Die Himmelsstürmenden Neue Besetzung mit Nicolas Gläsmann und Jacopo Bellussi in der „Matthäus-Passion“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett

Die „Matthäus-Passion“ in der Oster-Besetzung 2022 beim Hamburg Ballett. Mittig: Nicolas Gläsmann als Jesus, rechts stehend gebeugt: Mathias Oberlin als Judas. Foto: Kiran West

Der Himmel ist uns so nah und fern zugleich. Und doch immer da! Und das habt zum Zeichen: Am Anfang und am Ende der „Matthäus-Passion“ von John Neumeier zur gleichnamigen Bach’schen Musik liegt ein weißes Hemd im Lichtschein. Das Textil ist ein Symbol: für die unzerstörbare innere Unschuld. Für die Hoffnung aller auf Gerechtigkeit. Nur diese Hoffnung zählt, und das Hemd – zunächst jungfräulich und glatt, später verschwitzt und zerknittert – steht dabei auch für das Göttliche im Menschen. Was im übrigen durchaus Arbeit macht. Vier Stunden Tanz vom Feinsten, mit Erhabenheit und Mut, mit Trotz und Wahrheitsfindung, mit Präzision und Passion liegen hier zwischen A und O. Obwohl die Auferstehung nicht Thema dieses biblischen Textes ist, geht es im nach ihm entstandenen Ballett um die Auferstehung des Guten, Wahren, Schönen. Es sind wahre Himmelsstürmende, die diese choreografische Partitur tanzen. Was für eine österliche Erfahrung! Es gab nun keine passendere Gelegenheit, diese am Ostersonntag 22 zu machen, als die „Matthäus-Passion“ von John Neumeier mit dem Hamburg Ballett zu besuchen. Die Hamburgische Staatsoper war denn auch fast ausverkauft, trotz kaiserlichen Wetters und gelockerter Atmosphäre unter den Flanierenden in der Stadt. Aber ein weiterer Anreiz, in die Oper zu kommen, war die neue Besetzung, die mit Standing Ovations gefeiert wurde: Mit Nicolas Gläsmann als Jesus und mit Jacopo Bellussi als Johannes, mit Mathias Oberlin als Judas und mit Edvin Revazov als tiefsinnigstem aller Jünger, mit Xue Lin als Maria Magdalena und mit Yun-Su Park als weitere starke Frauenfigur, sowie mit 35 weiteren hervorragend trainierten Tänzer:innen. Da illustrierte sich nachgerade ein ganzer Kosmos aus göttlich-menschlichen Gefühlen. Ballettmeister Lloyd Riggins ist hierbei besonders zu bedanken, denn auf ihm, dem Stellvertreter des scheidenden Ballettgenies Neumeier, liegt zunehmend die Verantwortung für die fantastische Qualität der Aufführungen vom Hamburg Ballett.

Die Geschichte vom Verrat und von der Hinrichtung Jesus Christi, von der Aufwiegelei und der anschließenden Reue wird hier zum gruppendynamischen Prozess einer Urgesellschaft, die erst durch tiefe Reue ihre Zivilisierung findet.

Könnte es ein aktuelleres Thema geben, gerade zu dieser Osterzeit?

Nachdem Marc Jubete, der zum Spielzeitende Hamburg verlässt, am Gründonnerstag zum letzten Mal die Partie des Jesus tanzte, konnte Nicolas Gläsmann – der schon in „Hamlet 21“ beeindruckte – am Karfreitag und Ostersonntag in dieser Partie reüssieren.

Er orientiert sich dabei stark an der Interpretation, die John Neumeier selbst noch mit über 60 Jahren tanzte, und letztere lässt sich nach wie vor auf der herausragenden handelsüblichen DVD-Aufzeichnung nochmals genießen.

Schicksalstanz mit Nurejew

Ost und West, im Tanz vereint! „After the Rain“ von Christopher Wheeldon, LIVE getanzt von Lucia Lacarra und Matthew Golding, sowie drei weitere Tänze mit Moderation und Bezug zum Leben von Rudolf Nurejew plus Kultfilm „Nurejew – The White Crow“ von und mit Ralph Finnies, mit Oleg Ivenko und Anna Urban – was für ein Event! Der Film läuft im russisch-französisch-englischen Original, mit toller hörspielreifer Soundkulisse zu deutschen Untertiteln. Das gibt es nur einmal und zwar in Berlin, am Sonntag, 29. Mai 22 im BABYLON in Berlin-Mitte, für nur 24 Euro pro Ticket. Tanz im Kino mit Jugendstil-Flair! Rasch hier buchen! Foto: Leszek Januszewski / Cut: Gisela Sonnenburg

Ernst und abgeklärt, aufmerksam, aber ohne auch nur einen Anflug von Hysterie tanzt und spielt Gläsmann diese schwere Rolle. Wenn er inmitten der ihn Umstehenden wandelt, um dann und wann Einzelne von ihnen – stellvertretend für alle – zu herzen und zu umarmen, so gleicht das einem Erweckungserlebnis auf beiden Seiten.

