Das konnte der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen nicht ahnen: dass der schwedische Choreograf Johan Inger aus Ibsens spinnertem Nationalhelden Peer Gynt mal ein außerordentlich amüsantes, tänzerisches Selbstportrait basteln würde. 1876, ein Jahr vor der Entstehung von „Schwanensee“, wurde Ibsens Stück „Peer Gynt“ in Oslo uraufgeführt, zusammen mit der von Ibsen bestellten, bis heute gleichermaßen berühmten Theatermusik von Edvard Grieg. 2017 premierte mit eben dieser Musik Johan Ingers gleichnamige abendfüllende Tanzfantasie über sich selbst in Basel. Und jetzt – am gestrigen Pfingstsonntag 2022 – erlebte sie beim Semperoper Ballett in Dresden ihre umjubelte deutsche Erstaufführung. Christian Bauch (der schon im experimentellen Tanzstück „Cow“ des Schweden Alexander Ekman in Dresden die veritable Hauptfigur abgab) reüssiert mit Verve und Komik in der Titelpartie. Ohrschmeichelnde Musiken von Georges Bizet und Peter I. Tschaikowsky ergänzen zudem das Tableau einer inneren und äußeren Wanderschaft, die von der starken Sehnsucht nach Neuem, von der Gier nach Erfolg, letztlich aber auch von Reue und Einkehr bestimmt ist. Das exzessiv mitmachende Ballettensemble, die tolle Sächsische Staatskapelle Dresden mit gleich zwei prima Chören, die stattlichen Kostüme von Catherine Voeffray, als Leihgabe vom Theater Basel im Original vorhanden, sowie die sichere musikalische Leitung von Thomas Herzog, der schon die Uraufführung vor fünf Jahren in Basel dirigierte, machen den Abend zu einer rundum anheimelnden Sache.
„Peer Gynt“ mal ganz leicht und doch modern gepeppt – das ist ein typisches Werk von Johan Inger, und Dresden hat sich diesen hochgradigen Spaß verdient.
Dabei durchläuft der Held, der in die Gegenwart verlegt ist, nicht nur surreale Stationen wie die krude Welt der Trolle, die hier die Tanzwelt der Moderne ist.
Sondern er erlebt eben auch die künstlerische Prägung, wie sie der Choreograf Johan Inger in seiner Jugend selbst erfahren hat.
Er wurde 1967 in Stockholm geboren und beim Royal Swedish Ballet ausgebildet und zunächst engagiert. Die damals vor allem klassisch geprägte Company ließ ihn Solist werden.
Aber als Inger das Stück „Gamla Barn“ des modernen Choreografen Mats Ek (Sohn der Tanzerneuerin Birgit Cullberg) sah, war es um ihn geschehen.
Damit wir das Schlüsselerlebnis gut nachvollziehen können, wurde eine Passage aus „Gamla Barn“ in Ingers „Peer Gynt“ eingebaut, und als getanztes Quintett steht es hier repräsentativ für die Moderne.
„Gamla Barn“ ist übrigens schwedisch und heißt „Alte Kinder“. Soll heißen: Unreife ist die vorherrschende kollektive Eigenschaft in der modernen Gesellschaft der Individuen.
Eks satirische Perspektive auf die Gesellschaft formuliert sich in für ihn typischen Stilmitteln: stets hochgezogene Fußsohlen und eine oft gezeigte, extra breit ausgeführte zweite Beinposition.
Als Kontrast zum sonstigen ästhetisch-geschmeidigen Bewegungsfluss bewirkt Mats Ek solchermaßen so etwas wie eine permanente Ironisierung – ein Kennzeichen seiner Ballette.
Albernheit und Lustigkeit, Witz und Hintergründigkeit gerieten dank Ek auch bei den jüngeren Choreografen zu einem nicht immer, aber häufig gesehenen Merkmal nordischer Ballette.
Johan Inger inspirierte dieser Stil allerdings sogar dazu, seine Heimat – und den rein klassischen Tanz – zu verlassen.
Er suchte und fand den sanft-schrägen Humor von Jiri Kylián beim Nederlands Dans Theater (NDT) in Den Haag für sich passend – und wechselte als Tänzer dorthin.
Es ist nun ein wenig frivol, das Antreten eines neuen Engagements mit Peer Gynts verrückter Reise um den Erdball gleichzusetzen. Aber in der Kunst mag das problemlos vonstatten gehen.
