Blumenregen im Ballett gegen Wutbürger vorm Reichstag Mikhail Kaniskin nahm mit einer furiosen Gala seinen Abschied von der Bühne beim Staatsballett Berlin – während draußen 38.000 Verwirrte versuchten, den Reichstag zu stürmen

Abschieds-Gala für Mikhail Kaniskin

Abschied von der Bühne: Primaballerino Mikhail Kaniskin gestern beim Bühnenabschied in der Deutschen Oper Berlin. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Berlin. Es regnet Blumen. Auf der Bühne der Deutschen Oper Berlin (DOB) steht ein Mann, der dreizehn Jahre lang den Touch vom Bolschoi Ballett in die Hauptstadt trug. Mikhail Kaniskin, bis gestern Erster Solist beim Staatsballett Berlin (SBB), nahm mit einer Extra-Ausgabe des Gala-Formats „From Berlin with Love I“ im Alter von 42 Jahren seinen Bühnenabschied. Wie an der Pariser Opéra werden in Berlin die ersten Tanzkräfte mit Erreichen dieser Altersgrenze von ihrer Position entbunden. Man geht davon aus, dass die Sprünge dann nicht mehr so elastisch sind wie gewünscht – ob diese Regelung noch zeitgemäß ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Denn mit Starballerinen wie Alessandra Ferri oder Silvia Azzoni in Hamburg gibt es durchaus Ausnahmen, in denen Tänzerinnen mit Mitte 40 und darüber hinaus noch Höchstleistungen zeigen, wenn auch nicht in technisch-akrobatischer Hinsicht. In Berlin jedoch ist es für jetzt entschieden: Das Publikum ehrt Mikhail „Mischa“ Kaniskin zur Verabschiedung mit Standing Ovations und jubelndem Beifall. Ein Tänzerleben geht vorbei, Kaniskins zweites Leben wird beginnen. Rückhalt geben ihm die Kolleginnen und Kollegen, die ein letztes Mal mit ihm als Hauptperson auf der Bühne stehen: Jede Menge Hochkarat in Gestalt von Künstlerinnen und Künstlern wie Elisa Carrillo Cabrera (Kaniskins Gattin), Iana Salenko, Polina Semionova, Ksenia Ovsyanick und Yolanda Correa vom SBB, Nicoletta Manni aus Mailand und der unvergleichlichen Lucia Lacarra, die erstmals mit ihrem neuen Partner Matthew Golding in Berlin auftrat. Aber auch Dinu Tamazlacaru und Daniil Simkin vom SBB, Marcelo Gomes aus Dresden sowie Jason Reilly und Hyo-Jung Kang vom Stuttgarter Ballett – mit dem Kaniskin seine ersten Schritte als Tanzprofi bis zum Ersten Solisten verbindet – und natürlich weitere Kollegen vom SBB sind da und spenden würdevoll anerkennenden Applaus. Zuvor glitzerte zwei Stunden lang das Hier und Heute des Balletts, in klassischer, neoklassischer, moderner und avantgardistischer Ausprägung. Wow!

Aber die Stadt hat auch noch eine andere Seite.

Berlin. Während in der Deutschen Oper ein glanzvoller Ballettabend zelebriert wird, versuchen draußen 38.000 verwirrte Wutbürger den Reichstag zu stürmen. In der Oper herrschen äußerste Vorsichtsmaßnahmen, doch auf offener Straße wird verlangt, dass die Kanzlerin wegen der verordneten Schutzregeln zurücktreten solle. Brüllende Massen wollen Freiheit für alles, ohne Rücksicht auf Verluste. Ein Spaziergang durch die Innenstadt könnte gefährlich werden, zumindest im Sinne der Infektion. Zum Glück ist Dummheit nicht ansteckend – aber das kulturelle Zeichen, dass das Staatsballett Berlin mit seiner furiosen, auch mit Avantgarde dunkel glitzernden Show bietet, scheint umso richtiger und wichtiger zu sein, wenn man sich die Realität der meuternden Menge draußen besieht. Wissen diese Menschen noch, was zählt im Leben und im Miteinander?

Das Staatsballett Berlin hat eine Antwort darauf.

