Weltuntergang hoch drei Ein ergreifendes Thema: Gleich mehrere Apokalypsen liefert das NDT (Nederlands Dans Theater) mit „Figures in Extinction“ beim Gastspiel in Berlin

"Figures in Extinction" von Crystal Pite und Simon McBurney beim Nederlands Dans Theater

Auch Manager tragen Schuld… so zu sehen in „Figures in Extinction“ vom Nederlands Dans Theater beim Gastspiel in Berlin. Foto: Rahi Rezvani

Der Mensch muss sich ändern. Sonst ist bald kein Land mehr in Sicht. Diese Erkenntnis hat nicht nur Greta. Die Choreografin Crystal Pite und der Regisseur Simon McBurney inszenierten mit dem Nederlands Dans Theater (NDT) eine dreiteilige Show mit dem Titel „Figures in Extinction“ („Vom Aussterben bedrohte Figuren“), die dem brandheißen Thema des Weltuntergangs gewidmet ist. Die erste Leitfrage dabei: Wir leben in einem Zeitalter des Aussterbens. Können wir jemals hoffen, dem, was wir verlieren, einen Namen zu geben?“ Damit ist nicht gemeint, dass es nicht genügend lateinische Namen für diverse Spezies und Unterarten gibt. Das Grauen ist gemeint, das es bedeutet, so viel von der Natur besinnungslos zu verlieren. Die zweite Leitfrage schließt daran an: „Was bedeutet es, Zeuge jener Gewalt zu sein, bei der wir sowohl Täter als auch Opfer sind?“ Das zielt ins Schwarze, zieht die Menschheit zur Rechenschaft. Der Mensch ist schließlich nicht nur des Menschen Wolf. Schafft es nun die Tanzkunst, das umzusetzen? Ganz verlässt man sich hier nicht darauf, das Macherduo setzt auf Multimedia. Bühnentechnikballett statt Tanz. Und während des ganzen Abends zieht eine Übertitelung mit saftigen Texten zum Thema über der Bühne vorbei. Zusätzlich wird oft Text eingesprochen. Übersehen und überhören kann man das Thema also nicht. Auch wenn auf der Bühne scheinbar ganz andere alltägliche Vorgänge stattfinden. Aber: Beim Gastspiel in Berlin in der Deutschen Oper beeindruckte gestern vor allem der Mittelteil des Abends, der wohl größtenteils von Simon McBurney stammt. Eine wahre Bilderflut zeigt darin das irre Sein wie auch das totale Irrewerden der Menschheit durch ihre eigene Zerstörungswut.

Tatsächlich ist das Thema in der Kunst ja nicht ganz neu. Die Ängste vorm Weltuntergang – in der Bibel unter „Apokalypse“ zu finden – sind so alt wie die Menschheit, die, seit sie sich Religionen erschuf, das absolut finale Ende fürchtet. Seit es Atomwaffen gibt, erhielt diese Furcht konkrete wissenschaftliche Unterfütterung, und seit man weiß, dass der Mensch die Natur und ihre Ressourcen so nachhaltig zerstört, dass sie sich nicht mehr von allein regenerieren wird, ist die Angst vor einem fürchterlich zähen „Aus“ allgegenwärtig.

Vier Jahre dauerte die Entstehung von „Figures in Extinction“ insgesamt, als Arbeit fürs NDT in Kooperation mit McBurneys Theatergruppe Complicité, die er 1983 in London gründete. Man sieht, dass hier die Fördergeldmaschine der Entwicklung der Kunst etwas hinterherhinkte. 2022 wurde der erste Teil des Weltuntergangszyklus (mit dem Beinamen „the list“) beim NDT in Den Haag in den Niederlanden uraufgeführt – und bald preisgekrönt. Dann folgte erst 2024 der zweite Teil („but then you come to the humans“) und schließlich das „requiem“, der längste und dritte Teil, der 2025 in Großbritannien uraufgeführt wurde.

Mit zwei Pausen von jeweils 25 Minuten zeigt das Gastspiel des NDT als Gast vom Staatsballett Berlin nun die ganze Trilogie. Jeder Teil für sich wäre allerdings auch zu kurz für einen großen Abend. Die ausgiebigen Pausen kann man – außer mit den obligatorischen Toilettengängen – mit dem Flanieren im Haus oder outdoor sowie mit dem Genuss von Sekt oder Selters bei sommerlichen Temperaturen gut füllen.

Der erste Teil des Abends trägt Trauer. Man beklagt den Verlust von Flora und Fauna durch die teils fragwürdigen technischen Errungenschaften der Menschheit. Krieg kommt allerdings nicht darin vor, und Windräder, die Vögel zerschreddern und Insektenschwärme vernichten, gibt es hier auch nicht, das wäre wohl zu kontrovers.

Aber: 22 Tänzerinnen und Tänzer zeigen zu synthetischer Musik von Owen Belton zunächst eine moderne Version der Schöpfungsgeschichte, die aus dem Off auch vorgelesen wird.

