München leuchtet: Die bayerische Metropole hat einen neuen Ballettdirektor. Nachdem man den ehemaligen Startänzer Igor Zelensky im Zuge der neuen Russenfeindlichkeit hat gehen lassen, wird nun mit Laurent Hilaire, Jahrgang 1962, ein weiterer ehemaliger Starballerino die Tanztruppe von der Isar anführen. Ironischerweise kommt er direkt aus Russland, wo er einen lukrativen Leitungsjob inne hatte, den er Ende Februar aus politischen Gründen niederlegte. Und noch eine Pointe: Zelensky war auch in Moskau der Vorgänger von Hilaire. Vielleicht tauschen die beiden nun einfach die Plätze – die Nachfolge Hilaires steht noch offen. Der gebürtige Franzose Hilaire hat jedenfalls einst an der Pariser Opéra seine Bilderbuchkarriere als Tänzer hingelegt; er wurde noch von Rudolf Nurejew höchstselbst 1985 zum Étoile, also zum wortwörtlichen STAR-Tänzer, gekürt. Nach seiner aktiven Tanzkarriere hatte er zunächst in Paris als Ballettmeister gearbeitet. Jetzt kommt er aus Moskau vom Stanislawski- und Nemirowitsch-Dantschenko-Musiktheater, wo er seit 2017 das viel beachtete klassisch-moderne Ballettensemble leitete, das dennoch fraglos im Schatten des Bolschoi Ballett steht. Und so trudelt nun ein Franzose aus Moskau nach München ein, ganz so, als sei es eine russische Erbschaft. Pikanterweise folgt Hilaire damit zum zweiten Mal direkt auf Zelensky.
Dass das Bayerische Staatsballett mit „Coppélia“ gerade eine Choreografie des großen Franzosen Roland Petit wieder aufgenommen hat, passt da wie bestellt.
Und während man am Bolschoi Ballett in Moskau weiterhin „Jewels“ von George Balanchine tanzt und also keinen Kulturkrieg führt, muss Europa hoffen, dass ukrainische Forderungen, man müsse die Musik von Tschaikowsky und andere russische Kulturgüter verbieten, sich nicht flächendeckend durchsetzen werden. In einigen Städten innerhalb und außerhalb Deutschlands wurden tatsächlich schon russisch assoziierte Vorstellungen abgesagt.
Sollte Hilaire nun aus Hass gegen die Regierung seines ehemaligen Arbeitgebers in diese Richtung vorstoßen wollen, wird er womöglich das Wohlwollen von Politikern wie Dieter Reiter (SPD), Oberbürgermeister von München, erringen. Dieser hat das zweifelhafte Verdienst, den Dirigenten Valery Gergiev vom Hof gejagt zu haben. Und das, obwohl die Bayerische Staatsoper, zu der das Bayerische Staatsballett gehört, nicht der Münchner Regierung, sondern der bayerischen Landespolitik untersteht.
Aber die Einflussnahmen sind ja nie so simpel, wie sie auf den ersten Blick aussehen. die fatale aktuelle Politik der Bundesregierung hat natürlich überall hin ihre Ausläufer.
Die Herzen des Publikums wird Laurent Hilaire ohnehin vor allem durch bravouröse, seelenvolle Aufführungen erobern können, und dazu sind im Ballett ab und an die Musiken und Arbeiten von Peter I. Tschaikowsky, Dmitri Schostakowitsch und vielen anderen Russ:innen unabdingbar. Man darf aber annehmen, dass Hilaire, der den Ruf eines gebildeten und kultivierten Mannes hat, auch intelligent genug ist, um das zu wissen.
Einen feinen klassischen Stil hat er auf jeden Fall – und ein Hauch französischer Strenge bei eleganter Lieblichkeit wird den Münchner Tänzer:innen sicher gut tun. Ob sie ihre Fouettés weiterhin auch russisch ausführen dürfen oder ob sie nun alle die französische Technikvariante einstudieren werden, wird man ja sehen.