Nirgends ist man derzeit – außer in den eigenen vier Wänden – sicherer vor dem Corona-Virus als in einem weitläufig leeren Opernhaus. Man trägt eine Mund-Nasen-Bedeckung, bis man auf seinem Platz ist, und dann ist man von einer Insel aus leeren Sitzen umgeben. Wer soll einen hier anstecken? Der Mensch, der höflich wartet, bis man aufgestanden ist und sich gegebenenfalls wieder bedeckt hat, um ihn vorbei zu lassen auf seinen Sitzplatz in derselben Reihe? Diese Wahrscheinlichkeit liegt bei unter 0,1 Prozent. Da ist das allgemeine Lebensrisiko, von einem Auto überfahren zu werden, während man an der Fußgängerampel wartet, noch höher.

Trotzdem haben Menschen Angst, ins Theater oder in die Oper zu kommen – wohl auch, weil klassische Kulturgänger eher ängstliche Charaktere haben.

Abschieds-Gala für Mikhail Kaniskin

Mikhail „Mischa“ Kaniskin, erschüttert nicht von den Wutbürgern, sondern vor Rührung beim letzten Applaus für ihn als Primoballerino beim Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Andere Bevölkerungsgruppen sind da weniger zimperlich.

In Berlin ist es erlaubt, Privatfeiern mit bis zu 500 Menschen zu veranstalten. Das nenne ich grob fahrlässig. Denn beim Feiern – zumal mit Alkohol – passiert genau das, was infektiös ist: Die Leute prusten und spucken sich vor lauter Ausgelassenheit im Gespräch oder bei dem, was sie dafür halten, an, und der Abstand – der wichtigste Garant im Kampf gegen den Virus – geht programmatisch flöten.

Im Opernhaus hingegen benimmt sich das Publikum schon aus Respekt vor der Kunst und dem luxuriösen Ort brav und gesittet. Und Wutbürger bleiben schon aus geistiger Bequemlichkeit solchen Bildungsorten fern – praktischerweise für uns Kulturliebhaberinnen und Kulturliebhaber, denn so gibt es trotz reduzierten Kartenkontingenten reelle Chancen, mit dabei zu sein.

Der Versuch lohnt sich unbedingt, zumal die Situation die Künstlerinnen und Künstler zwingt, ganz besonders auf ihr Publikum zu achten und sich ihrer Kunstausübung hinzugeben.Es ist ein einmaliges Gefühl des Zusammenhaltens, das jetzt im Opernhaus entsteht.

Und sowohl die Macherinnen und Macher als auch die Zuschauerinnen und Zuschauer können sich dessen bewusst sein, dass sie durch ihr Handeln die Fahne der Zivilisation und Kunstkultur in die Höhe halten.

Angesichts der Umstände ist das keine Selbstverständlichkeit. Umso öfter sollte man sich die Gelegenheit gönnen, die historisch unikate Situation wahrzunehmen.

Am Samstagabend begann genau das mit einem Gipfeltreffen romantisch gestimmter Primaballerinen: Der „Pas de Quatre“ eröffnet, wie schon an den beiden Abenden zuvor, die Gala. Näheres hierzu bitte im Beitrag „Glücksfunkelnder Neubeginn“ hier im Ballett-Journal nachlesen.

Dass im Publikum bei Mischas Abschied viele legendäre Kennerinnen und Kenner versammelt waren, machte die Vorstellung zusätzlich zu einer Besonderheit. Ich saß zum Beispiel – mit meterlangem Abstand – zwischen der wunderbaren Marcia Haydée und dem Stuttgarter Ballettmeister Krysztof Nowogrodszki, und schräg vor mir thronte die stolze Birgit Keil. Das war geballte Ballettpower, die man mit dem Stuttgarter Ballett der John-Cranko-Ära verbindet. Ob es am Ende daran lag, dass mir die Vorstellung so gut gefiel?

Nein, dazu bin ich doch zu unbestechlich, das darf ich von mir sagen.

Umso mehr sollte mein Lob wiegen, und das gebührt in der Tat nicht nur den einzelnen Darbietungen, sondern auch der gesamten Organisation.

Zentral im Programm stand dabei der Pas de deux, der für mich alles überstrahlte: „Finding Light“ von Edwaard Liang zu Musik von Antonio Vivaldi, getanzt von der Ausnahme-Primaballerina Lucia Lacarra mit dem Brad Pitt des Balletts, also dem edelmütigen Matthew Golding.

Hand in Hand kommt das Paar aus dem Dunkel des Bühnenhorizonts, findet sich wie ein Paar aus einer anderen Welt im Scheinwerferlicht wieder.

Sanft entspinnt sich ein tänzerischer Dialog, erhaben, voll Liebe, voll Respekt voreinander.

