Wer bislang noch nicht an die Hölle glaubt, dessen Unglaube ist jetzt in Gefahr, zumindest, wenn er das neue Ballett von Xin Peng Wang beim Ballett Dortmund sieht. Der chinesischstämmige Meisterchoreograf Wang widmet sich ab diesem Jahr in der Ruhrmetropole dem Hauptwerk des italienischen Dichters Dante Aligheri (1265 – 1321), der dreizehn Jahre lang an seiner „Divina Commedia“ arbeitete. „Die göttliche Komödie I: INFERNO“ heißt der soeben uraufgeführte erste Tanzabend hierzu, und bis 2021, dem 700. Todesjahr Dantes, wird eine ballettöse Trilogie entstehen. Zuerst aber dieser Höllenritt: Was für eine Wucht, was für eine Faszination geht von den bewegten Bildern aus, die Wang für die Reise in finsterste Abgründe findet! Dantes Verse, aber auch die Gemälde von Hieronymus Bosch wirken dagegen fast langweilig: Wang beschwört mit Feuereifer schaurig schöne Wut- und Qual-Tableaus, die Gefangenschaft und Folter, Sünde und Leid, Schmerz und Hoffnungslosigkeit thematisieren.
Stars wie die hier auch ohne Spitzenschuhe brillante, ätherisch-strahlende Lucia Lacarra als Beatrice (die entgegen Dantes Vorlage bereits beim Höllenbesuch auftreten darf) und wie Javier Cacheiro Alemán, der ihr ein geschmeidig-schöner, in seiner Traurigkeit rasant-passionierter Dante und Bühnenpartner ist, aber auch der willensstarke Cyril Pierre als markant-mysteriöser Fährmann ins Jenseits (Charon) – hier mit Paddel statt mit Boot unterwegs und zugleich ein Pluto, also ein Wächter – sowie der elegant-gelassene Dustin True als römischer Dichter Vergil, der Dante durchs Inferno geleitet, reißen einen mit in eine Welt, die es mit jeder Schauerpoesie aufnehmen kann.
Die Musik ist modern und aufregend, sie stammt von dem amerikanischen Komponisten Michael Gordon, der 1956 in Florida geboren wurde und zum Teil in Nicaragua aufwuchs. Sein Werk „Decasia“, das 2002 als Soundtrack erschien, mischt klassische und synthetische Elemente zu einer sich steigernden Klanghölle – es ist dem Zerfall als gegenläufigem Lebensprinzip gewidmet.
Zu Beginn allerdings schmeichelt sich ein Cello mit Tönen von Kate Moore ein: Dante wird als vereinsamter, des Lebens überdrüssiger junger Mann gezeigt, der schon auf Erden in einer Art Hölle lebt – und sich in einem Wald aus mit von oben herab hängenden Kettenschnüren hangelnderweise abrackert, ohne, dass er einen Sinn darin erkennen könnte.
Doch es erscheint ihm – endlich Hoffnung in Sicht – seine verstorbene große Liebe, die Schönheit Beatrice, von Lucia Lacarra in antikisch wirkendem Outfit fast wie eine Fortsetzung ihrer Helena aus Xin Peng Wangs „Faust II – Erlösung!“ angelegt. Doch anders als die sinnenfrohe Helena schwebt die geisterhafte Beatrice gänzlich altruistisch durch die Gefilde, ihrem Helden, also Dante, stets ohne Worte, aber dennoch beredt, Mut zusprechend.
Als Vergil in einem fulminanten roten Umhang auftaucht und man ihn deshalb zunächst für den Satan halten könnte – da ist Beatrice gerade im Lichthorizont entschwunden – kündigt sich Action in Dantes Leben an.
Vergil nimmt ihn mit auf eine Reise durchs Jenseits, die im Paradies enden wird, aber in der Hölle zu beginnen hat. Furchtlos nimmt der Sonderling Dante die Herausforderung an.