Ritualisierung ist hier so ziemlich das Gegenteil von ihrer Definition in der Katholischen Kirche: Es geht nicht um die Wiederholung des Bekannten, sondern um die Zelebrierung von bislang Unbekanntem.

Die Neufindung von Gesten und Gebärden, von Tanzschrittkombinationen und einfach auch nur Augenspielen ist ja die Spezialität von John Neumeier.

Ostern 2022 mit der "Matthäus-Passion" von Neumeier

Gemeinsames Leid kann Trost sein: Jacopo Bellussi und Aleix Martínez in der „Matthäus-Passion“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Was seine Tänzer:innen aber wieder und wieder daraus machen, ist auch unbedingt sehenswert. In der Neubesetzung der „Matthäus-Passion“ berückt vor allem das Duo Jacopo Bellussi und Aleix Martínez: Die beiden, jeder für sich ein Hochkaräter der Tanzkunst, haben als Team, das in dieser choreografischen Inspiration oft gemeinsam agiert – mal synchron, mal einander stützend, mal einander solistisch zuspielend – so viel Weihe und Menschlichkeit, dass man wünscht, man könne auf ein da capo hoffen, damit sie ihre Tänze wiederholen.

Dieser neue Johannes ist ein sinnlicher Mann.

Jacopo Bellussi tanzt die Figur von Johannes, dem Täufer, sogar noch sinnlicher, als sie je zuvor getanzt wurde. In seinen exzellenten hohen Sprüngen manifestiert sich der Wille, das Gute und das Wahre zu verbreiten – und in seinen beteuernden, sehnsuchtsvoll schwörenden und beschwörenden Gesten drückt sich sein ganzes Wesen vornehm und erotisch zugleich aus.

Ostern 2022 mit der "Matthäus-Passion" von Neumeier

Jacopo Bellussi alias Johannes springt – in der „Matthäus-Passion“ von John Neumeier drücken solche Sprünge auch innere Befreiung aus. So zu sehen beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Johannes ist ja jener Jünger Jesu, der schon vor der Zusammenkunft mit dem biblischen Gottessohn ein Täufer ist. In der Bibel lässt sich sogar Jesus von ihm taufen.

Bei Neumeier und mit Jacopo Bellussi allemal ist er vor allem ein Ausbund des festen  Glaubens, gepaart mit einer starken Liebe zum Leben und zum Lebendigen.

Selten sieht man eine Verbindung aus Sinnlichkeit und Besinnlichkeit so deutlich!

So hilft er dem Lahmen, und er zeigt, wie das geht: miteinander zu tanzen, auch wenn der Partner – Aleix Martínez in einer seiner Glanzpartien – zunächst nur ein funktionierendes Bein zur Verfügung hat.

Trost und Hilfe bewirken hier Wunder: Gemeinsam verkünden die zwei Superballerinos in modernen Schritten quasi das Wort Gottes.

Ostern 2022 mit der "Matthäus-Passion" von Neumeier

Jacopo Bellussi (rechts) und Aleix Martínez (links) im synchronen Bekenntnis zu Jesus. Im Hintergrund Edvin Revazov und das Ensemble. So schön nur beim Hamburg Ballett zu sehen. Foto: Kiran West

Wenn Jacopo Bellussi später zeitweise an der Rampe sitzt und versonnen ins Publikum schaut oder auch auf den Stufen im Hintergrund der Bühne, gemeinsam mit Anna Laudere, die auch diesen Aufführungen wieder ihre besondere Würze aus Kühle und Leidenschaft verleiht, so ist das wie ein lebendiges Monument für das eigentlich Wesentliche im Leben.

Die nachdenkliche, tätige Befähigung des Menschen, selbst zu bestimmen, was er für richtig hält und was nicht – sie kann sich hier sowohl im Tanz als auch in der Pose wiederfinden.

Der Menschenführer Jesus nutzt diese Fähigkeit. Mit Verve ergibt sich Nicolas Gläsmann erst in dessen Berufung, dann in sein Schicksal.