Abschieds-Gala für Mikhail Kaniskin

Lucia Lacarra, die Unvergleichliche, mit Matthew Golding, dem Brad Pitt des Balletts – absolut top in „From Berlin with Love I“ gestern beim Staatsballett Berlin. Foto vom Applaus: Gisela Sonnenburg

Matthew, im wehenden weißen Hemd und einfacher Hose, passt sich dabei der Schönheit und vollkommenen Eleganz seiner Partnerin an. Und Lucia Lacarra schwebt in seinen Armen, wickelt ihren smarten Körper längs und kopfüber um seinen Rücken, pirouettiert und posiert leichthin unter seiner Führung und lässt sich so anmutig und doch sinnlich von ihm begeistern, dass die beiden eine Art Adam und Eva der Gegenwart sein könnten.

Jede Hebung, jede Synchronbewegung – am Boden, im Stehen, beim Lift – gleicht einer meditativen Beantwortung von subtil erahnten Fragen.

Der Titel aber deutet schon an, dass die Grundstimmung die Sehnsucht, die Suche, die Recherche nach der verlorenen Zeit ist.

Das Licht zu finden („Finding the Light“) – eine Lebensaufgabe nicht nur für Paare.

Denn wo ist es wirklich hell, im übertragenen Sinn, und nicht nur mit einigen Volt gut beleuchtet?

Die Wutbürger haben diese Suche erstmal glatt verpasst, vermischen sich mit rechtsextremen Strömungen, ohne es zu merken – und rasen wie Blinde in der Finsternis der Nichterkenntnis.

Lucia Lacarra hingegen ist per se eine Lichtgestalt mit berechtigtem Kultstatus: Ihre Bewegungen sind so ausdrucksstark und harmonisch, so exakt und doch so mit Leben gefüllt, dass man – wie schon beim „Pas de Quatre“ – sich eigentlich ein Da capo, eine Zugabe, wünscht.

Früher war es durchaus üblich, dass das begeisterte Publikum mit einer Wiederholung eines Solos oder Pas de deux beglückt wurde. Vielleicht sollten wir die Corona-Schutzmaßnahmen dahingehend ausdehnen, dass eine Ballettvorstellung auch zehn Minuten länger dauern darf, weil es mittendrin oder hintenan eine Zugabe gibt?

Abschieds-Gala für Mikhail Kaniskin

Jubel für die Superstars: Lucia Lacarra und Matthew Golding auf der Abschiedsgala für Mikhail Kaniskin beim Staatsballett Berlin. Man hätte so gern ein Da capo! Foto vom Applaus: Gisela Sonnenburg

Der Kontakt zwischen Publikum und Bühnenakteuren ist jedenfalls eher intensiver als weniger stark als wenn das Haus voll besetzt wäre. Es entsteht – den räumlichen Abständen zum Trotz – die intime Atmosphäre eines Kammerabends.

Das mag auch an der Musik liegen, die – sofern sie nicht eingespielt wird, sondern live geboten wird – in Minimalbesetzung aufspielt.

Ein solcher Höhepunkt ist „Der sterbende Schwan“ mit Polina Semionova, die dieses Mal – anders als in der „Karneval der Tiere“-Aufführung unter Daniel Barenboim als Videostream aus der Staatsoper Unter den Linden – keinen überlebenden Vogel tanzt, sondern wirklich ein zu Tode angeschossenes Tier, das im Tanz langsam vergeht.

Arne Christian Pelz am Cello – mit auf der Bühne platziert – und Xiaoqiong Huang  am Klavier aus dem Orchestergraben veredeln die Atmosphäre mit genau getimeten Klängen.

Und Polina trippelt so sachte herein, wie es sonst nur ein Vogel vermag, der seine weiten Schwingen langsam absenkt, um lautlos zu landen.

Man kann dieses Stück, das für Anna Pavlova kreiert und von ihr auf Tourneen durch die ganze Welt berühmt gemacht wurde, gar nicht oft genug anschauen.

Abschieds-Gala für Mikhail Kaniskin

Ganz der Schwan von Welt: Polina Semionova nach ihrem ergreifenden „Sterbenden Schwan“ auf der Abschiedsgala für Mikhail Kaniskin beim Staatsballett Berlin. Foto vom Applaus: Gisela Sonnenburg

Die Thematik der sterbenden Schönheit mag im realen Leben vor allem traurig anmuten. In der Kunst aber verschmilzt in ihr alles, was es an vitalen Gegensätzen gibt.

Leidenschaft und Hingabe, Disziplin und Selbstvergessenheit – wenn Polina die Arme von oben langsam senkt, scheint zugleich die Welt sich auf den Abschied vorzubereiten.

