Ein Märchenallerlei John Neumeier präsentiert „The Winter’s Tale“ des vielfach preisgekrönten Christopher Wheeldon beim Hamburg Ballett

"The Winter's Tale" von Christopher Wheeldon

Starchoreograf Christopher Wheeldon spaßt hier mit einer Skulptur, die später auf die Bühne kommt. Foto vom Royal Ballet in London: Tristram Kenton

Der britische, in New York City lebende Choreograf Christopher Wheeldon, mit 49 Jahren nicht mehr ganz jung, hat einige bezaubernde Ballette kreiert. Gerade eben, Anfang Juni 22, premierte sein jüngstes abendfüllendes Ballett „Like Water for Chocolate“ mit großem Erfolg in London. Für sein früheres Werk gilt: Vor allem knallbunte Märchenballette, aber auch poetische Einakter sind seine Spezialität – und sein en detail eine Paarbeziehung beschreibendes Pas de deux „After the Rain“ ist nachgerade legendär. Aber ausgerechnet „The Winter’s Tale“ nach dem gleichnamigen Theaterstück von William Shakespeare (zu deutsch: „Das Wintermärchen“) ist, obwohl Wheeldon dafür einen seiner beiden Prix Benois de la Danse in Moskau erhielt, eher oberflächlich und streckenweise sogar langweilig zu nennen. Denn der Starchoreograf verließ sich zu sehr auf die Wirkung edler Arrangements, ohne den Stückinhalt wirklich zu begreifen. Wer sich aber nur auf Schönheit verlässt, wird von den Künsten verlassen. Konkret sieht das anhand der Shakespeare-Geschichte so aus: Ein brutal eifersüchtiger, dazu noch monströs blutrünstiger König wird von Wheeldon als netter, lässiger, sogar um Harmonie bemühter, schlimmstenfalls etwas verquälter Familienchef gezeigt – da kann einfach was nicht stimmen. Und dass die Handlung eine Zeitspanne von 16 Jahren umfasst, wird bei Wheeldon kaum sichtbar: Das Martyrium der weiblichen Hauptfigur dauert hier scheinbar nur wenige Tage. Dass die Kostüme zwar zeitlos-schön sind, aber ohne jede Bedeutung für die Charaktere, passt zur schon festgestellten Banalität. Dennoch: 2014 wurde das abendfüllende Ballett beim Royal Ballet in London, wo Wheeldon stellvertretender künstlerischer Leiter ist, bejubelt uraufgeführt, und aus London kommend ist auch eine sehr elegant getanzte DVD / BluRay mit dem Premierencast im Handel. Ab kommendem Sonntag nun lässt John Neumeier – nach einigem Verschieben wegen der Corona-Pandemie – Wheeldons Inszenierung beim Hamburg Ballett tanzen: in den aus London ausgeliehenen Kostümen von Bob Crowley, mit derselben Lichtregie wie im Londoner Covent Garden von Natasha Katz.

"The Winter's Tale" von Christopher Wheeldon

In der Werbung erscheint „MJ“ nicht wirklich anspruchsvoll, aber bestimmt massentauglich.

Zurzeit ist Wheeldon übrigens schwer „in“, und er erhielt soeben seinen zweiten US-amerikanischen Tony Award für ein Broadway-Musical: für das Rockical „MJ“ über den toten Popstar Michael Jackson. Der „Oscar der Ballettwelt“ ist allerdings nach wie vor der ballettspezifische Prix Benois de la Danse – und nicht der Theater- und Musical-Preis Tony Award, was das hamburg journal vom ndr in seinem unendlichen Streben nach Weltruhm fälschlicherweise behauptet.

Auch Wheeldons Lieblingslichtdesignerin Natasha Katz – deren waltende, mich aber nicht restlos überzeugende Hand auch in Hamburg zu erleben ist – erhielt gerade in New York einen Tony Award, auch für „MJ“.

Leistung werden beim Hamburg Ballett ganz sicher die Tänzerinnen und Tänzer erbringen. Sie trainieren nicht umsonst besonders hart und proben besonders viel –  bestimmt werden sie auch dieses Stück durch ihre ausführende Kunst zu neuem Leben erwecken.