Statt eines Kreuzes trägt er Judas, der angespannt-gebückt und mit angezogenen Knien über den Schultern von Jesus liegt. Mit gleichmütiger Tapferkeit schleppt Jesus diese Last.

Denunziert, verleumdet und zu Unrecht verurteilt zu werden, ausgestoßen, gefoltert, verachtet, schließlich ermordet zu werden – all das erträgt Gläsmann als Jesus mit stoischer Kraft.

Ostern 2022 mit der "Matthäus-Passion" von Neumeier

Energie, die sich mitteilt: Nicolas Gläsmann als Jesus, flankiert von Florian Pohl (rechts) und Pablo Polo (links), in der „Matthäus-Passion“ von John Neumeier. Hinten oben: Xue Lin. Foto: Kiran West

Mathias Oberlin als Judas und somit als Jesus‘ Gegenspieler ist zwar noch sehr jung und vielleicht in solchen Rollen zu unerfahren, um mit allen Körperfasern die Niedertracht in Person darzustellen. Aber er zeigt – vor allem im ersten Teil der Passion – eine sehenswerte Neuinterpretation.

Sein Judas ist dynamisch-aggressiv, wirkt manchmal wie ein Raubtier, das blutdürstig und angriffslustig und von daher stets wie auf dem Sprung ist.

Wer noch Carsten Jung (seit 2011) oder Dario Franconi (bis 2019) in der Erinnerung hat, wird deren reife Darstellungsweise ein wenig vermissen. Sie verkörperten das Verschlagene, Trügerische, auch Sadistische des Judas mit jedem Atemzug. Aber Oberlin wird in die Rolle hineinwachsen, er zeigt untrüglich genau die richtigen Ansätze dazu.

Nun wurden einige choreografische Passagen zwar nicht verändert in den letzten Jahren, aber anderen Figuren zugeschrieben.

Manche dieser Umwidmungen betreffen Judas, andere Johannes und Jesus.

Judas muss hier auf sein großes Reue-Solo des Zweifelns und Verratens, der Selbstvorwürfe und des Kampfes aus Hass und Liebe in ihm verzichten.

Ostern 2022 mit der "Matthäus-Passion" von Neumeier

Karen Azatyan im erschütternden Solo mit Turnschuhen – in der „Matthäus-Passion“ von John Neumeier. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Karen Azatyan als typisch wankelmütiger Gefolgsmensch tanzt es, und in Turnschuhen (einige der männlichen Tänzer tragen hier Turnschuhe) wirkt es sanfter als im Original barfuß. Aber Sinn macht diese Verschiebung von Tänzer zu Tänzer: Das Mitläufertum ist – und das ist durchaus eine aktuell passende Interpretation – heute das größere Problem, nicht der Verrat durch einen außenstehenden Einzelnen.

Die Käuflichkeit, für 30 Silberlinge dem eigenen Neid freie Fahrt zu lassen, bereut Judas, und letztlich erhängt er sich. Doch das Solo behält, situationsunabhängig, seine Kraft:

Da knallen die geballten Fäuste auf die Brust des Renegaten, der Körper biegt und windet sich vor psychischem Schmerz. Reue geht hier durch und durch.

Aber es gibt auch weitere Veränderungen, zumal seit der Uraufführung.

So tanzt das große Solo des Johannes mit Maria Magdalena – die von Xue Lin mit exquisit verzweifelter Hoffnung getanzt wird – mittlerweile Jesus.

Bei dessen Kreation traute sich Neumeier noch nicht, einen so weltlich-männlichen Pas de deux vom Gottessohn darbieten zu lassen.

Mittlerweile – und zwar schon seit 2016, soweit ich weiß – ist ihm das aber möglich. Und Nicolas Gläsmann führt Xue Lin in die höchsten Sphären der Innigkeit, lässt sie posieren, während er sie dreht, hält schützend und auch begehrend die Hand über sie, wenn sie sich vorbeugt.

Trotzdem hätte man nun gerade in dieser Besetzung den aufregendsten Paartanz des Stücks gern von dem sinnlichen Johannes alias Jacopo Bellussi mit Xue Lin gesehen.

Gen Ende der vier Stunden immerhin bleiben ihnen ein paar gemeinsame Drehungen – und das Flair von Mann und Frau, das durchaus auch diese biblische Geschichte mit prägt, strömt von der Bühne.

Immerhin ist Johannes jener schöne Mann, der später der dekadenten Königstochter Salome in die Hände fallen wird und durch sie, weil er sie verschmäht, zu Tode kommt.

Doch das ist Wasser, das erst nach dem Ende des Stücks in die Ewigkeit fließt.