Abschieds-Gala für Mikhail Kaniskin

Eine vollendete Verbeugung von Polina Semionova bei der Abschiedsgala für Mikhail Kaniskin (mit dem sie übrigens oftmals den „Schwanensee“ getanzt hat). Foto vom Applaus: Gisela Sonnenburg

In dieser Interpretation weiß der Schwan Semionova von Beginn an, dass es zuende gehen wird. Der ganze Impetus ist tragisch – und das hoffnungsvolle Aufbäumen, das sich aus der Choreografie ergibt, dient lediglich der Erleichterung durch ein Hoffen auf Erlösung.

So überwältigend und einmalig Polina Semionova den Schwanentod zeigt, so sehr enttäuscht ein anderer Weltstar des Abends.

Marcelo Gomes hätte uns einen großen Gefallen getan, wenn er ein Stück seines Repertoires gezeigt hätte, das er beherrscht und worin er auf die Qualität der Choreografie pochen kann.

Er war beim American Ballet Theatre ein vorzüglich naiv-arroganter Armand in der „Kameliendame“ von John Neumeier, auch die anspruchsvolle Lässigkeit jüngerer Choreografien liegt ihm absolut.

Statt dessen aber zeigt er mit „Paganini“ ein eigenes Stück, das nicht zu verwechseln ist mit dem witzig-spritzigen Solo „C/24“ von Mauro de Candia zu Paganini-Musik, welches Dinu Tamazlacaru auf YouTube in der digitalen Ausgabe von „From Berlin with Love“ tanzt (und welches sehr zu empfehlen ist).

Gomes hingegen ist kein Choreograf, das steht jetzt fest.

Seine Violinistin Elisabeth Heise-Glass lässt er in Pumps über die Bühne staksen, während er selbst – nach einem ausführlichen öffentlichen Stretching – sie umkreist: mit hoch und runter wirbelnden Armen und launig hingepfefferten Chainés. Dann wieder springt er auf dem Platz, biegt den Oberkörper vor, stellt sich hin, als fiele ihm gerade nichts ein.

Ab und an beliebt der Weltstar zu scherzen, indem er bis auf einen Fuß mit Unterschenkel in der Kulisse verschwindet.

Oder er sucht mal verstärkt den Augenkontakt zur Musikerin – allerdings, ohne einen Flirt oder sonst eine nähere Beziehungsaufnahme daraus zu machen.

Abschieds-Gala für Mikhail Kaniskin

Marcelo Gomes beim höflichen Applaus für sein Stück „Paganini“ gestern auf der Gala in der DOB – er sollte aber lieber Rollen interpretieren, als Choreograf ist er nicht so überzeugend wie aus Tänzer. Foto vom Applaus: Gisela Sonnenburg

Alles bleibt vage, Tanz ist hier nur ein Mittel zum Zweck der Selbstdarstellung. Man kann ein Gähnen kaum unterdrücken.

Schade, wenn ein so begabter und durchaus ausstrahlungsstarker Ballerino sich so blamiert.

Man kann es ja nicht oft genug sagen: Tänzerische Gymnastik, wie Gomes sie bietet, hat mit Choreografie nichts zu tun!

Eigentlich ist es traurig, dass jemand wie Marcelo Gomes, der nicht nur Startänzer, sondern neuerdings auch Ballettmeister beim Semperoper Ballett in Dresden ist, das nicht weiß. Andererseits ist es nicht selten, dass Tänzern und auch Ballettmeistern der Instinkt für choreografische Qualität regelrecht aberzogen wurde – schließlich werden sie in ihrer Ausbildung und auch im Berufsleben dahin gebracht, für jedes Stück, für das sie besetzt sind, ihr Bestes zu geben.

Dabei gibt es gleich zwei Beispiele gelungener Uraufführungen im „Love“-Gala-Programm beim Staatsballett Berlin: nämlich den Tanz mit dem Scheinwerfer von Alexander Abdukarimov („Look out from the Silence“) und – nur an den beiden Abenden zuvor gezeigt – Yolanda Correa in „Du bist die Ruh‘“ von Andreas Heise (nachzulesen im Beitrag „Glücksfunkelnder Neubeginn“).

Abschieds-Gala für Mikhail Kaniskin

Alexander Abdukarimov nach seiner Kreation „Look out from the Silence“ beim Staatsballett Berlin gestern Abend: zweifelsohne ein choreografisches Talent. Foto vom Applaus: Gisela Sonnenburg

Abdukarimov, der schon seit Jahren choreografiert und dabei hart an sich arbeitet, kann nun die Früchte seines Fleißes und auch seiner Bereitschaft, sich selbst zu hinterfragen, einfahren.

