Die nachwachsenden Choreograph:innen in Stuttgart sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Im vergangenen Jahrhundert reüssierten bei der Noverre-Gesellschaft, die es ja auch schon nicht mehr gibt, die damals jungen Genies John Neumeier, Uwe Scholz, Jiri Kylián und William Forsythe. Natürlich hängt diese Messlatte hoch. Aber auch wenn man sie wesentlich niedriger anlegt, muss man sich angesichts der zurzeit noch als Livestream online zu sehenden Show von gestern abend doch eingestehen: Emotionale Themen mit Tiefgang enden im traditionsreichen Format „Noverre: Junge Choreographen“ vom Stuttgarter Ballett auch dieses Jahr allzu rasch im Kitsch. Ansonsten dümpelt das tänzerische Geschehen glanzlos an der Oberfläche vor sich hin, mehr um Stil bemüht als ihn entwickelnd. Am schlimmsten aber ist: Nichts rührt das Herz, nichts weckt die Sinne. Im düsteren Augenschein des Modernen wird beliebiges Gehüpfe zu rasch zusammen gemixter Synthi-Musik in Form von Soundcollagen mit und ohne Rhythmus gezeigt. Freute man sich vorab noch ganz einfach auf was Neues, muss man nach dem Ansehen konstatieren: Wirklich neu ist da nichts, was an Form-Inhalts-Beziehungen präsentiert wird. Dass in diesem Jahr ausschließlich US-amerikanische und italienische Jungchoreografen randurften, stimmt auch bedenklich. Von Multikulti-Interesse kann man da ja eben nicht sprechen. Verkauft wurden die Tickets für die Show im Stuttgarter Schauspielhaus zudem als Überraschungspaket, ohne Angaben, welche Künstler:innen welche Kreationen zeigen würden. Aber dann stand schnell fest: Timoor Afshar aus den USA machte an diesem Abend den Anfang, dann folgten mit Adrian Oldenburger, Alessandro Giaquinto und dem Herrenpaar Simone Repele und Sasha Riva weitere junge Kreative, alle im übrigen männlich. Sollte einer der Herren sich mittlerweile als divers verstehen, möge man mir verzeihen, dass diese etwaige Verwandlung bisher keinesfalls ersichtlich war.
„Zeitorgan“ heißt der durchaus heterogene Versuch von Timoor Afshar, mit einer Gruppe Jungs und Mädchen der Möglichkeit nachzuspüren, einen Sinn zur Erkennung der Zeit zu beschreiben. Afshar, der junge, aber nicht mehr ganz unerfahrene Choreograf und Tänzer beim Stuttgarter Ballett hat sich von einem Satz aus Thomas Manns „Zauberberg“ anregen lassen. In diesem wird der Sehsinn poetisch ausschweifend „Gesichtssinn“ genannt und der Raumerkennung zugeordnet, während ein Sinn für die Zeit als fehlend beklagt wird.
Die innere biologische Uhr, die uns seit Jahrzehnten auch aus der Naturwissenschaft bekannt ist, war zu Thomas Manns Zeiten (der „Zauberberg“ erschien erstmals 1924) noch unbekannt. Und auch der Choreograf Afshar ist diesbezüglich auf veraltetem Bildungsstand.
Dessen ungeachtet begibt er sich auf eine Suche nach der zukünftigen Zeit.
Zwei Jungmänner tragen dabei dunkle Mäntel, zwei weitere Akteur:innen tragen Arbeiteroveralls, ein Mädchen trägt ein weißes Kleid. Stärker werden die Figuren nicht charakterisiert.
Auffallend ist das Fehlen von Emotionen bei ihnen, zu sehr strengen sich dafür vor allem die Mantelträger an, ihre Schrittfolgen einzuhalten. Sie dürfen dafür schließlich im Pas de deux mit Hebungen von Mann zu Mann brillieren, während die anderen zurückhaltend durch den Raum wabern.
Die Sphäre ist düster und fahl, und man könnte sich glatt in einem Stück von Marco Goecke wähnen, der als gloriose choreografische Entdeckung des Stuttgarter Balletts in den letzten Jahrzehnten gilt. Allerdings ist Goecke als Erfolgsgarant nicht bei allen Liebhaber:innen des Tanzes genehm; viele Menschen fühlen sich vom gepflegten Zappeln als Lebenswerk Goeckes auch schlicht angewidert.
Aber man kennt ja die zeitgenössische Erfolgsstrategie, sich an alles ranzuhängen, was gerade angesagt ist. Neu ist ein Requisit, das Goecke noch nicht hatte:
Eine rote Schnur dient der sechsköpigen Tanzgruppe von Afshar als verbindendes Element.