Hier gehört Johannes zu jenen wenigen Aufrechten, die sich nicht aktiv an der Hatz auf Jesus beteiligen, nachdem er von Jesus verraten und den römischen Häschern ausgeliefert wurde.

Ostern 2022 mit der "Matthäus-Passion" von Neumeier

Nicolas Gläsmann wie eine Jesus-Statue mittig, umgeben vom Hamburg Ballett mit der „Matthäus-Passion“ von John Neumeier. Lizhong Wang auf Edvin Revazov (halblinks stehend). Links außen: Christopher Evans. Foto: Kiran West

Yun-Su Park, Christopher Evans, Alessandro Frola und Louis Musin füllen ihre Rollen der Gläubigen, die dennoch zum hassenden Mob werden und erst durch die Reue wieder ihr Gleichgewicht finden, voll aus.

Es ist so erhebend zu sehen, wie sich die Tänzer:innen hier entwickeln und jede und jeder für sich Wege zu dieser zugleich spirituellen und gruppendynamischen Choreografie finden.

Wie immer fällt Priscilla Tselikova hier mit rückhaltloser Hingabe auf.

Ana Torrequebrada, Emilie Mazon, Hayley Page, Madoka Sugai, Georgina Hills, Viktoria Bogdahl, Yaiza Coll sowie bei den jungen Herren Borja Bermudez, Lasse Caballero, Pablo Polo, Artem Prokopchuk, Ricardo Urbina, Lizhong Wang und Aleksa Zikic, aber auch Olivia Betteridge, Giorgia Giani, Francesca Harvey, Paula Iniesta, Ayumi Kato und Charlotte Larzelere, Madeleine Skippen, Ida Stempelmann, Hermine Sutra Fourcade sowie Francesco Cortese, Louis Haslach, Pietro Pelleri, Florian Pohl, Eliot Worrell und Ilia Zakrevskyi bilden ein Ensemble, das mit Anmut und Würde das aufwühlende Geschehen von Schuld und Vergebung zu tanzen und darzustellen weiß.

Die Damen haben hier oft starke Kleingruppentänze, und sowohl die Beziehungen zueinander als auch zu den männlichen Corps-Mitgliedern sind spannend zu beobachten.

Die Herren dann wissen ihre kraftvolle Ausstrahlung einzusetzen, zumal sie die agierenden, weniger die reagierenden Passagen beginnen.

Die Frau trägt die meiste Last: Yun-Su Park mit Alexandre Frola und Lasse Caballero in der „Matthäus-Passion“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Und wenn einer der Tänzer gen Ende seine Faust gen Himmel reckt, um Jesus anzuklagen und ihn zu verdammen, so sammeln sich flugs weitere um ihn, stärken seinen hochgehaltenen Arm mit Anschlägen und Umfassen – und folgen blindwütig seinem von Hass genährten Kampfgeist.

Judas mutiert nach seinem Verrat – wobei hier nicht er Jesus, sondern Jesus ihn küsst – zum Richter Pontius Pilatus, der auf Wunsch der brodelnden Volksseele das Todesurteil über Jesus spricht. Der charismatische Christenführer wird zum Sündenbock, abgestempelt und verunglimpft. Schließlich am Kreuz zu Tode gebracht.

Rechts vorn auf der Bühne, wo ein roter Teppich eine Art Hotspot des emotionalen, gottverbundenen Geschehens markiert, werden Bänke zu einem „T“ gestapelt. Dort nimmt der Jesus-Tänzer eine Pose ein, die an die des Gekreuzigten erinnert.

Ein letztes Mal hält er Zwiesprache mit Gott, seinen Körper langsam dehnend und biegend.

Kaum ist er verschieden, setzt ein Umdenken ein. Die Masse Mensch ist wider Erwarten ergriffen und zunehmend von sich selbst entsetzt. Was haben sie getan, die dachten, die hätten das Recht, jemanden aus purem Hass zu verurteilen und hinrichten zu lassen?

Ach, wäre die Menschheit doch auch so einsichtig, wenn es um Mobbing und Vertuschung geht, um Unrecht jedweder Art, um emotionales wie juristisch relevantes Fehlverhalten.

Aber da werden wir wohl noch lange warten müssen. Menschen sind nicht ganz so fein oder auch nur anständig, wie sie oft von sich glauben.

Ostern 2022 mit der "Matthäus-Passion" von Neumeier

Eindrucksvoll: Nicolas Gläsmann als Jesus auf rotem Boden, Zwiesprache mit Gott haltend. So zu sehen beim Hamburg Ballett in Neumeiers „Matthäus-Passion“. Foto: Kiran West

Irrtümer und die Bereitschaft, sich aufwiegeln zu lassen, gehen oft Hand in Hand – und gedankenloses Mitläufertum und Duckmäuserei werden es immer wieder ermöglichen, dass die Besten geopfert werden.