Das Publikum liebt sein Stück zurecht: Das ernste Thema der Einsamkeit und Vereinzelung paart sich darin mit formell höchst originellen Mitteln.

Vom großen Zuspruch am Samstag schien er selbst überrascht – immerhin wirkt sein zeitgenössisches Solo inmitten der Klassik-Tycoons, die hier auch zu sehen waren, nachgerade exotisch.

Aber Abwechslung gehört zur Kunst, gerade zu einer Gala – und darum war es entzückend, gleich zwei leicht parodistische Stücke völlig unterschiedlicher Herkunft zu sehen.

Zum Einen die „Variations for Four“ von Anton Dolin, die bereits in der Premierenrezension „Glücksfunkelnder Neuanfang“ ausführlich behandelt werden.

"From Berlin with Love I"

Cameron Hunter (links hinten) und Daniil Simkin (rechts vorne) in Anton Dolins „Variations for Four“ – einem witzigen Stück für vier Herren. Voilà, das ist eine Arabeske! Zu sehen auf der Gala „From Berlin with Love I“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Carlos Quezada

Cameron Hunter hat sich hier in drei Vorstellungen spürbar verbessert, während Konstantin  Lorenz bei der Landung nach seinen Tours en l’air etwas macht, das man sonst nie so sieht: Es wirkt, als trete der Ballerino sich selbst auf die Füße. Nicht wirklich schön.

Dafür brillieren Dinu Tamazlacaru und Daniil Simkin aufs Schönste in diesem Herren-Quartett, das Raum für Soli ebenso hat wie für zünftige männliche Gemeinsamkeit.

Die Ironie der Sache liegt darin, dass es sich um tanzende Prinzen handelt, die vor einer Weltall-Kulisse höchst diszipliniert klassisch – mit einem Hauch von Schalk – auftreten.

„Star Wars“ und andere Sci-Fi-Blockbuster kommen einem in den Sinn – aber es ergibt sich ebenso die Frage, ob die Gegenwart nicht an sich schon viel futuristischer ist, als man es gemeinhin wahrhaben möchte.

Hätte man letztes Jahr um diese Zeit vermutet, dass man ohne Maske oder Visier kaum noch ausgehen kann? Und hätte man es für möglich gehalten, dass ein aufgebrachter Mob, aus dem ganzen Bundesgebiet dafür angereist, dagegen demonstriert?

Das Bekenntnis zu Zivilisation und Rücksicht – wie sie auch und gerade im Ballett üblich und vonnöten sind – steht in der Gesellschaft derzeit immer wieder auf dem Prüfstand.

Abschieds-Gala für Mikhail Kaniskin

Dinu Tamazlacaru nach den „Variations for Four“ von Anton Dolin in der Gala „With Berlin From Love I“ beim Staatsballett Berlin in der DOB. Top! Foto vom Applaus: Gisela Sonnenburg

Die zweite parodistische Arbeit des Abends kommt vom Stuttgarter Ballett: Hyo-Jung Kang und Jason Reilly tanzen die aberwitzig-virtuose „Hommage à Bolshoi“ von John Cranko.

Cranko, der Entfacher des Stuttgarter Ballettwunders in den 60er-Jahren, hinterließ der tanzenden Nachwelt einen unerschöpfbaren Fundus ballettöser Originalität.

Dieser Paartanz persifliert und ehrt den Stil des Bolschoi in den 60er-Jahren – unter drastischem Aufgebot typischer, modern-sowjetischer Hebefiguren.

Schon der Beginn ist entsprechend: Reilly trägt Kang wie eine Skulptur quer in seinen Armen liegend von der rechten Seitengasse herein. Oh! Die Frau lebt ja!

Ja, Frauen sind kein Möbelstück, auch wenn manche Herren das ganz gern so hätten.

Abschieds-Gala für Mikhail Kaniskin

Hyo-Jung Kang und Jason Reilly vom Stuttgarter Ballett beim Applaus nach der „Hommage à Bolshoi“ für Mikhail Kaniskin auf seiner Abschiedsgala. Foto: Gisela Sonnenburg

Und Hyo-Jung dreht auf, sie sprüht nur so vor Tatendrang und ist ganz sicher eine sehr empanzipierte Primaballerina. Jedenfalls in diesen Stück…

Hebungen wie aus „Spartacus“ und elegante Arabesken-Varianten scheinen Stücken von Yuri Grigorovich entlehnt, übertreten aber nie die Grenze zum sarkastischen Zitat und schon gar nicht die zum Plagiat.

