Berlin für alle! Das Staatsballett Berlin bietet online eine kleine, aber feine Gala: als locker-flockige Sommerkost und als Vorgeschmack auf die neue Saison

"From Berlin with Love" digital

Eleganz in Vollendung durch Bewegung pur: Polina Semionova in „Cinque“ von Mauro Bigonzetti in der digitalen Gala „From Berlin with Love“. Faksimile von YouTube: Gisela Sonnenburg

From Berlin with Love“: Der Titel der Berliner Ballett-Galas, die von nun an die Herzen der Fans wärmen werden, ist programmatisch und klingt wie eine liebevolle Parole. Bevor in der kommenden Saison ab dem 27. August 20 damit live in Solo- und Kleingruppenauftritten vor Publikum getanzt wird, läutet nun eine digitale Gala diese neue Ära ein. Seit heute, 19 Uhr, ist sie bis auf weiteres zu sehen: auf dem youtube-Kanal vom Staatsballett Berlin (SBB) zeigt darin zunächst die kommende kommissarische Ballettintendantin Christiane Theobald mit kenntnisreichem Kommentar die Ballettsäle, das Foyer de la Danse und das Auditorium (also den Zuschauersaal), wie sie zur Deutschen Oper Berlin gehören. Während beim Ballett mit gebotenen Abständen fleißig trainiert und geprobt wird, ist das Parkett gespenstisch leer. Wen wundert’s, in diesen harten Corona-Zeiten, die wohl alle Tänzer schon an die Grenze ihrer Leidensfähigkeit brachte. Dann aber geht das künstlerische Programm los, hoffnungsvollerweise, aber mit realistischem Kamerablick in den leeren Zuschauersaal. Auch die Bühne ist nur spartanisch ausgeleuchtet, dennoch gibt es hier lobenswerterweise Live-Musik, und die Tänzerinnen und Tänzer tragen Kostüme wie bei einer „echten“ Gala. Yeah! Das eigentliche Ballettgefühl stellt sich bei dieser Kombination flugs wieder ein, und die Mischung aus Klassik und Zeitgenössischem, die einen hier erwartet, steigert die Neugierde auf das jeweils nächste Stück. Also bitte tief Luft holen, den Sitz der Frisur überprüfen – und dann alle Aufmerksamkeit auf das Bühnenschwarz des Bildschirms richten. Der Beginn ist das schon mal unbedingt wert, er ist nobel, empfindsam, neoklassisch: Aurora Dickie schwebt in ihrem Solo aus „Emeralds“ („Smaragde“) aus den „Jewels“ („Juwelen“) von George Balanchine nur so dahin, sie hebt die Arme auf anmutigste Art, wirft die Beine wie schwerelos empor, dreht sich, trippelt, bilden stilvolle Posen – und schaut mit passend sehnsüchtigem Blick auf das, was kommen mag. Donald Runnicles (Generalmusikdirektor) begleitet sie, sorgsam intonierend, am Piano mit der wie von weit rufenden Musik von Gabriel Fauré. Ach! Bitte mehr davon!

"From Berlin with Love" digital

Ksenia Ovsyanick in der Improvisation „Still ready“, zu sehen online in der Gala „From Berlin with Love“ mit dem Staatsballett Berlin. Überraschend! Faksimile von YouTube: Gisela Sonnenburg

Doch es folgt ein harter Kontrast: Ross Martinson spricht und tanzt zu seinem eigenen live gesprochenen Monolog in „The Four“ („Die Vier“), ohne dass man gleich weiß, wer der Choreograf oder die Choreografin ist. Dann ahnt man: Hier stammt alles aus der Hand des jungen Tänzers, auch das Licht und Text. Zu Beginn ist die englische Rede noch gelassen, dann wird sie emotional, regt sich auf, mit ihr die wild zuckende Körpersprache des Tänzers. Elastisch biegt und wippt der Mann, wälzt sich am Boden mit verrenkten Gliedern, dann zuckt er wieder – es ist, als ergehe er sich in einer Art High-Speed-Gymnastik. Sein Außer-Atem-Sein gehört hier unbedingt dazu, sodass er alsbald hechelt und seufzt, bis er sich ganz brav entschuldigt („Sorry!“) und fragt: „Please! Can I leave?“ („Bitte! Darf ich gehen?“) Niemand hat etwas dagegen. Danke für die Mühe!

