Was für ein „Dornröschen“! Süß und reif zugleich; kindhaft und doch ganz Frau; virtuos und dennoch immer irgendwie unschuldig. Ein Mädchen von innerem Strahlen vor Glück, aber nicht narzisstisch, sondern gebend und wie eine Verkörperung von Mut und Hoffnung: Berlins hervorragendste Starballerina Polina Semionova musste sich zum Glück vorab auch nicht dafür rechtfertigen, dass sie aus Russland kommt. Zumindest nicht öffentlich. Der Superstar, Zögling der Bolschoi-Ballettakademie in Moskau und steter Gast beim Staatsballett Berlin (SBB), wurde von Marcia Haydée auserkoren, gestern abend in der Berliner Premiere ihrer Version von „Dornröschen“ auf der Grundlage der klassischen Choreografie von Marius Petipa zu tanzen. Somit war der für Berlin neuen Inszenierung des unkaputtbaren Tanzstücks zur genial walzernden Musik von Peter I. Tschaikowsky in der Deutschen Oper Berlin ein entzückender Hingucker garantiert. Es ist ein Ballettmärchen auf Stuttgarter Art in der Hauptstadt – und zieht in seinen Bann.
Schon 1987 ersann Haydée, damals unverhofft Ballettdirektorin vom Stuttgarter Ballett, ihre Version des „Dornröschen“-Balletts, freilich unter reichlich Einbeziehung der tradierten Choreo von Petipa. In Stuttgartgehört dieses Werk nun schon seit langem fest ins Repertoire, und mit Elisa Badenes hat man dort aktuell eine passend brillante Besetzung.
Mit der Grazie und dem Charme von Polina Semionova kommt Badenes allerdings nicht mit. Da gibt es eben doch kleine Unterschiede zwischen einer sehr guten und einer absoluten Spitzenballerina, welche nicht in der Technik liegen, sondern in ihrer Wirkung. Vermutlich wird jetzt sofort jemand in Stuttgart einen Antrag einreichen, damit auch Badenes bald zur Kammertänzerin ernannt wird, eine Ehre, die Polina bereits inne hat. Aber das soll uns nicht stören. Im hell grundierten Blümchen-Tutu, unverkennbar inspiriert von Jürgen Rose, mit ihren grazilen, aber perfekt kontrollierten Gliedmaßen sowie zum hinreißenden Lächeln auch in den rehbraunen Augen ist Polina Semionova unanfechtbar ein Ausbund an Lieblichkeit und Erotik – kaum zu toppen.
Die heimliche Hauptrolle gehört hier allerdings nicht der Liebe, sondern einer dunklen Macht, die von Marcia Haydée für ihre erste große Liebe, den Ballerino Richard Cragun, kreiert wurde. Carabosse, die böse Fee, die schon bei der Uraufführung des Tanzmärchens 1890 am Mariinsky Theater in Sankt Petersburgmännlich besetzt war – und zwar mit dem später berühmten Ballettmeister Enrico Cecchetti – wurde von Haydée zu einer furiosen Königin der Sprungkraft und der Eleganz emanzipiert.
Beim Stuttgarter Ballett triumphierte in den letzten Jahren vor allem der unvergleichlich expressive Jason Reilly in dieser Partie, dicht gefolgt von Ciro Ernesto Mansilla. In Berlin ist Dinu Tamazlacaru die erste Haydée-Carabosse: ein furioser Wirbelwind mit kalkweiß geschminktem Gesicht, mal im rubinroten Samtcape, mit schwarzer Superschleppe oder auch in dunkelgrünem Ornat einherkommend – stets so dämonisch wie eine durchgedrehte Faschingsschönheit.
Die Gegenspielerin des Bösen ist die Fliederfee, die – im Gegensatz zu den anderen hier auftanzenden Feen von Haydée nicht in ihrer symbolischen Bedeutung verändert wurde – von Elisa Carrillo Cabrera (die einst beim Stuttgarter Ballett lernte und tanzte) als wunderschön funkelnde Prinzessin aus einer anderen Sphäre verkörpert wird. Mildtätigkeit und Güte, Unbeirrbarkeit und Hoffnung strahlt sie aus. Ihr Kostüm ist traditionell lila, dennoch ist ihre Aufmachung deutlich weltlicher als in anderen „Dornröschen“-Versionen: Es handelt sich um eine Fantasy-Königin.