Musik von Alexander Glasunow rundet das Bolschoi-Flair ab – Glasunow steht für die Verbindung des alten, klassischen russischen Tanzes mit der sowjetischen Moderne.

Abschieds-Gala für Mikhail Kaniskin

Elisa Carrillo Cabrera und ihr Gatte Mikhail Kaniskin noch einmal im Kostüm von „Onegin“ beim Staatsballett Berlin. Wow! Foto vom Applaus von gestern in der DOB: Gisela Sonnenburg

Und weil Mikhail Kaniskin in Moskau gebürtig ist und an der Akademie des Bolschoi-Theaters ausgebildet wurde, passt dieses Stückchen nostalgisch zwinkernde Rückschau natürlich ganz hervorragend zu seinem letzten großen Abend.

Dass das Stuttgarter Ballett sie tanzt, setzt dem Ganzen noch ein Krönchen auf: An der Stuttgarter John Cranko Schule vollendete Kaniskin einst seine Ausbildung, erhielt sein erstes Engagement als Tänzer und stieg rasch zum Ersten Solisten auf, bevor Vladimir Malakhov ihn 2007 zum Staatsballett Berlin holte.

Auch seine Partnerin Elisa Carrillo Cabrera, die berühmteste Primaballerina mexikanischer Herkunft, begann ihre Karriere (1999) als Elevin beim Stuttgarter Ballett.

Crankos Stil prägte sie also beide.

Abschieds-Gala für Mikhail Kaniskin

Elisa Carrillo Cabrera und Mikhail Kaniskin beim Schlussapplaus in „From Love with Berlin I“ in der DOB. Yeah! Foto: Gisela Sonnenburg

Allerdings ist das kein Grund, das weltberühmte Ballett „Die Kameliendame“ von John Neumeier – von Brigitte Lefèvre als „Giselle des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet – kurzerhand John Cranko zuzuschreiben.

Genau das aber macht das Programmheft des Abschiedsgala-Abends in der redaktionellen Verantwortung von Lucy Van Cleef.

Schwamm drüber – solche Booklets haben heutzutage eh nur noch selten die Qualität, die sie hatten, als Kollegen wie Horst Koegler oder Clive Barnes darin schrieben. Sie sind verstorben, und Koegler hat es noch miterlebt, wie intellektuelle Qualität hierzulande der Oberflächlichkeit geopfert wird.

Darum gibt es ja auch das Ballett-Journal, damit, wer wirklich etwas wissen möchte, das auch nachlesen kann.

Das gilt auch für unübersehbare politische Entwicklungen.

Leute, bleibt bei der Stange, wenn es darum geht, die Corona-Epidemie einzudämmen!

Im Ballett sagt man „ja“ zu Maßnahmen, die alle in der Gesellschaft, auch die Schwachen, schützen. Und gerade im Ballett wird vorgemacht, wie man trotzdem körperlich Spaß haben und die Sinnenhaftigkeit des Lebens genießen kann.

Die Erziehung des Geistes zu ästhetisch-moralischem Empfinden setzt sich auch in jüngerer Zeit in gelungenen Choreografien fort.

Ganz ernst kommt in diesem Sinn „Kazimir’s Colours“ von Mauro Bigonzetti einher, vom Star des Abends Mikhail Kaniskin selbst getanzt, gemeinsam mit Gattin Elisa Carrillo Cabrera.

Abschieds-Gala für Mikhail Kaniskin

Mikhail Kaniskin und Elisa Carrillo Cabrera in „Kasimir’s Colours“ von Mauro Bigonzetti beim Staatsballett Berlin. Schön war’s! Foto: Carlos Quezada

Vorzüglich präzise wirft er sie in die Luft, fängt sie, hält sie – und man begreift die Bedeutung jener Momente scheinbaren Stillstands, die notwendig sind, um sich zu besinnen, um Kraft zu holen für den nächsten Akt.

Die Spannung im Paartanz ist hier ganz ausgezeichnet umgesetzt. Mann und Frau in ihrer Verschiedenheit – Elisa weich und geschmeidig, Mischa stark und souverän – ergänzen sich auch im modernen Tanz zu einer unzertrennbaren Einheit.

Die Schostakowitsch-Klänge unterfüttern hier den gedankenvollen Pas de deux, der Kasimir Malewitsch und seiner Utopie einer möglichst simplen, aber wirkungsvollen modernen Kunst gewidmet ist.