Das Solo eines Mannes mit Steinbockhörnern an den so verlängerten Armen illustriert die Utopie von der Symbiose Mensch und Tier. Harmonie prägt diesen Tanz. Kleine Vögel, von Tänzern dargestellt, bringen die Leichtigkeit dazu. Eine weitere Gruppe steht dann in einer kurzen Sequenz für die Gletscher, die kurz vorm Abschmelzen stehen. Im Hintergrund leuchtet apokalyptisches Feuerlicht.

Der Text weist die Schuld den Politikern, den Managern und auch den Wissenschaftlern zu. Die Rüstungsindustrie ist implizit mitgemeint. Sie ist für Vieles, was uns zivil vorkommt, die treibende Kraft. Crystal Pite und Simon McBurney recherchierten allerdings mehr in die Breite als in die Tiefe.

Die Bilder bedienen dann sinnlich den Common Sense. Überdimensionale Hasen als eine Art Cheerleader mit Revue-Tanz stehen für den Vergnügungszirkus, der ungerührt weiter läuft. Dann gibt es einen Bezug zur Tanzgeschichte mit Kostümen à la „Der grüne Tisch“ von Kurt Joos (1923). Kriegsplanung – so etwas steht halt auch oft hinter der Abholzung.

Orchideen stehen dann für das normale Naturwesen, für das blühende Detail. Mit all seiner Schönheit. Kontraste prägen den Abend.

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Doch ein Mann, der unter einem Scheinwerfer regelrecht gegrillt wird, ist ein Opfer. Ein verrätseltes Bild. Die Reichen nähren sich von den Armen, vielleicht zielt es darauf ab.

Auch Doping kommt in einer Szene vor, aber auch ein Dinosaurierskelett. Wo sind die Zusammenhänge? Man muss es sich selbst zusammenreimen.

Und in einem Film oberhalb der Bühne werden Spezies eingeblendet, die aufgrund des Klimawandels ausgestorben sind, bis hin zur Wandertaube.

Schließlich flattern wieder die Vögel, wie am Anfang, und der auch von einer Kinderstimme eingesprochene Text sucht und findet sie. Noch sind die Gefiederten unsere Hoffnung, soweit die erste Collage dieses durchaus wild zu nennenden Abend.

Tänzerisch gibt es gar nichts zu meckern, dennoch kann – wenn man denn schon vergleichen will – das Staatsballett Berlin hier locker mithalten.

Man denkt etwas wehmütig an „Erde“ von Nacho Duato, das 2017 mit dem Staatsballett Berlin kreiert und uraufgeführt wurde. Die Kostüme von Beate Borrmann vereinten Naturelemente mit Naturzerstörern wie der Ölpest – und die Choreografie rüttelte trotz oder wegen ihrer Selbstverpflichtung zur Ästhetik an.

In gewisser Weise aber schließt die Arbeit von Crystal Pite und Simon McBurney daran an. Tanz ist dennoch nicht das wichtigste Ausdrucksmittel hier. Theatrale Inszenierung wäre der treffendere Begriff.

"Figures in Extinction" von Crystal Pite und Simon McBurney beim Nederlands Dans Theater

Zurückgeworfen auf das rein Menschliche: Das ist die Essenz vom apokalyptischen Abend „Figures in Exstinction“ vom Nederlands Dans Theater. Foto: Rahi Rezvani

Im zweiten Teil geht es ums zersplitterte Seelenheil in der modernen Welt. Benjamin Grant kreierte den Sound, Klassik von Debussy und Schostakowitsch, Bach und Frahm, Schnittke und Perkins ist eingestreut. Owen Belton schuf ebenfalls musikalische Passagen.

19 Tänzerinnen und Tänzer stehen für eine Welt, die in sich zerrissen ist und die Menschen vor lauter Hektik und Geldgier nicht mehr zu sich kommen lässt. Zur Natur schon gar nicht mehr…

Der Wahnsinn des Menschen wird beschrieben, der seine Empathie (angesiedelt in der rechten Gehirnhälfte) vernachlässigt und seine so genannte Vernunft (aus der linken Gehirnhälfte) obsiegen lässt. Gerade die Verbindung beider Hirnhälften macht indes aus dem Willen zur Menschlichkeit ein handlungsfähiges Subjekt.

Grau in Grau kommt die Welt hier einher, wenn eine Kinderstimme, als Sinnbild des Unberührten, nach dem Unschuldigen fragt.

Menschen in Managerkluft benehmen sich dagegen wie ausgehöhlt, wie lebende Leichen. Sie bräuchten dringend einen Yogakurs oder etwas Ballettunterricht.

Verloren haben sie ihre innere Lebendigkeit, ihre innere Natur.

Es gibt wenig Tanz hier zu sehen, aber starke Bilder!

So überschütten Pite und McBurney uns mit einer regelrechten Bilderflut, die verdeutlicht, was der Mensch alles anrichten kann. Zerstörungswut als trauriges Kennzeichen des homo sapiens.