Bei Haydée brauchen die Feen keine Flügel und keine Zauberstäbe, sie sind, was sie sind: bildhübsche Frauen, von magischer Anmutung und mit unsichtbaren Kräften ausgestattet – und allem Anschein nach auch noch mit Unsterblichkeit gesegnet.
Der Kampf dieser beiden Figuren, der Carabosse und der Fliederfee, aber bestimmt das Stück. Immer wieder begegnen sie sich und kämpfen – und auch wenn am Ende das Gute siegt, so schleicht im Epilog doch die böse Carabosse solistisch über die Bühne, erneut auf Böses sinnend.
Die Musik von Tschaikowsky unterstreicht diesen Kontrast der feinen Melodien und der wuchtigen Einbrüche von Dramatik.
Die Ausstattung von Jordi Roig in Berlin ist neu – und deutlich dezenter und eleganter als das Original von Jürgen Rose in Stuttgart, wo man in krassbunten Pastellfarben schwelgt. Hier wie dort wirkt die Bühne mitunter allerdings zu sehr verbaut, als dass man das Gewimmel von Menschen und Kulissen ohne Abstriche als schön bezeichnen könnte.
Das Berliner Licht von Jacopo Pantani hat, wenn es hell ist, viele Vorzüge, manchmal aber ist es zu wenig zielgerichtet und diffus.
In Sachen Klarheit und stringenter Ästhetik hatte die „Dornörschen“-Inszenierung von Nacho Duato mit der Ausstattung von Angelina Atlagic, die 2015 beim Staatsballett Berlin premierte, deutliche Vorteile zu bieten. Auch an seine choreografischen Finessen und amüsant-sinnvollen Neuerungen reicht die Fassung von Marcia Haydée nicht heran, und sogar im Hinblick auf die starke Emotionalität unterliegt sie, denn für sie ist „Dornröschen“ vor allem ein naives Märchen ohne hintergründigen Gesellschaftsbezug.
Dafür aber – und das ist der überzeugende große Pluspunkt der Haydée – hat sie ein warmherziges, freundliches Menschenbild, das sichtlich an ihrem Mentor John Cranko geschult ist und das sie in liebevollen, oft augenzwinkernden Arrangements mit vorbildlicher Tugendhaftigkeit neckisch und niedlich präsentiert.
Darum ist gerade dieses „Dornröschen“ auf jeden Fall auch was für Kinder und Jugendliche.
John Cranko (der selbst kein „Dornröschen“ inszenierte) war der Macher des Stuttgarter Ballettwunders und trotz seines relativ frühen Todes 1973 so etwas wie der Neuerfinder des Balletts im westlichen Deutschland. Er kam aus Südafrika, lernte sein Handwerk für die Kunst in London und schaffte es, mit Neuinterpretationen der Klassiker sowie mit Kreationen wie „Onegin“ und „Der Widerspenstigen Zähmung“, aber auch mit sinfonischen Balletten zu begeistern. Der britische Choreograf Kenneth MacMillan, mit dem er befreundet war, hinterließ mit ihm zusammen einen Fundus an hochkarätigen Stücken im Repertoire – und Marcia Haydée war als Primaballerina die bedeutendste Muse von Cranko in Stuttgart.
Zu „Dornröschen“ hatte die heute 85-Jährige Haydée, die aus Brasilien stammt und heute wie nebenbei das Ballett von Santiago de Chilé im Teatro Municipal leitet, aber schon vor ihrer Zeit in Stuttgart eine enge Beziehung. Als Ballerina der Truppe vom Marquis de Cuevas tanzte sie darin, und in Stuttgart dann verkörperte sie in mehreren Inszenierungen, unter anderem in der von Rosella Hightower, die schlafende Schönheit. Bei einem Gastspiel in West-Berlin tanzte sie 1968 sogar mit Rudolf Nurejew das „Dornröschen“ – die Deutsche Oper Berlin kann bei ihr also gute Erinnerungen hervorlocken.
Es war dann die Idee von Johannes Öhman, dem später gescheiterten Berliner Co-Ballettintendanten, der als Anhang von Sasha Waltz seinen Posten aufgab, die Grande Dame Marcia Haydée um ihr Stuttgarter „Dornröschen“ für Berlin zu bitten. Dass man hier eine neue Ausstattung und neues Licht haben wollte, darin war man sich einig, ebenso darin, dass Marcia selbst nach Berlin kommen und besetzen sowie mit einstudieren würde.
Der gute Draht zum Berliner Ballettmeisterteam war ad hoc da – entsprechend sorgsam und akkurat wird getanzt!
