Ab ins Schlösschen! Die Stiftung John Neumeier wird in eine ehemalige Schönheitsklinik ziehen – in bester Hamburger Lage

John Neumeier heiratet Hermann Reichenspurner

Auch online macht die Stiftung von John Neumeier eine gute Figur – derzeit noch mit ihrer alten analogen Adresse. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Wenn man glaubt, wir Ballettmenschen würden gedanklich immerzu im Märchenschloss leben, so ist das vielleicht gar nicht mal so falsch. Und doch ist es oft ein goldener Mittelweg, der dem Ballett zu seiner vollen Geltung verhilft. Das kommende Domizil der Stiftung John Neumeier, die über mehr als 30.000 Bücher sowie über große Schätze an Skulpturen, Gemälden, Porzellanen, Dokumenten, Nutzgegenständen und Fotografien sowie Lizenzen verfügt, liegt schon mal in Harvestehude, jenem vornehmem Hamburger Stadtteil, der an dieser Stelle auch zum Schnöseldorf, Pardon: Pöseldorf genannten Viertel gehört. „Mittelweg 55 in 20149 Hamburg“ – das wird die neue Adresse der Stiftung sein. Das schlossartige Gebäude mit reich verziertem Erker und lieblichem Jugendstil-Flair sowie mit mehreren Alster-reifen Leuchtkugeln vor der Tür beherbergte schon Schönheitsklinik. Die „Klinik Pöseldorf“  bot laut Eigenwerbung in der guten Lage „nur wenige Gehminuten von der Alster entfernt“ führende Leistungen im Bereich der ästhetisch-plastischen Chirurgie. Nicht nur Handchirurgie, sondern vor allem Gesichts-, Brust- und Ganzkörperchirurgie verschönerten nicht wenige Hanseat:innen und machten sie fit für die so genannte bessere Gesellschaft. Klinik-Inhaber Dr. Holger Fuchs hatte wohl ähnliche Gründe wie jetzt der Ballettgigant John Neumeier, sich für dieses Haus zu entscheiden: „Pöseldorf in Harvestehude ist für mich die schönste Gegend der Stadt.“ Die spannenden Argumente, warum das so ist, wollen wir später nennen. Jetzt erstmal einen herzlichen Glückwunsch an John Neumeier und das Hamburg Ballett, dem er als Ballettintendant vorsteht. So ganz selbstverständlich war es nach jahrzehntelangem Tauziehen von Neumeier mit der Stadt Hamburg nämlich nicht, dass es jetzt zu einer so fruchtbaren Einigung kam. Aber hallo: 15 Millionen Euro macht Hamburg nun locker, um das Gebäude (vermutlich mit Grundstück) für Neumeiers Habe zu kaufen, umzubauen und dabei auch zu sanieren.

"Schicksalstanz mit Nurejew" - eimalig im Babylon in Berlin

Er tanzt, und er scheint dabei zu fliegen, wenn auch derzeit nicht über Hamburg: Javier Cacheiro Alemán vom Ballett Dortmund tanzt live die Uraufführung von „Pour Noureev“ beim „Schicksalstanz mit Nurejew“ – am 29. Mai 22 im BABYLON in Berlin. Hier geht es zu mehr Infos und den Tickets. Foto: Carlos Quezada

Nun werden dort nicht nur museale Vorgänge eingeplant, sondern auch das Werkverzeichnis der rund 170 Stücke von Neumeier wird dort archiviert werden. Forschungsarbeit wird wohl auch anhand einer Mediathek mit zahllosen Aufzeichnungen von Aufführungen möglich sein. Auch die Lizenzen für Neumeiers Stücke sollen von diesem Ort aus verwaltet und vergeben werden.

Ein nobler Sitz für ein nobles Vorhaben. Denn so ganz selbstverständlich ist es nicht, dass ein Mensch seine bedeutende Sammlung solchermaßen der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Andere häufen Reichtümer an, ohne an die Allgemeinheit zu denken.

Jetzt macht Neumeier sein Versprechen wahr, die Stadt Hamburg mit ins Boot seines lebenslangen Wirkens zu nehmen.

Fakt ist: Das Haus dürfte das Optimum dessen sein, was John Neumeier seit langem als Hort für seine Schätze vorschwebt. Schon lange vor der Gründung seiner Stiftung, so der Choreograf, Bühnenbildner, Licht- und Kostümdesigner und Geschäftsführer der Hamburgischen Staatsoper, habe er dafür das Gespräch mit dem Hamburger Senat gesucht.