Dieses kleine Stück Absurdität entbehrt tatsächlich nicht der Komik, und auch die nächste Nummer lässt einen lächeln.

Darin versucht Dinu Tamazlacaru, der mit seinem Tanz ein berühmter Virtuose ist, ein solcher mit der Geige zu werden. Wie bitte? Ja, hier hängt ein Bogen zum Streichen einer Violine aus der Dunkelheit vom Schnürboden herab, senkrecht wie ein Lot, und der Ballerino versucht, an dieses gute Stück heranzukommen. Weil das zunächst nicht klappt, tanzt und springt und pirouettiert er, während dazu die mit dabei stehende Violinistin Elisabeth Heise-Glass in den höchsten Tönen an der Geige brilliert. Schließlich denkt der Tänzer, inspiriert von den heiligen Klängen, nach, er streckt sich – und erreicht endlich das von ihm begehrte Objekt.

"From Berlin with Love" digital

Dinu Tamazlacaru brilliert in „C/24“ von Mauro de Candia zu Klängen von Paganini! Faksimile von YouTube („From Berlin with Love“) auf dem Kanal vom Staatsballett Berlin: Gisela Sonnenburg

Jetzt tanzt er damit, freudig und wie getrieben, dazu Luftvioline spielend. Am Ende überfordert ihn die Doppelbelastung aber, und er liegt alsbald dekorativ flach am Boden – als wäre ein poetischer Traum von der Verschmelzung der Künste vorbei. Mauro de Candia, der einer der neueren und eher noch heimlich gehandelten Kandidaten für das Amt des Ballettintendanten ab 2021 ist, hat dieses Stückchen Witz namens „C/24“ choreografiert, die Musik stammt – hörbar – von Paganini. Man freut sich schon darauf, diese Petitesse live zu sehen – unter dem Eindruck des Publikums wird sich hier sicher eine enorme Spannung aufbauen.

Spannung?!

Ksenia Ovsyanick und Johny MacMillan demonstrieren einen ungewöhnlichen Paartanz, auf das man extrem gespannt sein sollte, nämlich mutigerweise eine filmisch zusammengeschnittene Improvisation, die sich unter dem Titel „Still ready“ („Immer noch bereit“) unter anderem an der Musik von Bach reibt. Es fließen hierin die Körper von moderner Übung zu Übung, ohne, dass mehr als momentane Befindlichkeit ausgedrückt würde. Aber die Art, wie die beiden Individualisten hier zeitgleich spintisieren, ist durchaus originell. Ein dritter Tänzer vollführt da zudem auch mal Sprünge durch die Parkettreihen, und insgesamt wähnt man sich in einem Labor für experimentellen Tanz. Für ein paar Minuten gut erträglich!

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Dem folgt ein klassischer tänzerischer Leckerbissen: Daniil Simkin mit einer bewegend melancholischen Interpretation des Siegfried-Solos aus dem ersten Akt von „Schwanensee“, am Piano begleitet von Alina Pronina. Die Balancen und Drehungen kommen präzise und stimmungsvoll, und ganz in Schwarz gekleidet, wirkt Simkin mit der klassischen Choreo aus dem ursprünglichen Kontext abstrahiert und tatsächlich irgendwie modern. Sehr toll!

Nur sollte der Ballerino sich dabei nicht versehentlich deutlich die trockenen Lippen lecken. Aber dass ihm diese kleine Geste unterläuft, zeigt, wie schwierig es sogar für Profi-Tänzer wie Simkin ist, die eher einer Probe als veritablen Filmaufnahmen ähnelnde Situation als Kunstdarbietung ernst zu nehmen.

Polina Semionova hingegen ist der absolute Superprofi hier, sie tanzt, als wäre es vor vollem Saal oder auch live im Fernsehen. Jetzt prickelt diese digitale Gala, jetzt kommt viel mehr Atmosphäre auf als das Gefühl des kühl distanzierten Absolvierens.