Danke für diese nochmalige Möglichkeit, das Stück so auf den Punkt getanzt zu sehen!

Dagegen hat es „Excelsior“ von Ugo Dell’Ara nach Luigi Manzotti eher schwer.

1881 wurde es uraufgeführt, um die Erfindung der Elektrizität und den technischen Fortschritt zu feiern. Nun sind reine Feierangebote nicht sonderlich inspirierend für tragfähige Kunst. So auch hier: Der Kitsch, das Pathos, die Süßlichkeit der Pose, ja sogar die simple Angeberei mit technischen Kunststückchen machen hier den Wert und Unwert des Pas de deux aus.

1967 rekonstruierte Ugo Dell’Ara das Stück, um der weltweit erfolgreichen Neoklassik etwas Eigenes und zugleich Historisches entgegen zu setzen.

Abschieds-Gala für Mikhail Kaniskin

Nicoletta Manni und Timofej Adrijashenko aus Mailand boten mit ihrem Pas de deux aus „Excelsior“ eine skurrile Rarität. -Applaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Manches daran wirkt einfach skurril, so das rote Kreuz auf dem knallweißen Mieder der Primaballerina. Nicoletta Manni und Timofej Adrijashenko vom Ballett der Mailänder Scala genießen aber die überdrehte Häufung technischer Bravourstücke – und strahlen dazu so gut gelaunt, dass man den Blick nicht von ihnen lassen mag.

Es ist ein kleines Juwel, das man hier zu sehen bekommt, auch wenn weder Manzotti noch Dell’Ara in den Götterhimmel der Weltchoreografie gehören. Klein, aber fein – das gilt halt auch, wenn die Kulisse eines strandenden Schiffs an „Le Corsaire“ erinnert und der stete Klassiktanz so stark verdichtet erscheint, dass es ist, als sehe man eine Mixtur aus Elementen von „Le Corsaire“, „Schwanensee“, „Nussknacker“ und den „Flammen von Paris“ in Eins.

Die Fouettés von Manni sind zwar nicht glasklar, aber mit soviel Verve und Spaß vorgetragen, dass man einfach applaudieren muss. Und der goldig blondierte Timofej Adrijashenko (er könnte, was die Haarfarbe angeht, glatt gegen Judith Rakers antreten) springt und dreht, als übe er für eine ganz besondere Hauptrolle.

Das ist es aber auch schon. Es bleibt skurril, bis zur Schlusspose, wenn sie ihren Oberkörper über seine Schulter auf seine Brust bettet.

Solange wir nicht das ganze Ballett „Excelsior“ sehen müssen, ist es absolut fantastisch zu staunen, was es alles gibt.

Und dann – auf der Gala im Anschluss an den tragischen „Sterbenden Schwan“ – der große finale Höhepunkt: Mikhail Kaniskin noch einmal als „Onegin“!

Ach, Onegin!

Die Titelpartie ist der Überdandy des Balletts. Keiner ist wie er – ein Mann, frei und unabhängig, mutig und erotisch. Aber auch ignorant und sich selbst überschätzend. Was er spät bereut – zu spät.

Abschieds-Gala für Mikhail Kaniskin

Was für ein Paar! Mikhail Kaniskin und Elisa Carrillo Cabrera nach „Onegin“ auf der Abschiedsgala für „Mischa“ beim SBB in der Deutschen Oper Berlin. Da flossen schon ein paar Tränchen… Foto: Gisela Sonnenburg

Wie oft hat Mischa diese seine Paraderolle getanzt! Zuletzt im letzten Kalenderjahr, am 5. April 2019 (siehe Beitrag: „Adieu, schöner Onegin!“), und damals dachte niemand daran, dass sein Bühnenabschied mit einer Gala im Zeichen einer Pandemie stattfinden würde.

Immerhin kommen wir dadurch in den Genuss, ihn noch einmal mit dem rasanten Schluss-Pas-de-deux des Stücks von John Cranko sehen zu können.

Elisa Carrillo Cabrera ist seine Tatjana, und sie liest zu Szenenbeginn aufgewühlt den Brief, in dem ihr ihre Jugendliebe Onegin seine Visite ankündigt.

Tatjana, die er früher zurückwies, ist mittlerweile glücklich verheiratet. Doch in ihr brennt weiter ein Feuer nur für diesen Dandy, der die Liebe erstmals in ihr geweckt hat.

Und er stürmt herein, ungeduldig, gierig. Umfängt ihre Füße, demütig, zerknirscht. Kriecht wörtlich zu Boden.