Die Solist:innen und auch das Corps de ballet sowie ihre „Master“ verdienen höchstes Lob für ihre musikalisch-stilistische Präzisionsarbeit. Letztlich erhält so eine Zusammenarbeit das Ballett am Leben: damit es nicht seelenlos oder sogar schlampig heruntergenudelt wird und auch nicht als Dienstleistung der kalten Virtuosität missverstanden wird, sondern auf dass hochkarätige Technik mit den vielen soft skills des Tanzes überein kommt.
Und so beginnt mit der Ouvertüre und dem ersten Auftritt von Carabosse vor dem Vorhang ein Märchentanz, der einen fast drei Stunden nicht mehr loslässt.
Die Kulissen von Jordi Roig sind detailreich und überbordend, barocke Schlossarchitektur ragt auf die Bühne, während im Hintergrund ein Park mit Brücke auf den Prospekt gemalt ist. Die Natur ist also herzlich eingeladen, hier Teil des Gedankenguts zu sein!
Das hätte man in der Ausstattung der insgesamt sechs Feen und ihrer männlichen Begleiter sowie ihrer kindlichen Pagen – Schülern der Staatlichen Ballettschule Berlin – durchaus weiterführen und sie mit Naturemblemen schmücken können.
Aber über soviel Konzept verfügt die Ausstattung nicht. Es muss genügen, dass die Kostüme nicht allzu bunt, sondern dem Auge schmeichelnd geschmackvoll sind.
Das Ensemble ist passend zum Interieur gewandet. Im ersten Akt dominiert sogar ein Ockerfarbton, der als Kontrast zum Grün des Hintergrundes durchaus noch etwas Naturhaftes von sich gibt.
Die Feen allerdings strotzen nur so vor pikanter, pastellener Farbigkeit im Kostüm, die vor allem ihre Jugendlichkeit betont, auch wenn man ihre Umdeutung etwa von der „Bergkristallfee“ zur „Fee der Kraft“ etwas beliebig finden muss.
Aya Okumura tanzt dieses spitzfindige Solo im hellgrünen Tutu und in der klassischen Marius-Petipa-Choreografie mit viel Verve!
Die „Fee der Klugheit“ (sehr fein und doch sehr lebendig: Evelina Godunova), die „Fee der Beredsamkeit“ (großartig lyrisch-brillant: Iana Balova), die „Fee der Anmut“ (zart wie in Alabaster gemeißelt: Alizée Sicre) und die „Fee der Schönheit“ (endlich mal wieder auf der Bühne, mit elegantem Aplomb: Luciana Voltolini) tanzen also auf, zur Feier der Taufe des Säuglings Aurora, lang ersehntem Sproß des Königspaares.
König und Königin sind hier leider wirklich nur Staffagen, haben außer dem Zeigen von aufgetürmter Barockperücke und ausladenden Kostümen keinerlei Funktion im Bühnengeschehen. Das ist ein Schwachpunkt, zumal der hundertjährige Schlaf Dornröschens nicht nur das junge Mädchen betrifft, sondern den ganzen Hofstaat. Aufgrund dieses satirischen Aspekts hatte Petipa das Märchen ja ausgewählt, um es am zaristischen Hof als prunkvoll-tiefsinnige Fabel zu inszenieren. Marcia Haydée hat dafür leider keinen Sinn – wir sehen den Hof zwar zu Beginn in einer Frozen pose, aber zum Zeitpunkt der Verzauberung niemals schlafen.
Auch das Wachsen den Zauberwalds, der die schlafenden Höflinge inklusive Prinzessin Aurora von der Außenwelt abschirmt und zugleich ihre Befreiung erschwert, ist in dieser Inszenierung nicht zu erkennen.
Donner und Blitzlicht werden eingespielt, als sich Carabosse mit ihrem Tross, angeführt vom makellos kreatürlichen Alexander Abdukarimov, ankündigt. Sie wurde nicht eingeladen und darum sinnt die böse Fee auf Rache. Aurora soll sich an ihrem 16. Geburtstag stechen und sterben. Immerhin kann die Fliederfee den Fluch wandeln: zu hundertjährigem Schlaf.
Choreografisch geht es hier mehr um den Kampf der beiden Märchenfiguren als um die Handlung. Immerhin ist er aufregend zu sehen!
Und auch der Hofstaat inklusive Kindern, die barockgemäß wie Erwachsene ausstaffiert sind, ist immer wieder ein Augenschmaus.