Die Schlusspose zeigt das Ensemble in ernsthafter Ruhe der Zukunft entgegen harrend, nachdem ein Ausfallschritt nach rechts mit einer flachen und gerade statt auswärts gehaltenen Attitude nach vorn kombiniert worden war.

Es ist, als seien die Karten neu gemischt worden. Die nächste Spielrunde kann beginnen. Ob wieder jemand vernichtet wird?

Die „Matthäus-Passion“ von John Neumeier ist ein einmaliges Meisterwerk, in ihrer designten Dichte und inhaltlichen Konsistenz unerreichbar.

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Sie wurde in ihrer vollständigen Version 1981 in der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführt. Die erste Version Neumeiers premierte unter dem Titel „Skizzen zur Matthäus-Passion“ zuvor schon in der Kirche Sankt Michaelis (also im „Michel“) in Hamburg, und zwar am 13. November 1980, nicht am 10. November 1980, wie es fälschlich auf den österlichen Programmzetteln von diesem Jahr steht.

Die Information auf dem Programmzettel ist auch insofern falsch, als dort die Premiere der „Skizzen“ als Premiere der „Matthäus-Passion“ genannt wird. Im Online-Archiv vom Hamburg Ballett sowie in älteren Büchern sind die richtigen Daten einzusehen.

Fakt ist: Für nächstes Jahr werden Aufführungen des ganzen Werkes im „Michel“ geplant, als Festakt der letzten Hamburger Ballett-Tage unter John Neumeiers Ägide.

Dort wird man dann die Musik vielleicht auch wieder live hören. In der Oper wird stets eine sehr schöne Aufnahme von 1980 eingespielt, und zwar von einer Aufführung des Balletts im „Michel“.

Peter Schreier sinkt dort mit beeindruckend fester, dennoch sanftmütig barmender Stimme den Jesus. Bernd Weikl, Mitsuko Shirai, Marga Schiml und Franz Grundheber sind weitere stimmliche Höhepunkte.

Vor allem aber dirigiert Günter Jena, der musikdramaturgisch für John Neumeier damals ein wichtiger künstlerischer Partner war.

Der Vorteil der Tonträgereinspielung: Sie erlaubt, weil sie leiser ist als ein Live-Orchester mit Chören und Sänger:innen, dass man sich den Tänzer:innen noch näher fühlen kann. Denn deren Atemgeräusche und Tanzsounds passen durchaus zum Aufführungserlebnis, dessen spirituellen Dimensionen dem sinnlichen Effekt des Balletts keineswegs ein Ende setzen.

Es mag auch kein Zufall sein, dass die Wiederentdeckung der „Matthäus-Passion“ durch Felix Mendelssohn Bartholdy die Renaissance von Johann Sebastian Bach als genialem Komponisten einläutete. 1829 ließ der junge Romantiker das Bach‘sche barocke Mammutwerk – in einer eigenen Bearbeitung – in Berlin aufführen. Erst seitdem zählt Bach wieder zum unverzichtbaren Kanon unserer Kultur.

Ostern 2022 mit der "Matthäus-Passion" von Neumeier

Kurz vor Ende des vierstündigen Mammutwerks „Matthäus-Passion“ erscheint das Ensemble in dieser Pose: in einer flachen Attitude vor, die sowohl Neutralität als auch Zuversicht ausdrückt. Foto vom Los-Angeles-Gastspiel 2022 vom Hamburg Ballett: Kiran West

International ist dieses Stück als Neumeier-Ballett aber auch schon längst ein Begriff. In Berlin, Lausanne und Luxemburglief es als Gastspiel schon 1982 und 1987 (in Berlin-Ost). In New York wurde es auch schon zwei Mal bejubelt: 1983 und 1985. In Hiroschima und Tokio wurde es 1986 gezeigt. In Venedig, Paris und Amsterdam lief es sowieso. Und 2017 in Moskau. Und 2022 in Los Angeles.

Außer John Neumeier wird wohl niemand fast alle Vorstellungen gesehen haben. Aber viele haben das Stück mehrfach genossen, gern auch in den verschiedenen Besetzungen.

Und so freut man sich auf nächstes Jahr, wenn die „Matthäus-Passion“ im Sommer wieder in die Kirche einzieht. Die Himmelsstürmenden, sie werden wieder tanzen!
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

 

 

 

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