Die Protagonist:innen hangeln sich daran entlang, mehr gehend als tanzend. Später landet der rote Faden, den man symbolisch beliebig ausdeuten darf, etwa als Lebensfaden, der antiken Mythologie entstammend, am Boden.
Was weniger bedeutungsschwanger ist als dass es wohl der Tatsache geschuldet ist, dass der Choreograf nicht wusste, wo er sonst so schnell mit dem fusseligen Requisit hinsoll.
Eine Möglichkeit, es elegant zu entsorgen, passt erst in sein Schlussbild: Eine Tänzerin darf den Faden mit nobler Geste auf ihrem Unterarm aufspulen, Motto: eine der drei Nornen wird schon Schluss machen mit dem Vergnügen.
Ob die Düsternis der gezeigten Welt – die von einem kalten Scheinwerferlicht direkt gegenüber dem Publikum ein wenig erhellt wird – hier einem eleganten, etwas dekadenten Schönheitsideal frönen soll oder ob möglicherweise Leiden daraus resultieren kann, bleibt völlig unklar.
Man muss vermuten, der Choreograf sei ein wenig gefühlskalt.
Auch die Musik – Synthi-Sounds vom Üblichen – kann da nicht helfen.
Dem entgegen stemmt Adrian Oldenburger (auch er ist in erster Linie noch Tänzer, nicht Choreograf) denselben netten, guten, alten Walzer, dem auch Martin Schläpfer in Wien vor wenigen Monaten eine Premiere widmete: „An der schönen blauen Donau“ von Johann Strauss junior walzert wie ein Gassenhauer im Ohr.
Während Schläpfer noch originelle Kostüme und erkennbare Beziehungen inszenierte, triumphiert bei Oldenburger die äußerste Bemühung, lustig zu sein.
Ein Mann schläft in Bürokleidung in der Sonne unter einer Karodecke, und als er aufwacht, erschreckt er sich über sich selbst und flüchtet schamerfüllt nebst Decke ins Off.
Oha. Ist das schon alles, was der Choreograf an Mut von Menschen erwartet: sich in die Sonne zu legen und zu dösen?
Die Arbeitskleidung der gehobenen Büromenschen setzt sich jedenfalls hier fort. Ein Trupp Männlein und Weiblein kommt herein, in weißen Oberhemden und schwarzen Hosen. Bei einer strammen Domina mit schwarzem Jackett holen sie sich jeweils einen Aktenkoffer ab.
Es folgt synchronisiertes, teilweise in traditionellem Corpsmuster ablaufendes Hüpfen zum Köfferchen. Wie innovativ. Könnte man glatt in Computerwerbung oder in Werbespots für Büromöbel einbringen.
Die gute Laune findet einen Höhepunkt, als es um die Hüte der Büroleute geht. Da setzt doch glatt die Eine dem Anderen einen Hut auf, mit soviel Heckmeck, als handle es sich um einen Initiationsritus. Na, da geht einem doch der Hut hoch, bei soviel Frivolität!
Schließlich zelebriert ein Paar mit Blumenstrauß einen Heiratsantrag in Bürokluft, im Affentempo, weshalb das Ganze witzig wirken soll. Noch witziger: Als Gespann zu dritt hoppeln sie dann vereint über die Bühne. Das Modell eine-Frau-dient-zwei-Herren ist ja durchaus immer wieder im Gespräch als alternatives Beziehungsmodell. Mahlzeit. Und Prosit, Emanzipation!
Der Titel dazu ist im Kontext auch schon fast frauendiskriminierend: „Better late then never“ (übersetzt: Besser spät als nie). Man möchte glatt widersprechen: Es lebt sich hervorragend ohne Ehepartner, und Frauen leben statistisch gesehen sogar länger und gesünder ohne nerviges Anhängsel. Ihr nun gleich zwei davon zu empfehlen, ist vielleicht doch etwas patriarchal gedacht?
Zum Glück ist dieser Walzer nicht allzu lang.
Das dritte Stück kann allerdings auch nicht so recht berücken. „Yasuragi no chi“ heißt übersetzt soviel wie „Ein ruhiger Zufluchtsort“. Choreograf Alessandro Giaquinto – ein bildhübscher Italiener – möchte wohl eine Enklave des Friedens für Models schaffen, für homosexuelle natürlich.
Zwei Jungs oben ohne stehen zu Beginn in einem Kreis voll kalten Lichts und weißen Nebels auf der schwarzen Bühne.
Sie scheinen in einer unvollkommenen Umarmung eingefroren zu einer reglosen Skulptur. Erotisch sieht das allerdings nicht aus, vielmehr scheinen sich die beiden Männer zugleich magnetisch anzuziehen und auch abzustoßen. Darum sind sie wohl in ihrer Pose erstarrt.
