Ein guter halber Abend Das Staatsballett Berlin gönnt sich eine halbe Premiere mit „Gods and Dogs“ von Jiri Kylián und der Wiederaufnahme von „Angels‘ Atlas“ von Cristal Pite – insgesamt ist das kaum eine Stunde Tanz

"Gods and Dogs" beim Staatsballett Berlin

Inara Wheeler und Mark Geilings im Klammergriff der Paarbeziehung bei Jiri Kylián in „Gods and Dogs“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Yan Revazov

Ein bisschen kurz ist es ja für einen ganzen Abend im Opernhaus: Das neue Programm „Gods and Dogs“ („Götter und Hunde“) vom Staatsballett Berlin (SBB) vereint nur zwei Kurzstücke, sodass man insgesamt auf kaum eine Stunde Tanzkunst kommt. Aber dafür kann man ja vorher und in der Pause Sekt oder Selters in sich hineinschütten und sich einreden, man hätte eine großartige  Zeit. Die Location, die Staatsoper Unter den Linden in Berlin, lohnt ohnehin immer die Anfahrt. Für Fans des Choreografen Jiri Kylián ist es zudem eine Frage der Ehre, sich diesen Abend nicht entgehen zu lassen. „Gods and Dogs“, das dem Abend seinen Titel gibt, schuf er 2008 zu 20 Minuten Kammermusik von Beethoven, verschnitten mit schrägen Kurvensounds von Dirk Haubrich. Und Kylián ließ verlautbaren, dieses sei sein persönlichstes Stück. Vielleicht, weil es darin nur um Paarbeziehungen geht und er, der außerhalb seiner Partnerschaft ein uneheliches Kind zeugte, in der Liebe nicht ganz soviel Glück hatte, wie immer behauptet wird, vor allem von seiner Lebensgefährtin, der Tänzerin Sabine Kupferberg, welche wiederum einer bekannten Sekt-Unternehmersfamilie entstammt und welcher er, Kylián, seine choreografische Karriere verdankt. Denn Kupferberg war es, die ihn von Stuttgart nach Den Haag holte, wo er später das Nederlands Dans Theater zu Weltruhm führte.

Zur Anreise für die Berliner Premiere am Samstag reichte es mit dem „persönlichsten Stück“ bei Kylián (78) dennoch nicht. Ob er sich überhaupt nochmal live ansehen wird, wie fantastisch die Tänzerinnen und Tänzer vom SBB seine Choreografie derzeit tanzen, ist nicht gewiss. Klar ist nur: Falls er nicht kommt, verpasst er was. Vier Paare – darunter Michelle Willems und Matthew Knight sowie Fiona McGee und Martin ten Kortenaar – zeigen in den akrobatisch-rasanten Kurz-Paartänzen auf neoklassischer Basis das existenzielle Auf und Ab von Beziehungen, als hätten sie nie einen anderen Stil als den von Kylián getanzt. Atemberaubend exakt.

"Gods and Dogs" beim Staatsballett Berlin

Raffiniertes, nicht nur liebevolles Miteinander: Michelle Willems und Matthew Knight in „Gods and Dog“ von Jiri Kylián beim Staatsballett Berlin. Foto: Yan Revazov

Um dennoch eines klarzustellen: Da ist so Einiges choreografisch schick und raffiniert gemacht, aber „wegweisend“ ist das nicht und „nie Gesehenes“ gibt es darin auch nicht. Und wenn ein Berliner Kritiker meint, er habe zuvor nie gesehen, dass eine Tänzerin drehenderweise ihrem Tanzpartner in die Arme springt, dann muss man ihm dringend mal eine Fahrt zum Hamburg Ballett oder auch zum Royal Ballet nach London empfehlen. Dort, in den modernen Stücken von John Neumeier oder auch in den schon etwas älteren von Kenneth MacMillan (etwa in der Schlussszene von „Manon“ von 1974), sieht er das dann häufiger. Er kann aber bei Neumeier sogar noch viel mehr an spektakulären Tricks im Pas de deux bestaunen. So das „Suicide Wheel“, bei dem die Ballerina ein Rad schlägt, ohne die Hände auf dem Boden zu haben, weil ihr Partner sie nämlich hält. Das würde den Kollegen sicher sehr beeindrucken.

Interessant und aufwühlend sind die Paartänze in Kyliáns „Gods and Dogs“ derweil aus einem ganz anderen Grund: Sie zeigen die Entwicklung des Menschen, wie er in seinen Emotionen zwischen Tier und Gott steht. Wer gebildet ist und die „chain of being“ aus dem  Elisabethanischen Zeitalter kennt, weiß zwar, dass diese Erkenntnis bezüglich der animalischen und göttlichen Anteile des Menschen nicht ganz neu ist. Aber im Ballett wurde dergleichen zuvor eher selten gezeigt, schon gar nicht auf so exquisit stilisierte Weise.

Und so stellen sich Fragen, schlagwortartig etwa so: Liebe? Triebe? Leben? Tod? Wer benutzt wen? Wer hilft wem? Und wozu?

