Der Herr der Begebenheiten Dresdens Ballettdirektor Aaron S. Watkin kann nach 8 Jahren Aufbauarbeit so Einiges ernten – und präsentiert seinen klugen „Nussknacker“

Aaron S. Watkin im Gespräch in seinem Büro

Gelassen, graziös, intelligent: Dresdens Ballettdirektor Aaron S. Watkin. Foto: Gisela Sonnenburg

Schon Oscar Wilde wusste: „Nichts ist so aufreizend wie Gelassenheit.“ Gelassenheit und Geduld sind auch Stärken des Dresdner Ballettdirektors Aaron S. Watkin. Seit 8 Jahren leitet er das Semperoper Ballett – und hat jetzt mehr Erfolg denn je. Dabei ist er kein kühl spekulierender Kulturmanager, sondern er versprüht das Flair eines Künstlers, der offen ist für Inspiration und, metaphorisch gesprochen, für osmotischen Austausch mit seiner Umgebung. Dass er auf hohem Niveau Dresdner Lokalkolorit auf die Ballettbühne bringt, und das gleich in mehreren Stücken, bezeugt sein Interesse an seinem Publikum. Dass er dieses erreicht, bezeugen wiederum die Verkaufszahlen. Mag sein, dass Watkin auch eine knallharte geschäftliche Seite an sich hat. Vor allem aber hat er etwas Verträumtes im Gesicht, eine lässige Begeisterung für seine Sache, die sich mit jeder Geste und Silbe von ihm mitteilt. Damit hat er stets ein Argument mehr.

Nach seiner Karriere als Tänzer – er war sowohl klassischer Tänzer in diversen Compagnien als auch Erster Solist bei William Forsythe und Nacho Duato – arbeitete der 1970 geborene Kanadier 5 Jahre freiberuflich: als choreografischer Assistent, Coach und Gastlehrer. Das waren sozusagen zweite Lehr- und Wanderjahre für ihn. Vor allem die erneute Zusammenarbeit mit „Bill“ Forsythe – auch als dessen choreographischer Assistent – prägte ihn. Dann übernahm Watkin 2006 das derzeit fast 70 Tänzerinnen und Tänzer umfassende Dresdner Ensemble – und wusste aufgrund seiner vorherigen Erfahrungen genau, was er wollte: weder nur Klassik noch nur Moderne. Sondern eine zugkräftige Verbindung der beiden Welten, die im Ballett allzu oft immer noch nahezu separiert nebeneinander stehen.

Spagatsprung, wie er sein soll

Ein atemberaubend schöner Spagatsprung, nicht zuviel und nicht zuwenig gestreckt, und im Ausdruck so lieblich wie abenteuerfroh! Die Ukrainerin Anna Merkulova tanzt hier die Marie im „Nussknacker“! Foto: Costin Radu.

„Ich bin froh, dass ich mir zunächst die Klassik ertanzt habe und dann zu William Forsythe ging“, sagt Watkin. Denn einen Weg zurück hätte es nicht gegeben. Und: So richtig konzis tanzt man Forsythe vermutlich nur, wenn man all die Klassik, die der avantgardistische Amerikaner in seinen Werken zwar nicht zitiert, aber konnotiert, bereits im Körper hat. Die Dialektik von Klassik und Moderne ist für Aaron S. Watkin weiterhin eine wegweisende Inspirationsquelle. Auch sein Ensemble, das viele große, zudem sehr verschiedenartige Talente beherbergt, hat er im Hinblick auf die Spannung zwischen Klassik und Moderne konstituiert. „Die mehr klassisch ausgerichteten Tänzer inspirieren die anderen Tänzer, die eine moderne Orientierung haben – und umgekehrt“, sagt Watkin. Und er kann dabei ganz entspannt und glücklich lächeln. Weil es tatsächlich so ist und nicht nur so sein sollte.