Bald entstand in Den Haag jedenfalls auch Ingers erstes eigenes choreografisches Stück, welches im Laufe der folgenden Jahre sogar mehrere internationale Preise einheimste. So etwas gibt es heute gar nicht mehr: 1990 entstand Ingers erstes Stück, aber erst 1995 erhielt es den damals wichtigen Preis eines Tabakkonzerns.
Man kann schon darüber sinnieren und befinden: Damals ging es auch um Qualität, nicht nur um Novität. Und Ingers Qualität wurde erkannt.
Nach Stockholm kehrte Johan Inger denn auch als gemachter Mann zurück, um von 2003 bis 2008 das Cullbergballeten, also das Cullberg-Ballett, zu leiten.
Das krachlederne Theaterleben, grell und manchmal unberechenbar, setzt Inger in „Peer Gynt“ selbstironisch mit einem Irrenhaus gleich. Hauptsache, er ist hierin der Kaiser!
Wie absurd sich im Profi-Betrieb etwa auch ein Casting, also ein Vortanzen, gestalten kann, zeigt seine Inszenierung par excellence: mit Slapstick vom Feinsten dödeln sich die vermeintlichen Bewerber:innen mit höchster Kunst durch den Ballettsaal auf der Bühne, und das Publikum hat Mühe, vor lauter Lachen überhaupt noch die Augen offenzuhalten.
Man ahnt, dass die Leitung einer Truppe für Inger nicht nur Freude, sondern auch eine Belastung darstellte.
Bedeutende Stücke wie „Walking Mad“, das die Beziehungen von drei Frauen höchst witzig-pikant aufspießt, waren schon vorher (2001) entstanden.
Alsbald pendelte Peer Gynt, Pardon, Johan Inger, wieder zurück nach Holland: Von 2009 bis 2015 war er assoziierter Choreograf am NDT. Seither ist er freiberuflich als Choreograf tätig, international – und seine ebenfalls knallfarbene „Carmen“ war und ist bereits ein großer Erfolg auch beim Semperoper Ballett in Dresden.
Dieses Hin und Her zwischen den Stilen spiegelt sich auch in „Peer Gynt“, und zusätzlich zur äußeren Handlungsebene, die weitgehend dem fantasievollen Drama von Ibsen folgt, ergeben sich Szenen wie das Vortanzen in einem Ballettsaal, die auf den Alltag des Tanzmenschen Inger hinweisen.
Die Idee zu der als kunterbuntes Treiben inszenierten Selbstsuche eines Choreografen entwickelte sich im Dialog mit Ingers Dramaturgen Gregor Acuna-Pohl. Er trug Inger den schrägen Ibsen’schen Helden an.
Das erste Ballett zum Thema „Peer Gynt“ ist es allerdings nicht: John Neumeier und Edvard Clug, vor allem aber auch Heinz Spoerli haben bereits viel beachtete Versionen des Stoffs als Handlungsballett erstellt.
Ähnlich wie Spoerli stellt auch Inger andere Künstler:innen als nur die vom Ballett auf die Bühne. Wo es bei Spoerli ein Schauspieler ist, der als Sprecher und Akteur das Tanzstück ergänzt, wobei auch ein Violinist die Szene entert, ersetzt bei Inger eine Sopranistin (Stefanie Knorr) die getanzte Darstellung von Solveig, also jener Frau, deren große Liebe unglücklicherweise auf den wilden, rücksichtslosen Peer fiel, der sie fast ihr ganzes Leben lang auf ihn warten lässt.
Und eine von zart bis heftig aufspielende Violinistin (Hannah Burchardt) darf sich demonstrativ auf der Bühne ihren Soli hingeben.
Die gesellschaftskritische Folie, vor der Ibsen sein Drama ersann, lässt sich hier allerdings nur noch in Minimaldosierung feststellen. Sie ist ebenfalls biografisch und findet sich verklausulisert in allen Stücken des großen Norwegers: Ibsens Vater war Alkoholiker und fuhr die Familie als Kaufmann während der Jugend Ibsens voll gegen die Wand.
Zum Glück konnte Ibsen während seiner solchermaßen erzwungenen Lehre bei einem Apotheker – anstelle weiterer höherer Bildung – schreiben. Seine Theaterstücke, die zunächst noch traditionell geformt waren, fanden früh Aufmerksamkeit.
Ibsens Frauenbild ist übrigens seiner Zeit weit voraus und toppt auch noch die choreografischen Herren Mats Ek und Johan Inger. Das ist deren Schwachstelle: Frauen taugen ihnen vorzugsweise als dumme, wenn nicht gar dümmliche Wesen.