Insofern summt und brummt das höfische Leben nicht nur zur Taufe von Aurora, dem späteren Dornröschen, sondern auch an ihrem 16. Geburtstag, an dem vier Prinzen zwecks Verheiratung ihre Aufwartung machen.
Zur Bräutigamsschau geben Konstantin Lorenz, Cameron Hunter, Marco Arena und Alexei Orlenco – der in einer anderen Besetzung die Carabosse tanzt – das Prinzenquartett ab, das mit hehren Sprüngen und exaltierter Vornehmheit Aufmerksamkeit erregt.
Mit Aurora absolvieren sie das berühmte „Rosenadagio“ und verhelfen der Prinzessin dabei zu exzellenten Balancen im Schein der Rosen, die sie dann sammeln darf.
Besonders bezaubernd sind allerdings die Soli von Polina Semionova, die darin die märchenhafte Kraft der unbedingt gutwilligen, tapferen, auch risikobereiten Prinzessin zeigt.
Pure Poesie verströmt Polina hier, und das ist genau das, was es sein soll. Denn dieses Mädchen Aurora ist etwas Besonderes nicht nur durch ihren hohen Stand, und das ist vorbildlich zu erkennen.
Sie ist nicht kitschig und nicht selbstbezogen, nicht eitel und nicht oberflächlich in ihrem klassischen Tanz, sondern sie belebt die bekannten Schritte und Sprünge zu neuem Leben. Wer dabei nicht die Welt vergisst, hat kein Herz!
Der Blumenstrauß von Carabosse, in dem ein Dolch versteckt ist, sieht allerdings aus wie ein Stoffblumen-Kulissenstrauß – solche großen roten Rosen, so die Botschaft, sind nicht die echtesten aller Blumen.
Wie Polina Semionova nach dem Stich in den Finger trippelnderweise zu taumeln beginnt, ist wirklich rührend anzusehen. Und niemand kann ihr helfen – sie fällt in ein Koma.
Ihren Abtransport auf ein ganz hinten auf der Bühne bereit stehendes Sofa hätte man sich nun etwas menschlicher vorgestellt, hier wirkt es fast wie eine Grablegung.
Aber alle wissen Bescheid: Jetzt vergehen hundert Jahre, und das ist – im Sinne der Liebe – auch gut so. Denn verliebt machen konnte keiner der vier Kavaliere Aurora, und erst nach langem Tiefschlaf wird sie vom Richtigen geküsst.
Dieser Richtige ist mit Alexandre Cagnat an sich goldrichtig besetzt. Der blutjunge französische Tänzer machte mit einer aufregenden Interpretation des Lensky in John Crankos „Onegin“ auf sich aufmerksam, und mit ähnlichem sehnsuchtsvoll-ergebenen, leicht melancholischem Touch tanzt er auch diesen Prinzen Desiré.
Es ist übrigens lobenswert, dass der Prinzenname „Desiré“ beim SBB richtig geschrieben wird und nicht, wie in Stuttgart, mit doppeltem „e“, was die weibliche Form des Namens ist.
„Der Gewünschte“, so die Übersetzung des Prinzennamens, ist zugleich das Rollenprogramm. Alle Welt wartet auf ihn: Die Zuschauer:innen, weil er erst im Zweiten Akt auftaucht, und die verzauberte Schlosswelt, weil nur er sie erlösen kann.
Wir erleben ihn im Herbstnebel nach einer Jagd mit seiner Verlobten, die er nicht liebt, obwohl sie in eleganter Aufmachung mit Absatzschuhen ganz entzückend-sinnlich um ihn herumwirbelt. Weronika Frodyma tänzelt so sinnenhaft, dass man den Prinzen und seine Ignoranz eigentlich nicht versteht. Aber sie ist halt nicht die Richtige.
Das Corps de ballet glänzt erneut mit hübschen Zwischenspielen.
Doch dann ändert sich die Atmosphäre, der Prinz verfällt einer Vision, die er der Fliederfee zu danken hat. Nach einem respektvollen Pas de deux mit der Glücksfee erscheint ihm – für sie öffnet sich das hohe Schlosstor – die liebliche Aurora. Augenblicklich verliebt er sich.
Doch es wäre ja zu einfach, sie sofort zur Braut zu erhalten. Carabosse taucht mit ihren Gesellen auf und nimmt den Prinzen mehrfach gefangen. Immer wieder befreit ihn die Fliederfee mit ihrer sanften Art, aber fast scheint es, als werde der Prinz nur ein Spielball der dunklen Mächte.