Und was oder wen hat Aaron S. Watkin seit Amtsantritt nicht alles an Land gezogen! Stars wie den Weltballerino Jiří Bubeníček und die Kultballerina Polina Semionova. Ballettmeister wie den versierten Gamal Gouda, der sein Erster Ballettmeister wurde. Die konsequente Trainingsleiterin und choreografische Assistentin Laura Graham. Engagierte Coachs wie Rebecca Gladstone und Daniel Chait. Auch Gastdirigenten, die auf Ballett spezialisiert sind: zum Beispiel Eva Ollikainen und Benjamin Pope. Und, für die Stücke: Etablierte Choreografiestars wie John Neumeier vom Hamburg Ballett, aber auch Shooting Stars wie den Bolschoi- und US-Choreografen Alexei Ratmansky (der dank Aaron endlich eine Lizenz erhielt, zur geliebten Musik von Richard Strauss zu choreografieren, was Ratmansky mir stolz berichtete). Nachwachsende Choreografen wie Johan Inger und Stijn Celis sind ebenfalls in Dresden dabei. Und noch jüngere Choreografen wie Pontus Lidberg. Natürlich steht aber auch William Forsythe auf dem Programm des Semperoper Balletts. Besonders erfolgreich sogar, was jenseits des Fachpublikums hinzukriegen nicht eben einfach ist. Aber: Soeben absolvierte Watkins Truppe ein Gastspiel in Paris, mit einem Abend, der nur aus schwer zu tanzenden Choreografien von William Forsythe bestand. Resultat: Die Dresdner wurden von den Parisern, einem wirklich wichtigen europäischen Publikum für Tanz, umjubelt!

Die "Artifact Suite" von William Forsythe

So akkurat und doch so leidenschaftlich tanzt das Semperoper Ballett die schwierigen Choreographien von William „Billy“ Forsythe. Hier die „Artifact Suite“, vorn: Elena Vostrotina. Foto: Costin Radu

Im Ausland weiß man die spezifischen, verschiedenen Befähigungen der Dresdner Compagnie eben zu schätzen. Für die nächste Saison sind bereits 6 Tourneen geplant, die Anfragen häufen sich – und im Februar 2015 wird eine internationales Aufsehen erregende, doppelte Uraufführung zum somit endlich ballettös werdenden Thema „Tristan und Isolde“ in Dresden erwartet. Choreografie: Der feinsinnige David Dawson. Musik: Szymon Brzóska, es ist eine Auftragsarbeit. Dawson schuf bereits eine modern-dramatische, mit der klassischen Ästhetik spielende „Giselle“ in Dresden. Aber die Verbindung zu Watkin ist noch älter: Aaron Sean Watkin, wie er mit vollständigem Namen heißt, lernte bei Dawson, indem er ihm in seiner freiberuflichen Zeit assistierte. Rückblickend kann man sagen, dass keine berufliche Station Watkins auch nur irgendwie oberflächlich gewesen wäre. Es ist bei ihm, wie sich die Romantiker die Welt vorstellten: Vernetzungen führen kreuz und quer und vor und zurück und tief hinein in die Vergangenheit und weit hinaus in die Zukunft.

Erotische Exotik im "Nussknacker"

Die modern ausgerichtete Tänzerin Jenni Schäferhoff verkörpert im „Nussknacker“ die erotische Exotik. Foto: Costin Radu

Aaron S. Watkin hat nun mal den Dreh raus, Künstler und Begebenheiten zu verbinden. Mag sein, dass sein ausgeprägtes Sprachtalent, das er von mütterlicher Seite erbte, dazu auch beiträgt. Vor allem aber ist er jemand, der für seine Sache brennt, ganz unkompliziert, ohne Allüren oder unvorteilhafte Bedenken zu haben. Sogar im ohnehin an Besessenheit keinen Mangel verzeichnenden Ballettbetrieb fällt Watkin damit auf. Dabei war – kaum zu glauben – Ballett bei ihm eine Liebe auf den zweiten Blick.