Félix Paquet im männlichen Hauptpart, Alexandr Trusch als jugendlicher Liebhaber, Lloyd Riggins in einer bemerkenswerten Nebenrolle, Jacopo Bellussi als prominentes männliches Opfer, Madoka Sugai als Truschs Partnerin, Silvia Azzoni als Dame mit Geheimnissen und Ida Praetorius als weibliche Hauptfigur werden das Beste aus der ihnen anvertrauten Sache machen – und bestimmt lohnt schon wegen ihnen sowie wegen dem tanztüchtigen Ensemble vom Hamburg Ballett der Besuch der Vorstellung.

Der tanzästhetische Stil des Stücks ist ohnehin stark an dem von John Neumeier orientiert – man könnte sogar vermuten, Wheeldon habe sein „Winter’s Tale“ absichtlich im Neumeier’schen Stil kreiert. Manche Neumeier-Stücke werden denn auch genau mit Posen und Bewegungen zitiert.

Die edelschönen Kostüme von Bob Crowley sind zudem eindeutig von denen von Silvia Strahammer von 1982 für die „Artus-Sage“ von John Neumeier inspiriert: Die Damen tragen A-Linie um die Hüfte, die Herren goldene Papp-Kronen im frisierten Haar. So entsteht optisch eine Art zeitloses Spätmittelalter, das teilweise an gepflegte Renaissance-Details grenzt.

"The Winter's Tale" von Christopher Wheeldon

Die schöne Lauren Cuthbertson als Hermione im ersten Akt von „The Winter’s Tale“ von Christopher Wheeldon. Diese Besetzung ist auf der DVD / BluRay vom Royal Ballet zu sehen. Foto: Johan Persson

Wer nun einfach nur stundenlang in hübschen Bildern und eleganten Tänzen schwelgen möchte, wird mit Wheeldons „The Winter’s Tale“ gut bedient sein.

Wer aber eine schlüssige, getanzte Shakespeare-Inszenierung erwartet, wird wohl schwer enttäuscht. Denn anders als John Neumeier – der sich schon ausgiebig etlichen Shakespeare-Stoffen widmete – vermag Christopher Wheeldon nicht, literarisch tiefsinnig zu lesen. Das ist bei Shakespeare aber Voraussetzung für eine Inszenierung.

Anders mag es bei dem Trivialroman „Like Water for Chocolate“ sein, den Wheeldon sich jüngst zur Vorlage nahm: Hierin ist nicht vieles schwere Literatur, es gibt nicht viel unter der Oberfläche zu entdecken, und nichts ist zu enträtseln. Es handelt sich um simple, banale Alltagsliteratur auf dem Niveau von authentischen Tagebüchern. Damit kann Wheeldon offenbar besser umgehen.

Für den vielschichtigen Shakespeare aber fehlen ihm sowohl Intellekt als auch Fingerspitzengefühl.

Weil er sich auch keinen Dramaturgen nahm, sondern mit dem Komponisten Jobi Talbot selbst rumwurschtelte, fehlt seinem „Wintermärchen“ ein spannendes Szenario. Bei Shakespeare ist das allerdings anders.

"The Winter's Tale" von Christopher Wheeldon

Edward Watson as Leontes im ersten Akt von „The Winter’s Tale“ von Christopher Wheeldon, fotografiert von Johan Persson fürs Royal Ballet in London.

Von brachialer Brutalität und ungehaltenem Jähzorn, von maßloser Ungerechtigkeit und patriarchalem Größenwahn getrieben: das ist von Beginn an die dominante, männliche Hauptfigur König Leontes bei Shakespeare.

Er ist ein echtes Königsmonster, theatral sehr wirksam. Und er ist eben eher eine der Shakespeare-typischen Herrscherkarikaturen als eine märchenhafte Bestie. Das macht seinen hohen Unterhaltungswert aus. Aber der Mann ist auch in psychologischer Hinsicht von Shakespeare durchgestylt:

Leontes‘ ästhetischer Sinn, der zu einer Galerie aus Skulpturen führte, erfasst weder seine Seele noch sein Herz.