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Polina Semionova in „Cinque“ von Bigonzetti beim Staatsballett Berlin in „From Berlin with Love“ – wow! Faksimile von YouTube: Gisela Sonnenburg

Es ist ein Genuss, Polinas spannungsgeladenen Gesten zu sehen, und auch wenn ihr Auftritt in „Cinque“ („Fünf“) von Mauro Bigonzetti als modern-masochistisch leidendes schwarzes Schwänchen zu spanischer Falsett-Arie (ein barockes „Lacrimosa“ von Vivaldi) keine fertige Choreo zu sein scheint, sondern der Steinbruch eines immerhin hochbegabten schöpferischen Geistes.

Auch das Verbeugen von La Semionova– das die Künstlerinnen und Künstler hier sehr schön zelebrieren dürfen – verströmt viel Fluidum einer haute couture des Balletts, die sich niemals aus der Ruhe und Selbsthoheit bringen lässt. Bravo!

Wenn dann auch noch Marian Walter den Siegfried im Mondenschein aus „Schwanensee“ tanzt, wissen Ballettfans allerdings Bescheid, was die Stunde schlägt: Es muss bald die schönste Geisterstunde erreicht sein.

Lew Iwanow schuf nach den Vorgaben von Marius Petipa die Choreografie, die Musik kann natürlich nur von Peter I. Tschaikowsky stammen.

Wir hören und sehen: Weltniveau der Spitzenklasse!

"From Berlin with Love" digital

Bleibt auch im Gedächtnis: Aurora Dickie in „Emeralds“ / „Jewels“ von George Balanchine, schwebend und zart. So zu sehen in „From Berlin with Love“ online mit dem Staatsballett Berlin. Faksimile von Youtube: Gisela Sonnenburg

Denn auch zum Klavierauszug (wieder hervorragend gefühlvoll am Piano: Alina Pronina) kommt das Flair des seine Gattin vorzüglich anschmachtenden Ballerinos bestens zum Tragen – und die geschmeidig-niedliche Iana Salenko ist einmal mehr die spirituelle, mysteriöse, tragisch verzauberte Schwänin, die sich in den ebenfalls in Weiß gewandeten, ihr gebannt zugeneigten Irdischen verliebt. Schlichtweg ein himmlischer Anblick!

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Marian Walter und Iana Salenko vom Staatsballett Berlin in „Schwanensee“ in der leeren Deutschen Oper Berlin – verzaubernd! Faksimile von YouTube („From Berlin with Love“): Gisela Sonnenburg

Die klassischen Pas-de-deux-Griffe und Posen, die Attitüden, Arabesken, Penchés der Dame verzaubern wiederum fraglos die Zuschauer, auch und gerade unter diesen Umständen einer Online-Show. Immerhin hat das Medium Video seine eigenen Qualitäten und kann mit Nahaufnahmen und kristallklar sehendem Kameraauge ein ganz bestimmtes Bild genauestens wiedergeben.

Die Kombination aus ekstatisch entrücktem Gefühl der Akteure und unbestechlich deutlicher Präzision entwickelt hier einen faszinierende Sog. Was kann man mehr verlangen?! Naja, noch mehr davon eben…

Das muss jetzt allerdings für die Einstimmung auf dieses neue Ballettformat im Zeichen der Corona-Schutzmaßnahmen genügen, es ist ein immerhin knapp einstündiger paradiesischer Appetizer auf die großen neuen Gala-Events, die im Spätsommer live auf der Bühne mit dem Staatsballett Berlin folgen werden.

Wir sagen einstweilen „Danke“ zum SBB und zu seinen an diesem Projekt beteiligten Leitungskräften und Mitarbeitern. Schön zu sehen, dass diese Truppe auf die scheidende Ballettintendanz, bestehend aus Johannes Öhman und Sasha Waltz, keineswegs angewiesen ist. Also bis bald!
Gisela Sonnenburg

From Berlin with Love / youtube

www.staatsballett-berlin.de

 

 

 

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