„Als ich ein Kind war, war ich fasziniert von Dingen, die mit Rhythmus zu tun haben“, erklärt er freundlich auf die Frage, wie er eigentlich zum Tanzen kam: „Ich begann mit Steptanz, und ich war sehr angetan von Fred Astaire und Gene Kelly.“ Er war fleißig und gut, nahm an Wettbewerben teil, erhielt zusätzlich Jazzdance-Unterricht, und irgendwann meinte sein Lehrer, er solle es doch auch mal mit Ballett versuchen. Aber Aaron lehnte ab. Er hatte kein Interesse. Zu melodiös. Als er 12 Jahre alt war, nahm seine Schwester an der Aufnahmeprüfung der kanadischen National Ballet School teil. Man schickte den begabten Jungen auf Verdacht mit hin. Sie wollten ihn sofort in Toronto. Er ging zuerst nur für die Sommerschule hin, dann blieb er da.

BALLETT ALS LIEBE AUF DEN ZWEITEN BLICK

So richtig mochte er Ballett dennoch erst nach vier Jahren steten täglichen Unterrichts: „Vorher fehlte mir die Geduld, um das Ballett zu lieben. Dieses harte Arbeiten, diese hohen Ansprüche und dazu das jeden Tag doch recht ähnliche Training. Mir fehlte da zunächst die Abwechslung.“ Aaron machte als Kind, was man ihm sagte, weil er gut darin war. Bis er – menschlich mit knapp 16 Jahren deutlich gereift – einen Sinn, sogar einen Lebenssinn, in der Sache selbst erkennen konnte. Man erinnert sich bei dieser Begebenheit an Natalia Osipova, der aktuellen Bolschoi-Starballerina und großen Künstlerin, die auch erst mitten in der Pubertät das Ballett lieben lernte – und es vorher wie einen Sport betrieb.

Bei Aaron allerdings implodierte sein Talent für Tanz, nachdem er einmal auf der richtigen Spur lief. Außer dem Tanzen an sich begeisterte er sich plötzlich für die Teamwork im Ballettsaal. Abgucken und abgucken lassen, sich gegenseitig etwas beibringen, sich helfen, besser zu werden, neue Ideen ausprobieren, das Coaching – Watkin war schon früh eine Art Ballettdirektor.

Gruseleffekte und Schauerelemente

„Der Nussknacker“: ein kinderreiches Ballettstück – mit weihnachtlicher Gruseleinlage… Foto: Costin Radu

Er hatte damals einen „Arbeitsfreund“ an der Ballettschule in Kanada, mit dem er auch heute wieder eng kooperiert: Jason Beechey, Leiter der Palucca Hochschule für Tanz in Dresden. Beechey wurde auf Anraten von Watkin engagiert, damit die Verzahnung der Profi-Truppe der Semperoper und der renommierten Ausbildungsstätte begünstigt wurde. Das imposante Ergebnis dieser Kooperative: der aktuelle Dresdner „Nussknacker“, der 2011 erstmals premierte.

Rund 70 Kinder und Studenten – in zwei Besetzungen – wirken mit. Watkin hat das Libretto aufpoliert und mit psychologischer Substanz angereichert. Choreografiert hat er es zusammen mit Beechey, dem alten Schulfreund, der jetzt den Nachwuchs ausbildet. Aus dem „Nussknacker“ ist ein tiefgründiges Stück über Kinder, ihre Ängste und Konflikte, aber auch über ihre Möglichkeiten, diese zu verarbeiten, geworden. Auch Eltern können davon lernen, sofern sie über die dekorativ-prachtvollen Bühnenbauten und Kostüme nicht vergessen, worum es in der Kunst essenziell geht. Vieles hier ist zwar wie im klassischen „Nussknacker“, allerdings ist es mit einem neuen psychologischen Gerüst versehen.

So steht das „Land der Süßigkeiten“, das angesichts der schlanken Figuren der Tänzer und Tänzerinnen oft widersinnig und vom heutigen Ernährungsstandpunkt aus betrachtet auch grotesk erscheint, für eine bestimmte Symbolik: für eine menschenfreundliche, von Liebe und Zuneigung, von „sweetness“ geprägte Sphäre.