Und mit exaltierten, herrlichen großen Sprüngen durchqueren Dustin True und Javier Cacheiro Alemán die Weltensphären…
Sie treffen auf eine Menschheit, die sich selbst die Hölle ist.
Kostüme (von Bernd Skodzig), die weder kitschig noch geschmacklos noch einfallslos sind, sondern genau den Nerv dieser intensiven choreografischen Arbeit treffen, faszinieren: Das Ensemble trägt Trikots, die bemalte nackte Haut vortäuschen und zusätzlich durch optische Täuschung die Rundungen der Frauen und die Muskeln der Männer wie in anatomischen Studien betonen. Sehnen sind eingezeichnet wie in körperliche Landkarten: Das beginnende Interesse der abendländischen Wissenschaft an Sektionen wird hiermit angedeutet.
„Auf dem Weg ins Paradies sind wir uns die Hölle schuldig!“ – Das ist Dantes Credo, und daran glaubt auch Wang.
So quälen sich diese bemalten Leiber durch ekstatische Rhythmen; erotisch aufgemotzte Kämpferinnen liefern sich ein klirrendes Ketten-Ballett. Ein käfigartiger Turm wird erklommen und gleichermaßen in Besitz genommen wie auch als Gefängnis akzeptiert. Dante leidet unsäglich unter all dem: „Die Hölle – das sind die anderen“, sagte Jean-Paul Sartre, und genau so ist es auch hier, nur ohne Lamento und dafür mit einer so starken Energie, dass man sich wie elektrisiert davon fühlt.
Die Musik von Gordon (die vom Band kommt) gibt eine Steigerung vor, der tänzerisch-choreografisch entsprochen wird.
In neun Windungen schraubt sich hier der Höllenweg ins Erdinnere, zu einem Kern aus Eis.
Von Kreis zu Kreis nehmen die Qualen der Sünderinnen und Sünder zu – und Dante leidet mit ihnen. Er krümmt sich, hält sich die Ohren zu, um dem pfeifenden Höllenlärm und dem Geschrei der Gequälten zu entkommen.,
Aber immer wieder taucht die Hoffnung für ihn auf, mit der Lichtgestalt von Lucia Lacarra, die – wie Dante – ganz in Weiß einen starken Kontrast zu den bemalten Scheinnackten bildet.
Spitzenschuhe gibt es hier nicht, aber die moderne Formensprache des Tanzes ist – wie immer bei Wang – unverkennbar klassischer Herkunft.
Die liebevoll-zärtlichen Paartänze sind Delikatessen mit typischer Wang’scher Prägung, und die Hoffnung der Liebenden ist zugleich die des Publikums, das ist keine Frage.
Aber welche Zukunft haben ein lebender Mann auf Höllenfahrt und eine Frau, die schon lange tot ist und im Paradies auf ihren Geliebten warten muss? Wird es möglich sein, Glück dauerhaft miteinander zu teilen, wenn er es nur schafft, die Höllenkreise zu überwinden und zu ihr zu gelangen?
Um diese Verzweiflung, auch um dieses verzweifelte Hoffen geht es hier. Man will nicht einfach nur Dante illustrieren, sondern eine Ahnung davon geben, wie es ist, das Diesseits bereits als Hölle und das Jenseits somit als unendliches Diesseits zu sehen.
Da ist das Inferno kein externer eigenständiger Raum, sondern die psychologische Drangsalierung, der Menschen tagtäglich ausgesetzt sind.
Der Turm in der Bühnenmitte gerät denn auch zu einem erbarmungslos soghaften Trichter zur Hölle, dem niemand entkommen kann.
Menschen werden an den Füßen aufgehängt und verschwinden im Nichts.
Andere quälen sich mit Fesseln und Krämpfen, winden sich, laut schreiend vor Schmerzen, am Boden – und hoffen dennoch, eines Tages aus dieser Hölle zu entkommen.