"The Winter's Tale" von Christopher Wheeldon

Auch das Bolschoi in Moskau hat „The Winter’s Tale“ von Wheeldon im Repertoire. Am 18. Juni 22 um 12 Uhr gibt es damit eine Matinee-Vorstellung. Artem Ovcharenko brilliert als Leontes – hier in der Galerie im Stück. Foto: Bolschoi

Unmäßige Eifersucht ist Leontes‘ Tatmotiv, und als er seinen Jugendfreund Polixenes wegen vermutetem Ehebruch mit der Königin mal eben heimtückisch umbringen lassen will, darf das für die Zuschauenden keine allzu große Überraschung sein. Leontes regiert diktatorisch und selbstherrlich, er hält alle in Angst und Schrecken, befiehlt ihnen dabei zum eigenen Vergnügen, Fröhlichkeit zur Schau zu stellen.

Leontes ist überraschend modern gezeichnet, wie eine Personifikation der heutigen Arbeitswelt mit ihren selbstherrlichen Bossen, die keinen Unmut, keine Kritik, keine Persiflage mehr zulassen mögen.

Dieser Leontes hat es nun aber wirklich noch weiter in sich, und Othello ist gegen ihn ein aufgehetzter Weichling.

Denn nur weil Leontes es rein theoretisch für möglich hält, dass seine Gattin von Polixenes schwanger sein könnte statt von ihrem Mann, lässt er sie gefangen nehmen und gnadenlos bis auf weiteres ins Gefängnis werfen. Seine Eifersucht ist monströs übersteigert.

"The Winter's Tale" von Christopher Wheeldon

Lauren Cuthbertson als Hermione und Edward Watson als Leontes in „The Winter’s Tale“ von Christopher Wheeldon beim Royal Ballet im Londoner Covent Garden. Foto: Johan Persson

Dazu kommt, dass Leontes den armen Polixenes zuvor regelrecht bedrängt. Die beiden kannten sich als Kinder und haben sich dann lange Zeit nicht gesehen.

Jetzt, da beide geschlechtsreife Erwachsene sind, will Leontes den Freund zunächst offenbar vernaschen, bevor er ihn wieder abreisen lässt. Shakespeares Text ist da ganz schön eindeutig. Zumindest bedrängt er ihn wieder und wieder, noch nicht abzureisen, ohne einen anderen Grund als seine eigene Laune dafür zu nennen.

Weil das aber nicht klappt und Polixenes sich verweigert und er erst auf herzliches Bitten der Königin Hermione einwilligt, noch zu bleiben, verfällt Leontes in seinen eifersüchtigen Wahn. Kein Zweifel, er ist ein patriarchales Sexmonster, wie es in einem Buch von Sigmund Freud stehen könnte.

Man ist versucht, von familiärer Gewalt zu faseln. Aber das hier ist auch politisch gemeint, denn Shakespeare ist dafür bekannt, dass er das Politische mit dem Privaten in seinen Stücken zu verbinden wusste. Das war eines seiner Erfolgsrezepte, sozusagen.

Christopher Wheeldon war all das offenbar zu schwierig – und er verfälschte  Shakespeare für sein Libretto. Ohne erkennbaren Grund bettelt bei Wheeldon nur die hochschwangere Hermione, Polixenes möge doch noch bleiben.

Da sie gerade von ihrem Gatten einen teuren Edelstein als Halsschmuck erhielt und sowieso anscheinend geehrt und geliebt wird, macht ihr Verhalten nicht viel Sinn. Aber Wheeldon kann so das Konfliktpotenzial am Hof einebnen – und Shakespeare dürfte sich im Grabe umdrehen.