Von dem großen dunklen Seidentuch im Brustbereich stranguliert, wirkt Desiré wie ein Geopferter, und man darf ruhig auch an Jesus Christus denken. Immerhin muss auch dieser Vertreter der Liebe eine ganze Gesellschaft retten.
Schließlich gelingt es der Fliederfee, ihn tänzerisch zu ertüchtigen und er kann die Stoffstränge ablegen. Was für eine sanfte Befreiung!
Carabosse aber fällt durch die Macht des Guten immer wieder zu Boden – und auch, wenn sie sich aufrappelt, so stellt man doch erleichtert fest, dass sie das Wichtigste nicht zu verhindern weiß.
Es sind einige Pantomimen hier anders als in Stuttgart. Mit einer bin ich gar nicht einverstanden. Da holt sich Dinu Tamazlacaru sozusagen die weibliche Kraft der Fliederfee – oder er versucht es – indem er vor ihrem Dekolleté herumfuchtelt und sich dann etwas einzuverleiben scheint. Die Kraft der Fliederfee sitzt aber sicher nicht in oder oberhalb von ihrem Busen. Diese gute Fee ist insgesamt ein Kraftpaket positiver Energien, und die Reduzierung bei einer solchen Symbolhandlung auf die Busengegend – und nicht auf das Herz, das bekanntlich links sitzt – wirkt schlicht sexistisch.
Aber während Gut und Böse sich noch um die Seelen der Menschen kabbeln, entdeckt der Prinz im Bühnenhintergrund sein Dornröschen, marschiert zielstrebig hin und erweckt sie durch eine zarte Kussgeste zum Bewusstsein.
Das ist wirklich nicht sexistisch, wie das hier gemacht ist! – Und Polina Semionova erwacht als schönstes Dornröschen, das man sich nur denken kann. Als sei sie hypnotisiert gewesen, findet sie langsam ihre Kräfte der Wachheit wieder, dankend dem jungen Mann, der sie zurückholte, in die Augen sehend.
Ihre Liebe gibt Carabosse den Rest.
Es darf also geheiratet werden, und der Hofstaat erblüht mit Kostümen zu einer Orgie aus Spiel und Spannung.
Die Märchenfiguren, die hier traditionell aufgefahren werden, geben sich zunächst wie bei einem Balabilé oder gar Finale schon mal vorab ein tänzerisches Stelldichein.
Dann aber kommen die großen Festtagsnummern!
Allen voran begeistert Murilo de Oliveira, der als Ali Baba nicht nur ein Abenteurer, sondern auch ein verkappter Prinz zu sein scheint. Seine geschmeidigen Pirouetten und blendend schönen Linien in den Arabesken, seine Musikalität und die hohen Sprünge zeichnen ihn aus – und tatsächlich wird er mit Yolanda Correa in der Titelrolle auch den Prinzen Desiré tanzen. Man darf sich darauf freuen!
Die Feen sind hier zu lebendigen Edelsteinen mutiert, und als Grand Pas de trois mit Ali Baba erfreuen zwei von ihnen ganz besonders mit Eleganz und Schnelligkeit im Tanz.
„Schneewittchen und die sieben Wichtel“ haben dagegen unverkennbar schwäbisches Kolorit, und die Kinder der Staatlichen Ballettschule Berlin, die akrobatisch in lustigen Kostümchen auftrumpfen dürfen, haben endlich wieder etwas zu tun. Es ist anzunehmen, dass sie nach dem großen Krach an der Schule vor zwei Jahren heutzutage nicht mehr überfordert werden und auch zu genügend Schlaf finden, wenn sie in einer Abendvorstellung getanzt haben. Hoffen wir auf optimale Organisation und Regelungen!
„Der gestiefelte Kater und sein Kätzchen“ sind schließlich ein Sinnbild für die Lüsternheit des Mannes, den Alexander Abdukarimov höchst sinnlich abgibt, während Minori Nakashima sich wollüstig zu zieren weiß.
„Rotkäppchen und der Wolf“, besetzt mit Alizée Sicre und Oleksandr Shpak sind da etwas derber gestrickt: rücklings packt sich der Wolf sein Leckerli, nachdem sich die Panik des Mädchen gelegt hat.