Das Drängen nach Flucht wird immer heftiger. Aber alle, die einen Versuch wagen, werden von Charon, dem Fährmann mit dem Paddel, zurückgetrieben. Wie eine Waffe setzt Cyril Pierre das Paddel ein, wie einen Zauberstab, an dem keiner vorbei kommt.
Die Bühne bebt. Eitle, Gewalttäter, Ehebrecher – sie alle werden hier auf härteste Art und Weise bestraft. Da ist ein Liebespaar, das auf Erden keines sein durfte. Hier in der Hölle sehen die Liebhaber sich wieder, kleben sogleich in Leidenschaft aneinander – aber sie werden von der Meute herzlos auseinandergerissen.
Einfallsreich und doch nie beliebig schuf Xin Peng Wang – der seit 2003 der äußerst erfolgreiche Ballettdirektor in Dortmund ist – in seinem 16. Jahr mit dem Ballett Dortmund sein womöglich radikalstes Werk.
Zusätzlich zur klassischen Ausbildung in Ballett und Choreografie in Peking studierte er an der Essener Folkwang Hochschule. Dieser professionelle Zugang zur Moderne der Körpersprachen hat es ihm immer erleichtert, auf höchstem Niveau Soli, Paar- und Gruppentänze zu erfinden, die Inhalte transportieren und nicht nur als Dekoration oder Blickfang tauglich sind.
Einmal mehr bewährt sich auch die Zusammenarbeit von Wang mit seinem Dramaturgen Christian Baier. Der gebürtige Wiener besorgt Wang seit 2006 literarische und musikalische Sujets, und wie im Fall des „INFERNO“ zeichnet er oft für mehr verantwortlich als nur für eine dramaturgische Begleitung: Konzept, Szenario und Dramaturgie stammen von ihm.
Eine ähnlich fruchtbare, sogar noch langjährigere Kooperation kennt man von dem Sprechtheater-Regisseur Claus Peymann und dem Dramaturgen Hermann Beil. Im Ballettbereich aber geschieht es viel zu selten, dass sich ein begabter Choreograf und ein begabter Dramaturg zur schöpferischen Arbeit zusammen setzen. Wie sehr sich das inhaltlich und ästhetisch rentieren kann, beweisen die Ergebnisse beim Ballett Dortmund, dieses jüngste Werk von Xin Peng Wang allen voran.
Allein die Ensembleszenen – mit dabei ist auch das NRW Juniorballett mit elf superbegabten, ehrgeizigen Zöglingen – lassen einen staunen und darüber nachdenken, in welcher Hölle man eigentlich selbst gerade sitzt.
Die Bühne, die Frank Fellmann für dieses bösartige Universum gebaut hat, hebt und senkt sich, gibt mal den Trichterturm als Zentrum frei und verhüllt dann wieder, was sich in den verschiedenen Ebenen des Turmes an Folterszenen abspielt.
Dann muss man sich denken, wie weit Menschen gehen, um Menschen zu vernichten – und es gruselt einen erst recht.
Erneut tauchen zu Vieh gemachte Menschen auf. Bewegungen in Zeitlupe wechseln mit großer Schnelligkeit.
Die Menschen auf der Bühne bewegen sich in Kreisen – und führen doch zugleich deren Auflösung vor.
Zweifel und Depression, Hoffnung und Hoffnungsverlust – alles verschmilzt hier zu einem Gefühl des größtmöglichen Unbehagens.
Am Ende schwillt dieses Gefühl in der Masse zu einer Kraft an, die revolutionär sein könnte. Und tatsächlich wagen es die Gefangenen, den Turm nach vorn zu kippen, sie wollen entfliehen, sich befreien, als Gruppe in einem Aufstand stark sein – doch sie haben keine Chance. Charon ist stärker, auch und gerade in der modernen Hölle. Sein Paddel ist gewalttätiger als irgendeine Wunderwaffe – man ist versucht, das als Kritik am patriarchalen Phallus zu interpretieren.