Spiegelneuronen – dieses Schlagwort aus der Neurowissenschaft wird umgesetzt mit einer prismenartigen Kaleidoskopansicht der Bühne, die das Bühnengeschehen solchermaßen vervielfältigt. Die Thesen des Psychiaters Iain McGilchrist waren hier anregend: Er kritisiert die Bevorzugung der linken Hirnhälfte.

Das Festhalten am Kleinkram wird versinnbildlicht mit einem Tänzer, der sich mit dem unaufhörlichen Anspitzen eines Bleistifts in seiner Lebensschleife befindet.

Die Zusammenstellung der Tänzerinnen und Tänzer ist dabei bewusst divers, nicht nur, was Hautfarben betrifft, sondern auch die Statur und Größe betreffend.

Am Ende illustriert ein beinahe neoklassischer Pas de deux die Utopie der Liebe zwischen Mann und Frau… allerdings wird diese eingeleitet vom Tod eines Durchgeknallten unter Elektroschocks. Ist die Liebe nur noch als Traum eines Hirntoten möglich? Der Abend lässt viel offen, ganz bewusst, und lässt somit Raum für eigene Interpretation.

Der dritte Teil, das „requiem“, bringt wie eine Synthese alles noch einmal auf den Punkt.

Wieder findet sich klassische Musik, dieses Mal von Mozart (sein Lacrimosa) und anderen, eingefüttert in ein Soundsystem von Benjamin Grant und Owen Belton.

Die Lichtshow im Hintergrund erinnert an „Angels‘ Atlas“ von Crystal Pite, hier macht sie aber viel mehr Sinn. Moderner Feuerzauber mit extensiven, grellen Lichtschockmomenten passt natürlich zum Thema des Weltuntergangs.

Es sind wieder 22 Darstellende, die hier in 45 Minuten den bitteren letzten Weg der Menschheit markieren. Einige stellen sich zu Beginn vor, nicht nur mit Namen, sondern auch mit einer Erinnerung zu den Ahnen. Und eine bestimmte Geste steht für eine bestimmte Persönlichkeit.

„Die Toten leben immer in uns“, ein solcher Karma-Gedanke spielt hier eine große Rolle.

Ein schwarzer Würfel kommt von oben auf die Bühne, wird durchscheinend, und die Tänzer können durch seine Wände hinein- und hinausgehen. Es ist wie ein Wechsel zwischen den Welten, zwischen dem Hier und Jetzt und dem Jenseits der Vergangenheit.

"Figures in Extinction" von Crystal Pite und Simon McBurney beim Nederlands Dans Theater

Im dritten Teil des Abends kommt ein Krankenbett mit einer Sterbenden auf die Bühne. Der moderne Tod ist nicht wenig erschreckend… Foto vom Nederlands Dans Theater: Rahi Rezvani

Schattenspiele. Doch plötzlich steht ein Krankenbett mit einer sterbenden Person da. Zwei roboterähnliche, skurrile Pfleger bemühen sich um sie – und reden über den Personalmangel.

Die Tochter der Sterbenden und ihr Mann streiten alsbald, ob der Tod schon eingetreten sei oder nicht. Der Tod zeigt eben immer die makabre Seite der Menschheit.

Fünf Phasen der Verwesung werden dann vorgestellt. Bis nur noch die Knochen bleiben.

Leider wird der Terminus „Knochen und Bindegewebe“ benutzt – wissenschaftlich ist das Quatsch. Das Bindegewebe verwest zusammen mit Fleisch und Organen zuerst, dann kommen die Haare und die Nägel, dann bleiben die Knochen übrig (für Moorleichen gelten konservierende Umstände).

Man muss den Besuchern einer Tanzshow da nichts Falsches erzählen. Leute, recherchiert mal besser, denn falsche Infos wirken veräppelnd!

Leben und Sterben rücken hier jedenfalls als Teil der Natur zusammen…

Auch eine Szene mit Leichentuch – mit biblischem Anklang an die Szene der Abnahme von Jesu Leib vom Kreuz – wird als Teil des Kreislaufs gezeigt. Einzelne sterben, ein Leichentuch verbindet sie dabei. So wird der Tod individualisiert.

Das Solo eines schwarzen Tänzers steht am Ende. In abstrakten Bewegungen, geschmeidig und seidenweich, ist er allein mit der Galaxie hinter sich. Die menschliche Energie als Teil des Kosmos. Aber ist er noch Mensch oder schon Geist?

Die Hoffnung hier in jedem Fall: die menschliche feinstoffliche Ebene, die jeden Untergang überlebt. Das Kollektiv taucht kurz noch einmal auf, die Protagonisten nennen ihre Namen, ähnlich wie zu Beginn, mit viel Hall, als seien es Echoklänge aus dem Jenseits.

Viele Bilder, viele Gedanken werden hier eingegeben – und dann liegt es an jedem selbst, etwas damit anzufangen.

Lösungsvorschläge, wie sich die Menschheit künftig besser verhalten sollte, gibt der Abend jedoch nicht. Das ist sein großes Manko.
Gisela Sonnenburg / Anonymous

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