Der Titel des Stücks könnte denn auch einer alten englischen Redewendung im weiteren Sinne entlehnt sein: It is raining dogs and cats (oder auch: it is raining cats and dogs) für starken Dauerregen. Das wurde im Hinblick auf den so genannten Tierregen so benannt. Dabei fallen in ganz seltenen Fällen bei sehr starkem Regen und Wind Tiere direkt aus der Luft zu Boden, etwa Vögel und Frösche. Manche überleben den Sturz, andere bezahlen ihn mit dem Leben.

So ergeht es demnach, metaphorisch gesehen, den Menschen, die sich bei der Liebe existenziell auf etwas einlassen müssen, dessen Folgen sie zunächst nicht abschätzen können – und für das sie im Grunde nicht mal verantwortlich sind, denn laut Kylián ist die Liebe wie eine Naturgewalt, die den Menschen übermannt und mit ihm macht, was sie will. Sie macht ihn mal zum Gott, mal zum Hund. Menschen sind also selbst die „Gods and Dogs“.

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Radikal entkleidet Kylián hier nicht die Tänzer, sondern die heuchlerische Romantik, die ihr Wirken auf der Bühne in Liebesdingen oft verbrämt.

Liebe, so Kyliáns Lehre, kann sowohl eine hauchzarte als auch eine brutalistische Angelegenheit sein. Liebe kann auch  Egoismus zum Vorschein bringen, vor allem beim Geliebten. Liebe kann sowohl Leben retten als auch Leben kosten. Und: Die Menschen mutieren aufgrund ihres Trieblebens mitunter zu Bestien, obwohl sie sich selbst zumeist als Engel wahrnehmen. Oder eben gleich als Götter.

Liebe, der Wirbelwind unserer Existenz. 

Berührend sind dabei einzelne Szenen. So diese:

Eine Tänzerin kriecht auf allen Vieren in den Orchestergraben, damit auf der Bühne ein Mann einen fransigen, überdimensional großen Lametta-Vorhang durchschreiten und solchermaßen als künftige Gottheit auf die Bühne kommen kann. Die Neugeburt des Menschen als übernatürliches Wesen kann ja nur ein Mann zeigen… Kyliáns Machismo, der sich auch sonst in etlichen Stücken von ihm zeigt, wird hier offenbar. Göttlich sind bei ihm vor allem die Männer, die Frauen hingegen, nun ja, haben das Privileg, für den Mann sexuell attraktiv und erhebend zu sein. Dieses Denken zeigen viele Kylián-Stücke.

Trotzdem finden auch viele Frauen – nicht nur Tänzerinnen – die von Kylián zugeordneten Rollenklischees höchst attraktiv. Das liegt vermutlich daran, dass er sie verdammt erotisch in Szene setzt. Ästhetik ist bei ihm das A und O, und auch da, wo andere die Wildheit oder gar das scheinbar Unkontrollierte favorisieren, bevorzugt Kylián immer die Noblesse edler und geführter Linien.

Genau das macht ihn auch für viele Ballettinsider so anziehend.

Expressiv: Fiona McGee und Martin ten Kortenaar in „Gods and Dogs“ von Jiri Kylián, zu sehen beim Staatsballett Berlin. Foto: Yan Revazov

Umso mehr ist zu bedauern, dass man in Berlin kein weiteres Stück von Kylián zu diesem Programm anfügte. Von der Länge her und auch thematisch hätte da noch was gepasst.

"Höhepunkte" beim Stuttgarter Ballett

In „Falling Angels“ von Jiri Kylián tanzen acht Damen – im Turnerinnenlook zu Trommeln vom Band.  Videostill vom Stuttgarter Ballett: Gisela Sonnenburg

Kyliáns „Falling Angels“ von 1989 für acht Tänzerinnen hätten zudem hervorragend als Überleitung zum im zweiten Teil des Abends wiederaufgenommenen Werk von Cristal Pite gepasst, das sich ebenfalls mit sehr irdischen Engeln beschäftigt.

Es heißt „Angels‘ Atlas“ („Engelsatlas“) und malträtiert so ziemlich jede Vorstellung von Engeln, die sich im Laufe der Kulturgeschichte in den verschiedenen Religionen gebildet hat.

Nicht nur die Christen, sondern auch die Juden und die Moslems kennen Engel, wohlgemerkt. Ob es solche sind, wie sie hier auftanzen, sei allerdings dahingestellt.

Pite imitiert ein wenig Sharon Eyal, wenn sie ihr Ensemble penetrant bestimmte Bewegungen synchron wiederholen lässt. Ihre Engel müssen allerdings hart arbeiten, zumal sie offenbar gegen irgendwelche Naturgewalten, die aber nicht ganz klar zu deuten sind, ankämpfen.

Seltene Spezialeffekte sorgen dafür, dass es im Hintergrund dunkel und grell zugleich ist, dass es dort dramatisch neblig und nach Weltuntergang ausschaut.

Das Bühnenbild von Jay Gower Taylor ist hier denn auch am eindrucksvollsten.