Dafür gibt es bei Wang am Ende keinen bildlichen Teufel – außer dem Verhinderer Charon.
Bei Dante frisst im Erdinnern ein Luzifer mit drei Mündern ohne Unterlass und immer wieder erneut die Verräter Judas, Brutus und Cassius. Den Verrat als schlimmste Sünde lässt Wang entfallen, und auch Hunnenkönig Attila, die altägyptische Herrscherin Kleopatra, sogar Helena, wegen der der Trojanische Krieg entflammte und die Goethe in seinen „Faust II“ als ewiges Weib einbaute, also all die Promis, die Dante in seinem Werk als Insassen der Hölle versammelt, bleiben hier draußen oder unkenntlich.
Denn in einer demokratischen Gesellschaft interessiert zumindest vorgeblich die Masse der Leidenden stärker als das Leid des Individuums oder einzelner Berühmtheiten.
Anklänge an die Arbeits- und Todeslager der Nazis vermisst man allerdings; nicht umsonst wurden die Konzentrationslager oftmals als Höllen beschrieben, die auch als allegorische Sinnbilder für menschliches Leid durchaus geeignet sind. Und schon Hetze, Mobbing, seelische Grausamkeit – also die zwischenmenschlichen Foltermethoden – könnten Vorlagen für Bilder moderner Leidzufügung abgeben.
Auch das Leben in Armut ist eine konkret fassliche Hölle, die sich derzeit weltweit ausbreitet, neben parallel wachsendem Reichtum, der von der Armut profitiert. Auf solche politischen Zusammenhänge verzichtet Wangs Inszenierung aber, ihm geht es – wie schon Dante – nur um das Leid an sich und nicht um seine sozialpolitische Einordnung.
Der Sternenhimmel, der bei Dante dem Reisenden am Ende hilfreich zublinzelt, ist hier ganz gestrichen. Man hatte wohl Angst, damit kunstgewerblich oder kitschig zu werden.
Und auch die Botschaft, die Christian Baier in seinem kurzen Libretto-Text im Programmheft schlussendlich deutlich formuliert, lässt keinen Hauch von Glanz mehr zu: „Die härteste Strafe ist die ewige Hoffnung…“
Und doch ist sie es, die das Leben überhaupt aufrecht erhält. Die Hoffnung stirbt nicht nur zuletzt, sie stirbt im Grunde nie, solange es überhaupt Leben gibt.
Einer zynischen Neuerfindung des Nihilismus wird ohnehin mit den beiden bis 2021 folgenden Teilen – dem „Purgatorio“, also dem Fegefeuer, und dem „Garten Eden“, dem Paradies – heftig widersprochen werden.
Vorerst muss man sich mit der höllischen Kraft dieses Bilderreigens begnügen – und langweilig ist das moderne Inferno in der Tat nie!
Mit knapp 75 Minuten ist der Abend allerdings verdächtig kurz, ganz so, als wolle man die Zuschauer nicht über Gebühr quälen.
2021 aber soll es dafür möglich sein, alle drei Teile von Wangs „Göttlicher Komödie“ an einem Abend zu erleben. Zeitlich werden also auch die beiden folgenden Stücke wohl nicht ausführlicher werden.
Der Beifall für die hervorragenden Solisten – allen voran für die aus Madrid angereiste Startänzerin Lucia Lacarra und ihren Ex-Ehemann Cyril Pierre aus München sowie für die beiden fantastisch tanzenden Dortmunder Jungmänner Javier Cacheiro Alemán und Dustin True – und auch für das ebenfalls zu bedankende, sehr einsatzfreudige Ensemble war bei der Uraufführung denn auch heftig und anhaltend.
Und der Applaus steigerte sich, als Choreograf und Ballettdirektor Xin Peng Wang die Bühne betrat, zu Standing Ovations – seine Fans wissen, was sie an ihm haben.
Fazit: Als Befreiungsweg aus festgefahrenen Lebensmustern taugt diese Höllenfahrt allemal!
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg