die farbenprächtigen Kostüme von Jérome Kaplan (mit dazugehöriger schöner, aber atmosphärisch unterkühlter Kulisse) haben mindestens einen unübersehbaren Schönheitsfehler:

Die Damen tanzten 1877 wie 1900 keinesfalls mit nacktem Bauchnabel, und auch die Sixpack-Muskulatur der Ballerinen sieht zum Tutu nicht wirklich gut aus. Hier wäre ein echter historischer Rückgriff auf zarte Trikots unter den Tops wirklich ein Fortschritt gewesen. Auch sonst sind die Gewänder zwar quietschbunt und mächtig glitzernd – sie vermitteln das Gefühl von schwerem Brokat und fließender Seide – aber es wäre viel sinnvoller gewesen, originale Kostüme nachzuschneidern und sich auch beim Kopfschmuck und sonstigen Accessoires an die historischen Vorlagen zu halten. Der Plastik-Prunk, den Kaplan auffährt, hätte in jedem beliebigen Hollywood- oder auch Bollywood-Machwerk Platz. Dazu muss man nicht in ein angeblich historisch rekonstruiertes Ballett gehen, um das zu sehen.

Das Flair des 19. Jahrhunderts fehlt, und auch Dummheiten wie die Bezeichnung des Indischen als orientalisch – etwas, das im englischen Sprachgebrauch erlaubt ist, im Deutschen aber falsch ist, weil die deutsche Bezeichnung vom Orient vorderasiatische Regionen wie Indien und Pakistan ausschließt – bezeugen nur, dass man hier international Dinge zusammen klaubt, die nicht zusammen passen.

So handelt es sich alles in allem um einen Abend, der nicht wirklich neu, aber auch nicht wirklich historisch ist – und alle anderen Versionen von „La Bayadère“, die ich kenne (und das sind nicht wenige) würde ich bevorzugen.

Das Premierenpublikum spendete denn auch höflich, aber nicht zu lange Beifall. Von begeisterten Standing Ovations war man weit entfernt – ein Novum bei Premieren von Klassik-Produktionen mit dem Staatsballett Berlin. Interessant ist nur, dass eine große Zeitung diesbezüglich knallhart lügt – und „Stehende Ovationen“ behauptet. Pfui.

P.S. Die meisten Tageszeitungen bzw. deren Tanz-Experten sind übrigens auf die Augenwischerei vom Staatsballett reingefallen und hielten die Inszenierung für eine Rekonstruktion der Uraufführung von 1877. Klar, ob 1877 oder 1900 – wen juckt das schon, mag man sich da denken. Ist doch nur knapp ein Vierteljahrhundert… und Uraufführung hört sich einfach besser an. In der Tat hätte die Redlichkeit geboten, dranzuschreiben, dass es sich um eine Inszenierung von 1900 handelt. Man muss aber das Programmheft sehr genau lesen, um das zu bemerken. Es scheint, diese Berliner Republik bekommt das Hauptstadt-Ballett, das sie verdient.
Gisela Sonnenburg

www.staatsballett-berlin.de

 Anders als die Ratmansky-Premiere war eine Vorstellung 2015 mit der „Bajadere“ von Vladimir Malakhov beim Staatsballett Berlin tatsächlich restlos ausverkauft – und um so vieles besser, magischer ,poetischer… Hier zum Nachschauen und zum Erinnern

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