Jiri Bubenicek

Startänzer Jiri Bubenicek tanzt im Dresdner „Nussknacker“ – hier bei einer seiner begeisternd fulminanten Sprungfiguren. Foto: Costin Radu

Mit einladenden Gesten erklärt Aaron S. Watkin sein Konzept: Es geht ihm im „Nussknacker“ um die Gegenwelten der Erwachsenen und der Kinder. Die Ängste, die das Mädchen Marie hat, zeigen sich in ihrem Traum. Ein veritabler Alp: Da sind die menschengroßen Mäusen, die Maries Traumprinz, der Nussknacker, bekämpfen muss. Das sind keine poussierlichen Tierchen wie aus Disneyland. Sondern sie haben eine allegorische Funktion, stehen für das wahrhaft Monströse. Sie verkörpern die bösen Erwachsenen, die dem Kind den Freiheitsdrang und die Selbstbestimmtheit nehmen. Das kann man auch extrem ausdeuten: Dann stehen die überdimensionalen Nager sogar für Pädophile, von denen eine von Kindern oft unbewusst empfundene Gefahr ausgehen kann. Der Horror, den Kinder und Teenager oft haben, hat ja reale Ursachen und wird von ihrem Unbewussten eben nicht nur zur Unterhaltung erfunden.

Watkin bietet Konfrontation mit den Ängsten als Lösung an: Am Ende, nach dem bestandenen Kampf gegen die Mäuse und einer sich anschließenden paradiesischen, auch therapeutischen Reise durchs „Land der Süßigkeiten“ – unter Aufsicht der im Traum modifizierten Eltern in Person der Zuckerfee und ihrem Gemahl – behält die Heldin Marie eine Trophäe bei sich. Die nimmt sie mit, zurück in die trist-reale Welt der Erwachsenen. Es handelt sich um die Krone des besiegten Mäusekönigs. Des Märchens Lehre: Das Böse kann durch die Bewusstmachung mittels Traumarbeit, wie es schon Sigmund Freud beschreibt, abgewehrt werden.

Nussknacker István Simon

„Der Nussknacker“ (István Simon) macht im Traum mehr als nur einen großartigen Sprung. Foto: Costin Radu

An dieser Stelle sei ein Einschub erlaubt: Es gibt in der Vielzahl heute vorhandener Therapien für traumatisierte Menschen die Methode der Umwidmung, mit der bestimmte Träume und Erlebniserinnungen im Hinblick auf eine Ego-Stärkung verändert werden sollen. Watkins Vorgehen ist durchaus ähnlich, wenn es auch mit theatralen Mitteln statt mit therapeutischen funktioniert. Dafür bietet Ballett dem großen Kollektiv – dem Publikum – eine Lösung an, statt nur einzelnen Individuen. Ballett als Hilfe zur Selbsthilfe.

Und noch etwas zeichnet den Dresdner „Nussknacker“ aus, auch etwas Heutiges, wenn man so will. Watkin wendet nämlich einen Kunstgriff an, mit dem er auch bei der Neuinszenierung von Balanchines „Coppélia“ und bei seinem Dresdner „Dornröschen“ zum Zuge kam: Er verleiht der Inszenierung handfest städtisches Dresdner Flair. Lokalkolorit. Dieses neudeutsche Wort ist Watkin, der neben sehr schönem Englisch auch gutes Deutsch spricht, übrigens fremd. Er ist Künstler, kein Journalist. Aber das von ihm befolgte Prinzip kann gar nicht besser beschrieben werden als eben mit: Lokalkolorit.