Die Engel wiederum müssen ihren harten Kampf auf Dauer verlieren, auch ohne Atombombe: Die zwei edelsten Seelen versterben am Ende vor den Augen des Publikums.

"Gods and Dogs" beim Staatsballett Berlin

Schocktheater auch ohne Florentina Holzinger: „Angels‘ Atlas“, zu sehen im Abend „Gods and Dogs“ beim Staatsballett Berlin. Schön laut, schön grell. Foto: S. Gherciu

Pite will halt schockieren. An Engel glaubt sie nicht eine Sekunde, und dass sie all jenen, die das gern tun möchten, sozusagen die gemeine Wahrheit ins Gesicht schminkt, mag sie selbst total befriedigen. Als ihr Fan muss man aber schon sehr sadomasochistisch veranlagt sein, um da mitzugehen. Dieses hier ist nicht ihr stärkstes Stück.

Überflüssig, zu erwähnen, dass die synthetische Musik von Owen Belton, die auch ein paar Takte von Tschaikowsky einbindet, eher laut und bedrängend als anrührend ist.

Kitschig wirkt das Ganze dennoch; Kitsch hat mit (fehlender) Softness ja auch nichts zu tun (ein weit verbreitetes Missverständnis). „Kitsch“ bedeutet nur, dass die Form-Inhalts-Beziehung eines Werks gestört ist oder nicht richtig funktioniert.

Und so befinden wir uns mit diesem Pite-Werk in einem ideell völlig überfrachteten Werk, das konzeptionell aufgeblasen und tänzerisch auf ein hektisches, halb gymnastisches Minimum eingedampft ist. Inhaltlich bleibt unterm Strich nur ein sehr mageres Ergebnis. Es besagt: Auch Engel können versagen, sogar untergehen.

Das ist in der Tat nicht neu, zudem nicht wirklich schlüssig. Es ist ein bisschen so, als würde man die antiken Götter – deren Kennzeichen ihre Unsterblichkeit ist – zu Sterblichen erklären.

Um ein paar erstaunliche Spektakelmomente zu füllen, genügt diese neue alte These nicht. Oder hat da jemand seinen Homer nicht gelesen?

"Gods and Dogs" beim Staatsballett Berlin

Tödlicher Tanz vor gepimptem Feuerschein: „Angels‘ Atlas“ von Crystal Pite beim Staatsballett Berlin. Foto: S. Gherciu

Dass der Weltstar Polina Semionova hier mittanzt, als sei sie eine unscheinbare Halbsolistin, erfreut alle, die vor allem ihre Bescheidenheit wieder und wieder gerne loben.

Man erinnert sich aber auch daran, wie ergreifend sie in „Voices“ von David Dawson tanzte, es sogar mit ihm in Berlin kreierte. Das war auch was Modernes, aber es war eine ganz andere Hausnummer. Das Thema waren übrigens die Menschenrechte.

Eine Kollegin der Tagespresse hat dieses Stück von 2022 ganz vergessen und lobend erwähnt, dass Polina ja auch modern tanzen kann. Darum hier nochmals der Hinweis auf Dawson – und auch auf Mauro Bigonzetti, dessen modernen „Caravaggio“ die damals noch ganz junge Polina Semionova ab 2008 energetisch hoch geladen mit Vladimir Malakhov tanzte.

"Gods and Dogs" beim Staatsballett Berlin

Auch Engel sind einsam, auch Engel sterben… Aber ob es sich bei Crystal Pite in „Angels‘ Atlas“ wirklich um Engel handelt? Foto vom Staatsballett Berlin: S. Gherciu

Was – außer Erinnerungen – bringt der neue Abend also, der eigentlich nur ein halber guter ist?

Insgesamt fehlt ihm die Seele – und auch die Quantität, die man anspruchsweise von einem großen Staatsballett gern haben möchte.

Es gibt nun zwar Leute, die solche Konsumkunst mögen. Manche diddeln sogar ungerührt während der gesamten Vorstellung auf ihrem hell leuchtenden Handy herum, so wenig interessiert sie das Bühnengeschehen. Und so wenig interessiert sie auch, dass sie ihre Sitznachbarn dadurch stören. Dieses Publikum ist nun nicht wirklich ein Zugewinn.

Es gibt aber auch viele, die sich so eine Show gar nicht erst antun wollen.
Gisela Sonnenburg / Anonymous 

NDT - Gastspiel in Berlin

Menschen aus dem Büro tänzerisch auf der Bühne – so zu sehen im Werbetrailer für das kommende Gastspiel vom Nederlands Dans Theater (NDT) in Berlin im Juli 2025. Videostill: Gisela Sonnenburg

P.S. In Den Haag, wo der gebürtige Prager Jiri Kylián eher wie ein Gott – nicht wie ein Hund – behandelt wird, bereitet man aktuell beim Nederlands Dans Theater das in wenigen Tagen anstehende Gastspiel in Berlin vor. Pikant daran ist, dass es ein Projekt in Kooperation mit Cristal Pite ist. Als Vorbereitung darauf kann das neue Programm beim SBB sicher sinnvoll sein. 

www.staatsballett-berlin.de

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