"The Winter's Tale" von Christopher Wheeldon

Am Ende erhält Perdita den kostbaren Smaragd: Madoka Sugai als Perdita – wie vor 16 Jahren deren Mutter im lila Kleid – mit dem Ensemble vom Hamburg Ballett in „The Winter’s Tale“ von Christopher Wheeldon. Foto: Kiran West

Sinn machen diese Szenen nur, wenn man das Szenario von Shakespeares „Winter’s Tale“ kennt. Schließlich kann die rasende Eifersucht von Leontes nicht wie ein plötzliches Gewitter aus dem Nichts aufflammen. Menschen auf der Bühne sollten schon psychologisch nachvollziehbar sein.

Die maßlose Selbstverherrlichung von Leontes ist allerdings auch heute noch nachvollziehbar, wenn man sich die mächtigen Superreichen dieses Erdballs ansieht. Statt Kriege zu verhindern, zetteln sie welche an. Statt sich mit gutem Benehmen und sozialer Kompetenz zu zeigen, ziehen sie im Hinterhalt die Strippen. Und statt irgendwann mal genug zu haben, frisst ihre Gier nach und nach sie selbst und auch die ganze Welt regelrecht auf.

Private Gelüste werden über das Wohl aller gestellt.

Klimawechsel, war da eigentlich noch was? Den heutigen Superreichen genügt es, wenn sie Geld mit dem Thema machen. Und wie sie sich innenfamiliär verhalten, soll die Welt nicht erfahren – aus gutem Grund.

Leontes könnte zweifelsohne einer von ihnen sein.

"The Winter's Tale" von Christopher Wheeldon

Machtbewusst: Edward Watson fliegt hier als Leontes durch „The Winter’s Tale“ von Christopher Wheeldon. Foto: Johan Persson

Nun gibt es zu Leontes aber auch noch einen historischen Hintergrund:

Shakespeares Zeitgenossen kannten Heinrich VIII. und seine von ihm grundlos hingerichteten Ehefrauen – aber sie wollten das niemals beschönigt wissen. Für sie war Leontes kein Vorbild, sondern ein gruseliges Abbild einer vergangenen Ära.

Bei Wheeldon aber umarmen und herzen sich die beiden Männer Leontes und Polixenes, als stünden sie kurz vor einem freudvollen, gemeinsamen Ausritt in die Schwulensauna.

Dass es dann zum Krach zwischen beiden kommt, scheint hier völlig unverständlich – und natürlich wird schon eine Frau daran schuld sein.

Der lilafarbene Schwangerenbauch von Königin Hermione – auf der Londoner silbernen Scheibe getanzt von der schönen Lauren Cuthbertson – endet denn auch ballettfigurengerecht oberhalb des Bauchnabels, was unfreiwillig komisch aussieht. Aber dadurch ist sie noch gut in famose Hebungen zu bringen; dafür muss sie in der Taille schlank und griffbereit sein.

Sinn machen die grandiosen Hebungen hier allerdings nicht, denn Hermione ist ja, wie sich alsbald zeigt, eine derart unterdrückte und rechtlose Person, dass ein Lift ihr Leben nur schwerlich echt versüßen kann. Für rein formale Hebungen braucht man aber keine hohe Kunst – dafür würde eine bunte Revue genügen.

Mit edelmütigen Gesten soll Hermione dann bei Wheeldon ihre Unschuld beweisen, was ihr freilich nichts nützt. Denn Leontes ist quasi durchgeknallt.

Edward Watson, der mittlerweile übrigens leider seinen Bühnenabschied nahm, der aber in der Londoner Aufzeichnung noch mit voller Kraft die Partie von König Leontes tanzt und zudem soeben den Kritikerpreis in London erhielt, hat die höchsten Befähigungen zur expressiven Rollendarstellung.

So war er ein unvergessener, zwischen Selbstzerstörung und Rebellion hin- und hergerissener Kronprinz Rudolf in „Mayerling“ von Kenneth MacMillan.

 

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Aber in Wheeldons „Wintermärchen“ erhält auch ein Watson absolut keinen Auftrieb. Aus einigen lapidaren Umarmungen mit einem befreundeten Nachbarkönig und aus der vorgeführten Erziehung des Sohnes, die aus nicht viel mehr als im plakativen Repräsentieren besteht, kann auch der beste Ballerino nur wenig machen.