Oh, wie muss sie widerstehen! Alle Verführungskünste, die Cranko choreografisch ersinnen konnte, finden sich hier im Pas de deux. Im Sitzen am Boden, im Liegen sogar – und natürlich mit atemberaubenden Hebungen.

Küsse finden da statt, unerlaubte, wie geraubt.

Noch bleibt Tatjana standhaft, sie will das Glück ihres Lebens nicht vermasseln. Und was könnte ihr ein Freigeist und Windhund wie Onegin schon bieten?

Abschieds-Gala für Mikhail Kaniskin

Christiane Theobald, kommissarische Intendantin vom SBB, überreicht Blumen: an Mikhail Kaniskin zu dessen Bühnenabschied. Rührend. Foto. Gisela Sonnenburg

Aber wo die Liebe hinfällt… Einige Male sieht es so aus, als sei sie Wachs in seinen Händen. Als wäre sie bereit, mit ihm durchzubrennen. Sich ihm zu ergeben mit Haut und Haar. Jetzt sofort und immerdar.

Alexander Puschkin hat seinen Versroman „Eugen Onegin“ (1833 erstmals erschienen) mit sarkastischem Unterton verfasst. Die gleichnamige Oper von Peter I. Tschaikowsky und das Ballett mit der von Kurt-Heinz Stolze überformten Tschaikowsy-Musik nehmen die Liebe hierin ganz ernst. Obwohl und weil sie zumeist tragisch endet.

Schließlich fällt die Entscheidung. Tatjana bleibt stark. Sie weist Onegin ab, weist ihm die Tür. Er kann es kaum fassen. Verstört, verletzt, zutiefst leidend stürmt er von der Bühne – und man weiß nicht, ob er nicht irgendwann wiederkommt.

Tatjana aber bricht ebenfalls fast zusammen. Sie läuft im Zickzack nach vorn, kopflos fast – hat sie sich doch gefühlt beinahe ihr Herz selbst ausgerissen.

Aber sie fasst sich, hebt die Unterarme, ballt die Fäuste – und senkt sie langsam, ganz sachte, denn sie hat vermutlich ihr Leben gerettet, indem sie der wilden Liebe von Onegin entsagt hat.

Der Jubel ist so stürmisch, dass überhaupt nicht auffällt, dass nicht mal 500 Menschen in der DOB sitzen – dann stehen – und nicht über 1.800, wie normalerweise bei einer Ballett-Gala.

Die Bravos und Zurufe prasseln nur so auf Mikhail Kaniskin herab, und als Jason Reilly und Hyo-Jung Kang einen mächtigen Blumenkorb hereintragen, gefolgt von Christiane Theobald, der aktuellen kommissarischen Intendantin vom Staatsballett Berlin, die ebenfalls Blumen überreicht, beginnt auch der Blumenregen.

Während sich draußen die Welt spaltet – in Zufriedene und Unzufriedene, in Arm und Reich, in Gern-Maskierte und Völlig-Unwillige – herrscht auf der Ballettbühne eine sanfte Konzentration, die sich bis ins wahre Leben überträgt.

Abschieds-Gala für Mikhail Kaniskin

Mikhail Kaniskin dankt für den Applaus – ein letztes Mal auf der Bühne der Deutschen Oper Berlin mit dem SBB. Alles Gute! Foto vom Applaus: Gisela Sonnenburg

Kaniskin wird diese Energie mitnehmen, er sagt, dass er nichts in seinem Leben bereut – und während seine Ehefrau weiterhin beim SBB tanzt und die gemeinsame Tochter von Kunst umgeben aufwachsen wird, kann er sich seinen weiteren geschäftlichen Bemühungen widmen.

So organisieren Mischa und Elisa seit Jahren eine Gala und auch ein Festival in Mexiko, und zwei Stiftungen sorgen für die Förderung von jungen Tänzern und für die Weitergabe des Werkes von Anton Dolin (dessen Werke Mikhail Kaniskin für die Gala als Coach einstudiert hat). Ein Workshop im Sommer in Berlin fand zwar nicht statt, aber das ist in Corona-Zeiten nun auch nicht weiter verwunderlich. Dafür hat das umtriebige Ehepaar schon vor Jahren mal eben eine Ballettboutique gekauft.

Und: Ein Kaniskin wird sich ganz sicher nicht davon abbringen lassen, seinen Weg mit dem Ballett weiter zu gehen,  vielleicht auch mal mit Umwegen – aber immer jenseits von unappetitlichen Wutbürgern.
Gisela Sonnenburg

 www.staatsballett-berlin.de

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