Dazu das übliche Soundgemixe. Als das Paar sich aus seiner Starre löst, entspinnt sich ein gequälter Tanz, der darauf hindeutet, dass die Sexualität der beiden unbefriedigend ist.
Aber im zweiten Teil wird das besser. Ein Popsong aus der Rubrik „Alternative“ schafft eine weichgespülte Atmosphäre, und obwohl zwar nicht gerade der Frühling auf der Bühne ausbricht, kommen die beiden Männer immerhin ins körperliche Gespräch, Harmonie und Nähe deuten sich an.
Einer der Tanzenden ist übrigens der Choreograf selbst, der hier seine etwas verklemmenten Fantasien auslebt. So richtig kuscheln und liebhaben dürfen sich seine Parts auf der Bühne nämlich immer noch nicht, aber sie sind auf dem Wege, die Liebe zu lernen, so scheint es.
Ob uns nächstes Jahr die Fortsetzung dessen erwartet und die beiden es dann bis zu einer herzlichen Umarmung schaffen? Oder doch nur bis in den nächsten promiskuitiven Schwulenclub sprich in ein tanzendes Männer-Corps? Wir sind gespannt.
Nachgerade tragisch mutet das vierte und letzte Stück an. Der aus den USA stammende und in Italien aufgewachsene Tänzer Sasha Riva begann ja mal recht vielversprechend beim Hamburg Ballett mit Choreografien. Doch das ist lange her.
Riva neigt zur Abstraktion von Beziehungen zur Unkenntlichkeit, und da, wo er sich in Richtung konkreter Gefühle hätte entwickeln sollen, driftet er immer weiter ab in zählebige Gymnastik. Sein Partner Simone Repele ist da Co-Choreograf, ohne dass klar ist, wer was macht bei den beiden. So ein ganz klein wenig orientieren sie sich seit neuestem auch am derzeit oft gebuchten Marco Goecke.
Die Musik, die sie für das neue Tanzstück wählten, ist bedeutungsschwer und von starker trauriger Färbung: Sie stammt von Franz Schubert, es ist sein Streichquartett Nr. 14, angeregt von den Versen von Mathias Claudius mit dem Titel: „Der Tod und das Mädchen“.
Aus dem annoncierten Tod machen Sasha Riva und sein Gefährte Simone Repele nun kurzerhand ein Doppel, ganz wie im Tennis: zwei Gevatter Tod kommen da also einher.
Ein Portal aus Ketten hängt als Grenze zum Jenseits von oben herab. Vielleicht soll das eine Anspielung auf zu wilden und darum tödlich endenden SM-Sex sein? Oder wird der Tod als Gefangenschaft verstanden? Gar das Leben selbst als Gefangenendasein gesehen?
Vornehm benennt das Team sein Stück jedenfalls auf französisch und womöglich in Anlehnung an das weltberühmte, brillante „Le jeune Homme et la Mort“ von Roland Petit: „La jeune fille et les morts“.
Die beiden Tode tanzen die Herren Choreografen selbstverständlich selbst, und als junges Mädchen, das dem Sterben geweiht ist, gewannen sie Yumi Aizawa. Sie ist übrigens nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen japanischen Manga-Star.
Zart in ein weißes Flattergewand gesteckt und zunächst auch noch mit einer Art weißer Nachthaube mit Spitzenbesatz ausgestattet (was vielleicht ein Kostümzitat aus „Le Spectre de la Rose“ von Mikhail Fokine sein soll), tänzelt und springt Aizawa akkurat und wie schwebend über das dunkle Bühnenfeld.
Sie ist der Lichtblick in dieser ganzen Show, sie tanzt, als gelte es, die ganze Seele einer Ballerina hier in wenigen großen Sprüngen zu offenbaren.
Arglos und doch beängstigt, scheint sie ihren nahenden plötzlichen Tod zu erahnen, tapfer dagegen ankämpfend, mit einer Menge positiver Energie.
Die Herren biegen sich und schleichen sich an sie heran, erbarmungslos, und sie zögert nicht: Die junge Dame, jetzt ohne Nachtmütze, ergreift die ihr dargebotenen Hände, lässt sich entsetzt, aber wehrlos mittig von den beiden Männern abtransportieren, wie durch einen wattigen Äther schon vergeistigt.
Das war’s, man geht nachhause oder zum Kühlschrank und fragt sich, ob es eigentlich richtig ist, dass für so etwas Eintritt verlangt wird, zumal es ja von oben bis unten mit Steuergeldern finanziert wird. Aber heutzutage findet ja alles seine Fans.
Gisela Sonnenburg