Und die Verdächtigungen seiner unschuldigen Frau sowie seines ebenfalls unschuldigen Freundes kommen fast wie aus dem Nichts, ganz plötzlich, als Anwandlung des puren Wahnsinns.

Es ist ja nicht so, dass es so etwas in der Realität nicht gibt. Gerade in der Politik gibt es das, aber es hat immer eine Vorgeschichte. Und es ist die Aufgabe von Theater, Ballett und Analyse, die jeweilige Vorgeschichte fasslich zu machen.

Wer die Vorgeschichte aber nicht sehen kann oder will oder sie mangels handwerklichem dramaturgischem Können nicht sichtbar machen kann, hat die Geschichte nicht vermittelt. So ergeht es hier Christopher Wheeldon.

In einem modernen Ballett erwartet man zudem ein Mehr an Ausdruck als in „Schwanensee“ – wobei selbst der 19.-Jahrhundert-Choreograf Marius Petipa im ersten „Schwanensee“-Akt eine Fülle an originellen Ideen auffährt, im Vergleich zu Christopher Wheeldon in diesem seinem schwächsten Stück.

"The Winter's Tale" von Christopher Wheeldon

Kunterbunt und heiter: So stellt sich Christopher Wheeldon Shakespeares Böhmen in „The Winter’s Tale“ vor. Foto vom Royal Ballet: Tristram Kenton

William Shakespeare siedelte sein Stück zudem auf einem fiktiven Sizilien an, über das Leontes mit unerbittlicher Willkür herrscht. Der Inselstaat als Terrorstaat. Eine solche Konstellation könnte die Fantasie anregen – und von einem surrealen Futurismusland bis zu einer heißen Hölle könnte dieses Theatersizilien szenisch etwas hermachen.

Bei Christopher Wheeldon ist jedoch alles nur nett, einfach hübsch und langweilig, der Himmel ist meistens blau, der Winter ist außerdem europäisch schneeverhangen: Wheeldons Sizilien liegt scheinbar da, wo wir leben, also in einer typisch US-amerikanischen oder westeuropäischen Landschaft.

Ist das nun dumm oder gerade toll, dass Wheeldon Shakespeare für uns passend macht und sozusagen fast in unseren Alltag holt?

Wären Tänze da, die es rechtfertigen, dass das „Wintermärchen“ in einem für uns sozusagen normalen, fast heutigen Umfeld in altertümlich inspirierten, modisch-hippen Klamotten spielt, so wäre nichts dagegen zu sagen. Aber eben das gelingt Wheeldon mitnichten.

Gediegene Borniertheit spricht sogar aus den meisten mit reichlich Akrobatik verzierten Pas de deux hier.

Es ist, als würde Wheeldon sich selbst kopieren – und manchmal auch John Neumeier. Aber warum etwa „Die Kameliendame“ von John Neumeier ausgiebig zitiert wird, obwohl es hier überhaupt nicht um das Leiden an sozial erzwungener Prostitution geht und auch nicht um überschwängliche Träumerei (wie für die junge Tatjana in „Onegin“ von John Cranko), bleibt völlig unklar.

Soll etwa die spektakuläre Hebung in Schulterlage aus der „Kameliendame“ auf die Bedeutung der sozialen Erhebung zusammenschnurren? Das wäre zu simpel.

"The Winter's Tale" von Christopher Wheeldon

Christopher Wheeldon zitiert in „The Winter’s Tale“ ausgiebig: Sarah Lamb vom Royal Ballet tanzt hier Perdita, Steven McRae den jugendlichen Liebhaber Florizel – und die Pose stammt exakt aus der „Kameliendame“ von John Neumeier. Foto: Johan Persson

Letztlich soll wohl nur Augenfutter her, also etwas Spektakuläres an Tänzerischem aufgeboten werden – und der konkrete Sinn geht dabei flöten.

William Shakespeare leistete sich aber einen weiteren absurden Witz im „Wintermärchen“: Er siedelte das in Osteuropa liegende Böhmen, dessen König Polixenes ja der Jugendfreund von Leontes ist, gleich neben Sizilien an.