Hilaire tanzte mit Sylvie Guillem und Isabelle Guérin, und seit er mit zarten 17 Jahren 1979 sein erstes Engagement in Paris antrat, umrundete er die Welt mit seiner Tanzkunst. Tokio, Mailand, Sidney sind nur einige Stationen. Und er hat nicht nur die Klassik getanzt, sondern auch Zeitgenössisches mitkreiert, so das berühmte Mozart-Stück „Le Parc“ von Angelin Preljocaj.
Darin gastierte er im Januar 2002 in der Deutschen Oper Berlin, wo er für den damals erkrankten Hausballerino Raimondo Rebeck kurzfristig einsprang. Fabien Voranger, noch blutjung, war übrigens einer der sinnlichen Gärtnerburschen darin.
„Sternen-Träume werden wahr“, titelte ich damals in einer Tageszeitung – und war begeistert von Laurent Hilaires lyrischem solistischem Flair, aber auch von seiner Befähigung, die Berliner Tänzerin Sandy Delasalle sanft und dennoch souverän zu partnern.
Etwa so: „mit raubtierhafter Geschmeidigkeit auch in der Ganzkörperführung und mit exquisiter Schnelligkeit in den kleinen Changements als hervorragende Pariser Visitenkarte.“ Und: Er war „die Leichtfüßigkeit in Person!“
Wünschen wir uns also eine erquickliche, erfreuliche, euphorisierende Zeit mit ihm, eine nicht zu mainstreamige, dennoch von Klassik, Romantik und auch modernem Charme geprägte neue Ballettära in Bayern!
Mit Highlights und einer Mindestqualität, die den vorangegangenen Jahrzehnten als Fortsetzung würdig sind.
Am kommenden Montag wird Hilaire seinen Posten offiziell antreten. Bei der Pressekonferenz heute trat er in elegantem Schokoladenbraun auf, mit glänzendem braunen Sakko über braunem Hemd. Die Brille hatte er fürs Sprechen auf Englisch – Deutsch wolle er lernen, versicherte er – beiseite gelegt.
Überlegt und souverän wirkt er, der Neue vom Ballett in München, auch wenn die Pläne für die kommende Spielzeit, die er verkündete, noch überwiegend von seinem Vorgänger Igor Zelensky stammen dürften. Verträge für ein Opernhaus macht man ja nicht innerhalb weniger Wochen.
Und vielleicht gibt es jetzt hinter den Kulissen eine Annäherung an die tolle Lucia Lacarra, die der größte Ballettstar war, den München jemals hatte – und die 2016 von Igor Zelensky unsanft aus dem Job gedrängt worden war.
Auch die Ballett-Akademie der Hochschule für Musik und Theater München sowie die Heinz-Bosl-Stiftung mit ihrem von Ivan Liska geleiteten BJBM (Bayerisches Junior Ballett München) warten auf bessere Möglichkeiten, mit dem Münchner Staatsballett zu kooperieren.
Insgesamt sind es erstmal zehn Abende, die vom Bayerischen Staatsballett ab September unter Hilaire gestaltet werden. Im Repertoire bleiben der erotische „Ein Sommernachtstraum“ von John Neumeier, „Coppélia“ von Roland Petit, der neue Sammelabend „Passagen“ und der furiose Dreiteiler „Jewels“ von George Balanchine. Wiederaufnahmen gibt es mit dem dramatischen „Romeo und Julia“ von John Cranko und der lyrischen „La Bayadère“ von Patrice Bart. Auch Bart hat übrigens viel mit Nurejew gearbeitet, sogar als sein offizieller Assistent.
Kein starker „Spartacus“ von Yuri Grigorovich, leider, er kommt in absehbarer Zeit nicht nach Deutschland zurück – während das Bolschoi in Moskau weiterhin die in den USA entstandenen „Jewels“ von Balanchine tanzt, sperrt der Westen lieber hier und da mal aus. In München betonte man allerdings, dass russische Künstler:innen nur dann entfernt werden, wenn sie sich Putin-freundlich äußern. Das ist nun allerdings auch nicht rechtmäßig und steht entgegen Art. 5 GG – aber wo kein:e Kläger:in, da kein:e Richter:in.