John Neumeier lässt Shakespeare vor

Der Shakespeare des Balletts, wie ich John Neumeier auch schon nannte, bei einer seiner beliebten Premierenreden. Foto: Gisela Sonnenburg

Zwischendurch war die Stimmung diesbezüglich auch schon mal ganz weit unten, und man musste schon darum bangen, dass Neumeier nicht noch – nebst weltbedeutenden Sammlungen – abwandern würde.

Dann war eine Immobilie in der neu erbauten Hafen-City in Hamburg im Gespräch – aber wer Neumeier und seinen Geschmack kennt, konnte nicht daran glauben, dass sein ehrwürdiges Vermögen in hochmodernem Techno-and-Metal-Style enden sollte.

Kultur und Kultiviertheit, Zivilisation und Zivilisiertheit, Historie und Historizität sollen hier zusammen und zur Kunst gehören.

2006 gründete Neumeier mit dem Stammguthaben seiner umfassenden Sammlung (die aus mehreren besteht) seine Stiftung – und zwar absichtlich als Privatstiftung, um keiner öffentlichen Kontrolle zu unterliegen. Dafür nahm Neumeier auch in Kauf, dass Spenden nicht steuerlich absetzbar waren.

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Trotzdem schaffte er es, zum Beispiel für den Erwerb hochkarätiger Zeichnungen aus dem Nachlass von Vaslav Nijinsky – jenem Star der Ballets Russes, der den Großteil seines Lebens in Umnachtung verbrachte – einen Millionenbetrag einzuwerben.

Und allein schon die Sammlung an Porzellanfiguren, die Neumeier im Laufe der Jahrzehnte eintrieb, dürfte ein Museum füllen können.

Neumeier begann als ganz junger Mann mit dem Sammeln von Ballettbüchern. Mit steigendem Gehalt und ebenfalls steigender Sachkenntnis erweiterte sich seine Befähigung, bei einschlägigen Auktionaren und international tätigen Händlern als kaufkräftiger, aber keineswegs dummer Kunde etwas zu gelten.

Und kaum ein:e Neumeier-Verehrer:in ließ es sich nehmen, ihm zu Anlässen wie dem Geburtstag weitere Stücke als Präsente zu verehren. Da kam dann gut was zusammen, vor allem in den letzten 50 Jahren, in denen Neumeier in Hamburg wirkte.

Die junge Welt ist eine Tageszeitung aus Berlin.

Die überregionale Tageszeitung junge Welt berichtet auch über das, worüber andere oft schweigen. Am Kiosk erhält man sie in einem sehr praktischen Format.

Der Ballettchef: „Meine Ballettsammlung ist als stetige Inspiration meiner vielfältigen Werke mein Leben lang gewachsen.“ Also nicht von Geburt an, aber schon seit Teenager-Zeiten.  Neumeier weiter: „Insofern war mir schon lange klar, dass dieses umfassende Anschauungsmaterial nicht nur für die Recherche meiner eigenen Arbeit bestimmt ist: Die Sammlung müsste in der einen oder anderen Form die Öffentlichkeit erreichen!“

Das gab es in den letzten Jahrzehnten manchmal in Form eines Tages der offenen Tür oder auch durch ausführlich über John Neumeier berichtende Fernsehsendungen.

Damals konnte eben noch nicht über die konkrete Zukunft des reichhaltigen Interieurs gesprochen werden.

Den Vorstand seiner Stiftung bilden übrigens Neumeier selbst, sein Ehemann Hermann Reichenspurner – beide tragen Professorentitel – sowie der Hamburger Fachanwalt für Steuerrecht Dr. Kai Greve. Als Kurator und Leiter der Sammlungen arbeitet sehr engagiert Dr. Hans-Michael Schäfer für die Stiftung.

Dieser Auszug aus dem Pressespiegel der Klinik Pöseldorf zeigt einen Blick auf einen Bericht im „Tango Spezial“ vom 15. März 2008 über die Schönheitsklinik im Mittelweg 55. Damals widmete sich John Neumeier noch stark der Vervollständigung seiner Sammlung mit Exponaten von Vaslav Nijinsky. Faksimile: Gisela Sonnenburg 

Bisher ist sie in Neumeiers Privathaus in der Geffckenstraße in Hamburg-Eppendorf angesiedelt, nur wenig mehr als einen Steinwurf vom neuen Sitz entfernt. Zwischen Kunst und Leben wird da bislang noch nicht unterschieden: John Neumeier dürfte der einzige lebende Zeitgenosse sein, der mit derart vielen historisch wertvollen Gegenständen zum Thema „Tanz und Ballett“ seinen Alltag verlebt.