Ganz so, als wolle er seinem auch adligen Publikum zurufen: Ihr Banausen wisst ja sowieso nicht, wo Böhmen liegt oder auch Griechenland, das hier unter Umständen geografisch eher in Frage käme!

Ob er metaphorisch Schottland und England mit Böhmen und Sizilien meinte, sei dahingestellt.

Für so viel Hintergründigkeit hat Wheeldon keinen Sinn.

Ob Sizilien oder Böhmen – bei Christoper Wheeldon herrscht eitel die Schönheit der Landschaft. Basta.

In seinem Böhmen gibt es einen lächerlich geschmückten großen Baum als Maibaum-Ersatz, wobei man nicht genau weiß, wem die folkloristisch anmutende Multi-Kulti-Deko, die auch was vom Weihnachtsfest hat, was bringen soll.

"The Winter's Tale" von Christopher Wheeldon

Akkurate Arabesque: Starballerina Sarah Lamb als Perdita im zweiten Akt von „The Winter’s Tale“ von Christopher Wheldon beim Royal Ballet. Foto: Johan Persson

Aus dem Shakespeare’schen Schurfest der Schäfer wird hier ein allgemeines Frühlingsfest, und unterm Baum thront live eine recht heutige Musikcombo aus Percussionisten und Flötisten. Leicht orientalisch muten ihre Klänge an.

Immerhin gibt es einen verliebten Paartanz: zwischen der jungen Schäferin, als welche Leontes‘ Tochter Perdita („Die Verlorene“) hier aufwuchs, und ihrem Liebsten, der zwar ein Prinz und Polixenes‘ Sohn Florizel ist, der sich im Dorf aber stets als Schäfer tarnt.

Denn einfache Schäfer haben anscheinend vor allem sexuell mehr Spaß als hochgestellte Prinzen. Keine Etikette zwickt sie, und keine Geldgier der Braut lässt sie an ihrer Liebe zweifeln.

Merkwürdigerweise tragen hier aber alle, auch das Ensemble, modisch-fetzige Klamotten wie aus einer Mailänder Kollektion; von einer Arbeitskleidung der Hirten ist nicht viel zu erkennen.

"The Winter's Tale" von Christopher Wheeldon

Hier tanzt Federico Bonelli die Partie von Polixenes in „The Winter’s Tale“ von Christopher Wheeldon beim Londoner Royal Ballet. Foto: Johan Persson

Was bei Shakespeare ein bewusstes Spiel der sozialen Stände ist, wirkt bei Wheeldon leicht abgeschmackt wie ein Karneval (inklusive „Schäferstündchen“) unter sorglosen jungen Reichen – allzu luxuriös ist diese Szene gestaltet. Ist sie gar ein Traum?

Aber dann vergewaltigt Wheeldon Shakespeare:

Bei Shakespeare wird die Ehe zwischen dem Prinzen und der vermeintlichen Schäferin Perdita von Florizels Vater Polixenes wegen des Standesunterschieds verboten.

Tatsächlich droht Polixenes bei Shakespeare der zarten, süßen Perdita in blumigen Worten die Todesfolter für den Fall an, dass sie Florizel nicht freigibt. Die Ernsthaftigkeit seiner Drohung darf allerdings bezweifelt werden, denn es ist eine einschüchternde Äußerung unter vier Augen, keine Anordnung, sie festzunehmen – aber für ein junges Mädchen ist so etwas natürlich ein großer Schrecken.

Bei Wheeldon ist Polixenes plötzlich noch viel grausamer und sogar ein ähnliches familiäres Monster wie Leontes – und er verhängt über seinen eigenen Sohn Florizel und dessen Geliebte aus Ärger über deren Liebe die Todesstrafe.

Fliehen müssen die beiden so oder so, wenn sie ihre Liebe weiter leben wollen. Aber es ist schon ein Unterschied, ob ein Vater seinen Sohn mal eben hinrichten lassen will oder nicht.