Nur „Prinzessin Florine und ihr Blauer Vogel“ enttäuschen ein wenig, weil Olaf Kollmannsperger bei der Premiere für die Sprünge als Bluebird nicht ganz fit schien. Er war gut, aber er kann mehr – darauf wird man warten. Dafür glänzt bis dahin Evelina Godunova umso mehr in ihren neckischen, tierliebenden Posen. Alles gut – der Esprit des Divertissements kommt voll rüber!
Dass Königin und König erst gen Ende der Feier aufmarschieren, passt dazu, dass das Konzept von Haydée mit ihnen nicht viel anzufangen weiß. Immerhin stehen sie wieder für Prunk und Herrlichkeit in der Klamotte.
Es ist im übrigen ein Unding, dass ihre Rollen und Darsteller immer noch überall aufgeführt werden, obwohl es sich (gerade hier) lediglich um Schreitrollen handelt, die fast wandelnden Kleiderständern gleichen. Sie zusammen mit der Besetzung der großen Partien zu nennen, ist wohl eine aus dem 19. Jahrhundert stammende Unsitte: Man will die scheinbar hochgestellten Persönlichkeiten hervorheben.
Aber das Theater hat eine andere Realität, nämlich die Spielrealität, und es ist darum nicht mal aufrührerisch, das Herrscherpaar genau wie andere kleine Rollen nicht zusammen mit den Hauptrollen zu präsentieren.
Vielleicht kommen wir in der demokratischen Ballettwelt des 21. Jahrhunderts da ja auch noch hin.
Einstweilen erfreut man sich an der Brillanz der großen Tänze des liebenden Hochzeitspärchens.
Der klassische Grand Pas de deux von Dornröschen und seinem Retter – beide sind, wie es traditionell sein soll, in funkelndes cremiges Weiß gehüllt – ist ja so ein Highlight!
Auch wenn Alexandre Cagnat bei der Premiere ein wenig nervös schien (der Druck in so einer großen Produktion kann eben doch überwältigend sein), so partnert er seinen weiblichen Schatz auf der Bühne doch mit so viel Hingabe und Zuwendung, dass Polina Semionova als Aurora zweifelsohne bestens zur Geltung kommt.
Ihre Manegen und Soli-Einlagen meistern sie mit Bravour. Polinas Pirouetten piqué sind dabei nicht nur gestochen scharf, sondern auch so hübsch in der Linierung, dass man sich nicht sattsehen kann!
Und wenn sich für das Schlussbild alle in festlichen Posen vereinen – die Prinzessin in einer fulminanten Arabeske unter den Händen ihres Bräutigams – und dazu vor ihnen die witzigen „Wichtel“, also die kindlichen Zwerge, auf dem Bauch liegend mit den Unterschenkel wippen, dann ist das heile Märchenidyll wirklich komplett.
Kleine Unterschiede in der Berliner Version zur Stuttgarter Fassung sind für detailversessene Liebhaber:innen interessant: In Berlin liegen die Wichtel am Schluss, in Stuttgart stehen oder sitzen sie in Posen; die Arabeske der Braut findet in Stuttgart nach links vom Parkett aus statt, in Berlin nach rechts; das Licht betont in Stuttgart, dass über allem die herzensgute Fliederfee mit nach oben ausgebreiteten Armen steht.
Doch oh weh, Carabosse ist nicht verschwunden, und sie überlebt alle, sowohl in Stuttgart wie in Berlin… diese Gewissheit dürfen wir trotz traumhafter Gefühle mit nach Hause nehmen.
Um gern auch wiederzukommen, denn die verschiedenen Berliner Besetzungen lohnen sicher den Abgleich. Lobenswerterweise hat das SBB schon jetzt alle Termine bis Spielzeitende mit den entsprechenden Besetzungen online veröffentlicht.
Mitzunehmen, um wiederzukommen, ist auch die Erinnerung an das Orchester der Deutschen Oper Berlin, das von Ido Arad deutlich gefühlvoller und auch analytischer als vor der Corona-Pandemie geleitet wird. Vor allem das Blech trifft die festliche Stimmung auf den Punkt, aber auch Harfe und Streicher bilden ein harmonisch-exklusives Ganzes mit einzelnen Highlights. Vor allem der erste Akt ließ einen schwelgen und versetzte einen prompt in eine Welt aus Feenglück.
Der Applaus mit Marcia Haydée auf der Bühne war jubelnd, Standing Ovations ehrten die große Dame, die mit augenzwinkerndem Humor für den Glauben an das Gute steht – ohne das Böse zu ignorieren. Da können doch viele von ihr lernen.
Gisela Sonnenburg
Zum großen Portrait-Interview mit Marcia Haydée!