Oder kennen Sie noch jemanden, der seinen Teller Nudeln umgeben von Statuen, die Vaslav Nijinsky darstellen, zu sich nimmt?

Jetzt aber geht es bald für Vaslav und seine vielen Gefährt:innen aus Kunstmaterialien ab ins Schlösschen, denn die Villa im Mittelweg hat architektonisch durchaus die Anmutung eines kleinen Schlosses.

Rudolf Nurejew im Portrait „Legend“ von Cecil Beaton – es ist kein Teil der Neumeier-Sammlungen, aber es verlockt zum „Schicksalstanz mit Nurejew“ mit Lucia Lacarra, Matthew Golding, Roxanne Grosshans und Javier Cacheiro Alemán ins BABYLON in Berlin zu kommen. Hier gibt es mehr dazu. Foto: Cecil Beaton / Condé Nast

Ob Neumeier das Haus aus dem Klinik-Kontext kennt, und wenn ja, durch welche Begebenheiten, ist nicht bekannt und im Grunde wohl auch nicht wichtig. Sein Mann ist ja Arzt, und dass Schönheit und auch Schönheitschirurgie im ballettösen Gefüge keine Fremdworte sind, leuchtet ohnehin ein.

Insofern ist die Tradition des Gebäudes in der Vergangenheit doch nicht ganz unpassend.

Es soll ja auch nicht nur ein Museum dort eingerichtet werden, sondern ein ganzes Ballett-Institut. Dieses wird, wie sollte es anders sein, den Namen von John Neumeier tragen, wie ja auch das Hamburg Ballett und seine Ballettschule im Zusatz Neumeiers Namen haben.

Carsten Brosda, Hamburgs aktueller Senator für Kultur und Medien, dazu: „Das Institut John Neumeier soll nicht nur das Werk unseres Ehrenbürgers sichern, sondern auch ein internationaler Ort der Auseinandersetzung mit dem Tanz sein.“

Fehlt nur noch der Einzugstermin. Und der steht bei den umfangreichen Bauarbeiten, die noch anstehen, tatsächlich noch in den Sternen. Aber er wird kommen – und Hamburg wird dann einen Festtag mehr im Kalender haben.

Das Logo der mittlerweile umgezogenen „Klinik Pöseldorf“ zeigte schön die Architektur des Schlösschens an der Alster. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Jetzt aber endlich die Gründe, warum diese Lage des zukünftigen Hamburger Ballett-Instituts John Neumeier so besonders ist, zumindest in der Überlieferung von Dr. Fuchs: „Hier finde ich alles, was ich für ein perfektes Leben brauche: die Alster mit tollen Spazierwegen und wunderbarer Aussicht, gehobene Gastronomie, Einkaufsmöglichkeiten und ein unvergleichliches Ambiente.“

Manche würden ihren Besuch im goldenen Hamburger Mittelweg sicher schon jetzt gern einplanen.
Gisela Sonnenburg

johnneumeier.org

hamburgballett.de

Eine kleine Ergänzung unserer Reihe Medienkunde heute: Wer sich jetzt fragt, warum manche Menschen mit akademischen Titeln und andere ohne im obigen Artikel genannt werden: Im Journalismus geht es auch nach dem Bekanntheitsgrad von Menschen, und wenn es sich um Personen der Zeitgeschichte handelt, so ist ihr Titel absolut zweitrangig, während Normalsterbliche nicht um diese kleine Aufwertung ihrer Person gebracht werden sollen. So ist es hier praktiziert.

Es gibt aber auch journalistische Regeln, die praktisch alle Titel entfallen lassen, um nicht von der Person, die geschildert wird oder die etwas aussagen soll, abzulenken. Und dann wieder gibt es auch jenen Journalismus, der – vor allem, wenn er der Public Relation nahe steht – jedwede Weihe und Würde hochhalten möchte und darum jeden Titel prunkvoll nennt. In einem halbwegs freien Land kann man kein Medium zwingen, sich hier konsequent unterzuordnen. Genießen Sie also die Vielfalt und entdecken Sie die Regelwerke, die dahinter stehen!

Adeline Pastor in "Pour Adeline" von Gisela Sonnenburg in der Alten Nationalgalerie Berlin

Voilà! Primaballerina Adeline Pastor zu Besuch bei der „Prinzessinnengruppe“ von Johann Gottfried Schadow in der Alten Nationalgalerie in Berlin. Mehr davon beim „Schicksalstanz mit Nurejew“ am 29.5.22 im BABYLON in Berlin. Foto: Ballett-Journal

 

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