"The Winter's Tale" von Christopher Wheeldon

Vom Vater mit dem Tode bedroht, aber nicht bei Shakespeare, sondern bei Wheeldon: Steven McRae als furioser Florizel in „The Winter’s Tale“ beim Royal Ballet. Foto: Johan Persson

Und während Shakespeare zwischen den Charakteren der Könige differenziert, setzt Wheeldon die Mächtigen einfach gleich. Sogar in einem Comic wäre so etwas der Dramaturgie nicht zuträglich. Es ist schlicht langweilig, wenn die Charaktere so stereotyp sind.

Die Stärken Wheeldons kommen hier denn auch kaum zum Zuge.

Was Christopher Wheeldon in anderen abendfüllenden Balletten nämlich hervorragend kann, ist großartig inszenierter plakativer Klamauk, ist grandioser Zirkus mit allem Drum und Dran, ist Theatertechnik hoch zehn.

Damit pusht er normalerweise seine großen Stücke, und von seinen prall mit solcher Komik gefüllten, mitreißenden Tanztheatern waren bzw. sind zwei bisher schon lohnenswerterweise beim Bayerischen Staatsballett in München zu sehen: „Cinderella“ und „Alice im Wunderland“.

Beide Stücke sind mit ihren lachmuskelstrapazierenden Slapsticks bei Jung und Alt beliebt, beide sind ballettöse Knüller – und beide haben cineastisch-sinnlich gebaute Szenen, die in fantasievolle, traumhafte Gefilde entführen.

Doch davon ist in Wheeldons bislang einziger Shakespeare-Arbeit nichts zu sehen.

"The Winter's Tale" von Christopher Wheeldon

Ensemble-Szene aus „The Winter’s Tale“ von Christopher Wheeldon beim Royal Ballet in London. Foto: Tristram Kenton

In „The Winter’s Tale“ – das John Neumeier wohl aus Gründen der Publikumsakquise unter dem englischem Titel zeigt – setzt Wheeldon eher auf den stets eleganten Tanz, kaum auf massive Mätzchen der Theatertechnik.

Hätte er das Stück begriffen, wäre das sogar spannend.

Zumal kein anderes seiner Stücke so viel Ähnlichkeit von der Tanzästhetik her mit Neumeiers abendfüllenden Balletten hat.

Die Konstellationen der Figuren sind nur leider zu klischeehaft gezeigt, als dass man über ein oberflächliches Miteinander hinauskäme. Ein mitreißendes Libretto fehlt zudem, und die Szenenfolge wirkt meistens so beliebig und schlaff, also ohne Höhepunkte, dass man sich wirklich fragt, warum die Chose mit fast drei Stunden eigentlich so lange dauern muss.

Florizel und Perdita etwa kennen sich schon, wenn sie hier erstmals auftreten, und sie liegen eng umschlungen unterm Festtagsbaum am Boden, als gehöre ihnen die ganze Welt. Das ist im Handlungsverlauf aber unlogisch, zumal sie sich hier ja als arbeitsame Schäfer begegnen sollen.

Bei Shakespeare lernen sie sich auch erst beim Schurfest zwischen lauter Wollebündeln und ausgelassen Feiernden kennen und sofort lieben – und die Zuschauenden haben somit das Vergnügen des ersten Flirts zu bestaunen. Weil Florizel hier verkleidet ist, ergibt sich auch noch eine Parallele zum Maskenball in „Romeo und Julia“. Warum gönnt Wheeldon uns dieses Amüsement nicht?

Auch warum der Festtagsbaum ein toter, moosbewachsener Baum sein muss, dessen getrocknete Wurzeln ohne Erde sozusagen ultratot aussehen, ist unklar. Der tote Baum als Lebensbaum. Soll die Natur ruhig so enden? An sich hat das hier was von Totenkult. Dafür sind aber alle zu fröhlich, die vorm Baum tanzen.

"The Winter's Tale" von Christopher Wheeldon

Der tote, aber geschmückte Festbaum fürs Frühlingsfest in Böhmen – so zu sehen in „The Winter’s Tale“ von Christopher Wheeldon. Foto: Tristram Kenton

Es ging also wohl nur darum, dem Publikum etwas „Originelles“ als Baum vorzusetzen. Mir genügen solche Motivationen nicht. Die Schaffung einer Form-Inhalts-Beziehung sollte bei einem Bühnenelement schon drin sein.