Der Nussknacker mag Glühwein

„Der Nussknacker“ auf dem Dresdner Striezelmarkt! Oder doch in der Semperoper? Natürlich, es ist ja Ballett! Foto: Costin Radu

Da mutiert die „Nussknacker“-Szenerie zum Striezelmarkt, dem berühmten Dresdner Weihnachtsmarkt! Munter reihen sich die Verkaufbuden auf der Bühne aneinander. Und nicht nur die Touristen in Dresden, sondern gerade die einheimischen Leute wollen genau das sehen, obwohl sie den „realen“ Striezel auf dem Altmarkt bereits gut kennen. Erneut bestätigt sich eine Freud-These, auch Jacques Derrida hat über solche Phänomene geforscht und sie beschrieben: Es ist immer das Bekannte, das wir begehren – und zwar am meisten, wenn es in neuartiger Verkleidung daher kommt.

Bekannt ist in Dresden das, was man sächsische Lebensart nennen könnte. Die hat Tradition, geht auf August den Starken zurück, schlug sich in barocken Parkanlagen, Architekturen, Bäckereiprodukten nieder. Die Semperoper, vom Architekt auch des Wiener Burgtheaters Gottfried Semper gestaltet, ist ein gutes Beispiel für die Lebensfreude ausstrahlende, auch repräsentative sächsische Pracht. In der Außenfassade und noch stärker innen – etwa mit der Deckengestaltung des Zuschauerraums – herrscht das Üppig-Sinnliche in zivilisierten Formaten vor.

Glanz und Gloria - aber auch sächsische Lieblichkeit. Die Semperoper

Die Semperoper bei Nacht: ein glamouröser Anblick. Foto: Matthias Creutziger

In Dresden spielt der liebliche sächsische Barock eine große Rolle; das Flair des „Elbflorenz“, wie man Dresden auch nennt, ist es wert, von Theaterkulissen nicht nur reproduziert, sondern auch stilisiert und verfremdet zu werden. Welch Lichterglanz! Welch üppige Schönheit der Architektur! Und dann auch noch: Welche Historie! Man wäre als Ballettdirektor, der für die Maßstäbe der Ästhethik zuständig ist, wirklich dumm, das nicht zu nutzen. Aber vor Aaron S. Watkin kam keiner drauf. Er hat einmal mehr gezeigt, dass bedeutende Ideen oft die einfachen oder zumindest nahe liegenden sind.

Minutiös durchgestylt ist die Ausführung dieser Idee, ist dieser „Nussknacker“. Bestechend schön ist etwa die Schneeszene auf freiem Feld, wo Watkin eine Schneekönigin mit ihrem Gefolge aus menschlichen Schneeflocken und Eiszapfen auftanzen lässt. Poesie pur – und ein „Weißes Ballett“ in kurzen Tellertutus, das munter macht und der Handlung zugleich eine weitere Traumebene verleiht. Das Bühnenbild im Hintergrund (kreiert von Roberta Guidi di Bagno) liefert filigrane Muster als Geäst statt realistisch gemaltem Wald – eine Augenweide! Dazu dann noch die flirrende, leichtlebig-harmonische Choreografie zur unbezahlbar guten Musik von Peter I. Tschaikowski (die von der Sächsischen Staatskapelle exzellent gespielt wird). All das ergibt: Brillanz, die unter die Haut geht!

Die utopische Schönheit ist hier zugleich die Gegenwelt zum frühromantischen Schauer, den die Alice-in-Wonderland-ähnlichen Szenen zuvor evozierten. Denn Marie erlebt die Welt der Erwachsenen als unmäßig grob und groß, sie liegt auf dem roten Sofa wie auf einem fremden Planeten, nicht wie auf einem Möbelstück. Kindliche Ohnmacht bahnt sich ihren Weg – und wird erst mit der restlosen Akzeptanz der eigenen Wunschwelt abgelegt. Als sie von ihrer heilsamen Traumreise zurück kommt, kann Marie der sie weckenden Mutter stolz die Beute vorzeigen: Die Krone des Mäusekönigs als doppeltes Beweisstück, einerseits für den Sieg des Guten über das Böse, andererseits für die Realität der Kämpfe der menschlichen Psyche.