Zur naiven Ukraine-Freundlichkeit in dieser Gesellschaft und auch an der Bayerischen Staatsoper noch ein Wort: Das ukrainische Asow-Regiment wurde kürzlich in einem vom „Spiegel“ (endlich kann man ihn mal wieder loben) veröffentlichten Video dabei überführt, selbst die Evakuierung der Eingeschlossenen in Mariupol brutal verhindert zu haben – um das den Russen in die Schuhe zu schieben.
Wenn Sie auf Ukrainer:innen treffen, befragen Sie sie doch bitte außer nach bewaffneten Nazis auch nach den 40 Denkmälern für den Hitler-Fan und Hitler-Freund Stepan Bandera in der Ukraine. Diese wurden erst in den letzten Jahren gebaut und wurden stets von der Bevölkerung, vor allem von Frauen, mit Blumen geehrt.
Und fragen Sie auch ruhig nochmal nach Odessa im Jahr 2014. Menschen verbrannten damals bei lebendigem Leib, weil das den privat finanzierten Nazi-Trupps, die in der Ukraine ungestört schalten und walten dürfen, so passte. Es waren ja nur Gewerkschafter:innen, die man damals gezielt tötete, ebenso wie man seit acht Jahren Russ:innen in der Ukraine ungestraft ermorden darf.
Valery Gergiev hätte jedenfalls vor einigen Wochen ein Präzedenzurteil erfechten können, wenn er auf Einhaltung seines Vertrags gepocht hätte – das hätte vor allem vielen anderen Russ:innen genützt. Schließlich gibt es viele Gründe und Beweise, die Ukraine unter Selenskyj (nicht Zelensky) deutlich verabscheuungswürdig und von Nazis kontrolliert zu finden.
Dafür gibt es jetzt, zum Zeichen, dass nicht alle Russ:innen ausgesperrt werden, im Dezember 22 eine Ballettpremiere mit Tschaikowsky-Musik, die der Ukraine-Fahne-schwenkende Choreograf Alexei Ratmansky für sich noch mit Igor Zelensky klar gemacht hatte.
Wenn ich mich nicht irre, darf Mikhail Agrest, nachweislich ein Kumpel von Ratmansky und wie dieser auch schon vor dem 24. Februar 22 auf Seiten der Ukraine, dabei dirigieren.
Dass beide ohne das soziale russische Ausbildungssystem vermutlich keine professionellen Künstler geworden wären, spielt für die beiden keine Rolle mehr. Denn heute brauchen sie Russland nicht mehr, meinen sie. Oder doch: als lukratives Feinbild.
Mit einem weiter westlich, nämlich in Großbritannien, einst zum Tänzer ausgebildeten Choreografen geht es dann weiter: Paul Lightfoot darf im März 23 unter dem Oberbegriff „Schmetterling“ zusammen mit Sol Léon tänzerisch premieren. Ihre Arbeit stammt von 2005.
Der Titel für die Arbeiten von choreografierenden Tänzer:innen „Heute ist morgen“ wird erneut auch fürs nächste Jahr übernommen.
Fazit: Übertriebener Mut gehört wohl nicht zu den Tugenden des stilvollen Laurent Hilaire.
Aber sonst hätte man ihn wohl auch kaum für diesen Posten ausgesucht.
Immerhin ist in München stets auch der aktuelle Bayerische Staatsminister für Wissenschaft und Kunst, in diesem Fall also Markus Blume, persönlich bei der Bekanntgabe der neuen Pläne mit dabei. Soviel Tuchfühlung mit der Politik dürfte für Hilaire allerdings nicht ganz neu sein. Also auf ein Neues:
Bienvenue, Monsieur Hilaire! Bon séjour parmi les Bavarois!
Gisela Sonnenburg
www.bayerisches-staatsballett.de