Auf die Unterdrückung, Erniedrigung, Entrechtung, Diskriminierung von Frauen weisen Ek und Inger so gut wie nie hin. Sexismus und Patriarchat sind zwar für den Theatermacher Henrik Ibsen erkennbar gravierende Probleme – die befreiten jungen Schwedenmänner Ek und Inger aber wähnen alle Damen vollauf emanzipiert.
Das ist natürlich ein Trugschluss, unter dem ihre Stücke auch nicht selten leiden.
Dafür beweisen Ek und Inger beide sehr großmütig viel Selbstironie. In „Peer Gynt“ stellt der Trollkönig sogar zugleich Mats Ek selbst dar, von Francesco Pio Ricci genussvoll als Doppelrolle parodiert.
Da ging es bei Ibsen schon noch distanzierter zu, wenn er kreativ war. Mit „Peer Gynt“ zeichnete er das karikierte Abbild eines Jedermann, der ein Held und ewiger Gewinner sein will.
Selbstsucht und Egoismus kennzeichnen den wilden Burschen Peer, der zunächst – im Theaterstück wie auch in Ingers Ballett – die Braut eines anderen entführt, verführt und dann verstößt.
Die Braut Ingrid, hervorragend getanzt von Svetlana Gileva, ist hier so heiß auf ein Abenteuer, dass Peer sich nicht besonders anstrengen muss, um sie verliebt zu machen.
Aber natürlich genügt ihm das nicht. Ihn zieht es hinaus in die weite Welt, und zwar allein.
Seine Auslandsreisen bilden ein einziges rastloses Umherirren, stets auf der Suche nach noch mehr Geld, noch mehr Erfolg. Chef, also Kaiser will Peer gar werden!
Bei Ibsen wird er mit unrühmlichem Sklavenhandel reich, aber die exotische Anitra, die er wie einst Ingrid entführen und entehren will, ist schlauer als Peer. Sie beklaut ihn.
Auch andere Geschäftsleute betrügen ihn, und manchmal scheint es, Peer wäre besser dran gewesen, wenn er das Angebot, die aufdringlich ordinäre, aber auch mitreißende „Grüne“ in der Welt der Trolle zu ehelichen, angenommen hätte.
Da sollte sich jetzt aber keine Tänzerin des Cullberg-Balletts beleidigt fühlen – hier ist alles freie Erfindung für die Kunst! Hoffentlich doch?
Als Peer schließlich in einer Irrenanstalt landet, krönt man ihn dort. Mit viel Glück entkommt er, überlebt ein Schiffsunglück, indem er einen anderen von der Planke in den sicheren Tod stößt – und als er abgerissen und haltlos wieder in der Heimat bei Solveig landet, bleibt ihm nichts, als einzusehen, dass sein wahren Glück vermutlich in ihrem Schoß gelegen hätte.
Solveig ist hier bei Johan Inger nicht nur eine Sängerin, sondern auch eine wahre Strickliesel: Unermüdlich wartet sie handarbeitend während des Stücks im Hintergrund auf ihren Peer. Bis er schließlich – endlich – zu ihr findet.
Ihre Liebe tröstet ihn, erlöst ihn gar – aber all die Ratschläge und Vorwürfe, die ihm von dubiosen Figuren namens „der Krumme“ und „der Knopfgießer“ gemacht wurden, können kaum zur Gänze gesühnt werden. Und so stirbt Peer Gynt, wie wir alle mal sterben müssen, als Menetekel mit der Botschaft, dass man vor dem Ableben unbedingt noch mit sich selbst ins Reine kommen sollte.
Johan Inger ist von dieser Entwicklung einer menschlichen Kreatur sichtlich gerührt und setzt seine Inspiration mit großer Musikalität und viel Vergnügen an plastisch-fasslichen Szenen um. Dass Peers Mutter Aase mit Casey Ouzounis schillernderweise mit einem Mann, also en travestie, besetzt ist, gehört zum leisen Jux-Repertoire von Inger.
Die Gender- und LGBT-Gemeinde hat ihre Freude daran.
Dass hingegen der von seiner entführten Braut zu Beginn des Ballettabends sitzen gelassene Bräutigam (der soeben zum Ersten Solisten beförderte Vaclav Lampárter, herzlichen Glückwunsch!) die sympathischste Figur im Stück ist, gleicht einem heimlichen Credo von Johan Inger:
Einfach das Normale zeigen und belobigen, statt psychopathisch dick aufzutragen.
Man wünscht sich mehr solche Zeitgenossen mit dieser Gelassenheit und einem solchen Frohsinn!
Gisela Sonnenburg / Anonymous