Der Nussknacker tanzt im Traum eines Mädchens mit seiner Braut

EIn schönes Paar im wichtigen Traum eines Mädchens: Anna Merkulova als Marie und István Simon als ihr zum Prinzen verwandelter Nussknacker. Foto: Costin Radu

Hochfliegend ist die Poesie, die Ballett vermittelt, knallhart hingegen die Arbeit im Ballettsaal: Alles muss immer wieder schön eingeübt und geprobt werden, auch das laufende Repertoire betreffend. Als ich zusehe, geht es um eine neue Besetzung im „Nussknacker“: Anna Merkulova, Solistin, ist brandneu als Zuckerfee, mit Denis Vegeny (Erster Solist) als ihrem Gemahl. Beide haben in ihrem Pas de deux hier knifflige Fouettés und Pirouetten zu absolvieren, die präzise und rhythmisch pointiert sein müssen. Aaron S. Watkin leitet die Probe – und erklärt mit anmutig gestikulierenden Händen, dass hier Synkopen in der Musik liegen, die auch tänzerisch vorhanden und also zu sehen sein müssen. Wenn er zudem im Stehen coacht, spricht er zwar auch wörtlich dabei klipp und klar, sagt, was Sache ist. Aber sein Körper unterstützt diese Sprache: wie tänzelnd, die Beine dazu ballettmäßig auswärts gedreht und sich insgesamt graziös in Schwingungen befindlich. Ein erfreulicher Anblick!

Anna Merkulova im "Nussknacker"

Hier tanzt Anna Merkulova (in der Mitte) im „Nussknacker“ – aber noch nicht die neue Rolle… Foto: Costin Radu

Seine Tänzer hören ihm aufmerksam zu. Denis, gebürtiger Russe, Gewinner des 3. Prix de Lausanne 1999 und seit 2008 in Dresden, steht frisch und fit da, gerade wie eine Eins, als hätte er heute noch gar nichts gearbeitet. Dabei ist er schweißnass und wird am Abend noch bravourös eine Vorstellung tanzen. Dennoch dreht er auch auf der Probe seine mehrfachen en-dehors-Pirouetten voll aus: so flink, so schnörkellos und so akkurat, als sei er nur dafür auf der Welt. Ein vorzüglicher „Turner“, dem auch die Rhythmisierung nicht schwer fällt. Nun ja, er kennt sie auch schon, tanzte das Stück ja schon oft auf der Bühne.

Seine Kollegin Anna ist hingegen leicht erschöpft. Für sie, die bisher das Mädchen Marie im „Nussknacker“ tanzte, sind diese verzwickten Schrittfolgen ganz neu. Und auch, wenn sie sie einzeln schon sehr gut beherrscht, so stellen sie in der Kombination mit dem schwierigen Rhythmus doch eine ziemliche Herausforderung dar. Aber, kein Zweifel, Anna Merkulova, die mit Preisen auch schon überhäufte, sportlich proportionierte Ukrainerin mit einer mädchenhaft-kokettierenden Ausstrahlung, sie wird es bestens meistern!

"Nussknacker" und Ballettsaal - Aaron S. Watkin in der Dresdner Semperoper

Seine Tänzer hören ihm aufmerksam zu: Aaron S. Watkin (hier sitzend) bei einer „Zuckerfee“-Neubesetzungsprobe für den Dresdner „Nussknacker“. Foto: Gisela Sonnenburg

Das Besondere an dieser Zuckerfee ist ja übrigens, dass sie einen Gemahl hat, den das ursprüngliche Libretto nicht kennt und den Aaron S. Watkin ihr gedankenvoll an die Seite stellte. „Ich wollte es keinen König sein lassen“, sagt er, „denn Könige stehen so oft über ihrer Frau. Hier ist sie die Hauptperson, und es ist wie in England mit der Queen: Er darf zwar der Gatte sein, aber nicht ihr Oberhaupt.“ So spitzfindig und doch so einleuchtend kann man im Ballett Emanzipationsgeschichte betreiben. Wenn das nicht Vorbildcharakter hat, weiß ich nicht, wie man klassischen Tanz heute präsentieren soll.
Gisela Sonnenburg

„Der Nussknacker“: Termine siehe oben im „Spielplan“

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