Dekoration als Selbstzweck gehört zu Christopher Wheeldon nachhause. Aber nicht auf eine Bühne, für die Menschen Millionen an Steuergeldern zahlen.

Eine weitere Schwachstelle ist im „Winter’s Tale“ die unpassende Musik von Jobi Talbot, jenem britischen Filmkomponisten, der mit seichten Soundtracks wie zu „Per Anhalter durch die Galaxis“ berühmt wurde. Es ist ein endloses Geflöte!

Wie Wheeldon hat zwar auch Talbot einen guten Draht zur Massenkunst.

Was aber abendfüllende Ballettmusik angeht, so genügt das Schweben von Harmonie zu Harmonie nicht. Eine halbe Stunde trägt das wabernde Kling- Klang-Klong-Notengewebe von Talbot noch. Dann aber wird es eintönig.

Und ob es überhaupt für so dramatische Vorgänge wie im „Wintermärchen“ geeignet ist, ist fraglich. Zu den gefühlsduseligen Vorgängen von „Like Water for Chocolate“ passen Talbots Partituren schon besser – Trivialkultur hat weniger hohe Ansprüche.

Dabei gibt es auch Ballette mit Talbot-Musik, die regelrecht beglücken. Zu Wheeldons „Fool’s Paradise“, einem handlungslosen Einakter, der Liebhaber-Paare als erotisch-entrückt tanzende Wechselpaare zeigt, passen Jobi Talbots säuselnde Klangwolken hervorragend. Das ist auch einem gesonderten Beitrag  (https://ballett-journal.de/wiener-staatsballett-thoss-wheeldon-robbins/) nachzulesen.

Ein Dreiteiler zu zeitlosen Themen mit Tiefgang.

Wunderbar leicht und dennoch hoch artifiziell schaut die Liebe hier aus: Ioanna Avraam und Eno Peci vom Wiener Staatsballett in „Fool’s Paradise“ von Christopher Wheeldon. Foto: Wiener Staatsballett / Michael Pöhn

Aber für ein Stück mit Action und vielen auch negativen Emotionen wie „Winter’s Tale“ – da wünschte man sich doch akustisch mehr Bausch und Bogen.

Es ist also ein ziemliches Märchenallerlei hier angerichtet – in jedweder Hinsicht.

Für Hamburger Verhältnisse könnte diese Stückauswahl in den Augen mancher Fans ein Desaster sein. Denn das Publikum ist an die knackig-witzigen, elegisch-melancholischen, prall mit Gefühl und Action gefüllten Handlungsballette von John Neumeier gewöhnt. Dagegen ist „The Winter’s Tale“ von Wheeldon ein Absturz in die Untiefen der kitschigen Ödnis.

 Allerdings wurde das Stück 2014 vom Londoner Royal Ballet als Kooperation mit Neumeiers langjähriger Busenfreundin Karen Kain, der Ballettdirektorin vom Kanadischen Nationalballett, produziert. Ich habe den leisen Verdacht, dass dies ein tragendes Argument für Neumeiers Auswahl war. Er macht oft und gern Geschäfte mit der ehemaligen kanadischen Spitzentänzerin.

Das verbessert die Qualität des Stücks aber nicht automatisch.

Und wo bei Shakespeare der Vater Leontes seine Tochter auf Anhieb erkennt, ist er bei Wheeldonzunächst nur vom hübschen Florizel entzückt. Solche Schwulitäten können auch nerven.

"The Winter's Tale" von Christopher Wheeldon

Das neueste Stück von Christopher Wheeldon ist der vertanzte Roman „Like Water for Chocolate“, der sich auf sehr gefühlige Weise mit dem traditionellen mexikanischen Frauenbild auseinandersetzt. Zu sehen mit dem Royal Ballet in London – Premiere war am 2. Juni 2022.

Shakespeare, der sich mit Leontes zudem ein satirisches Anti-Selbstportrait ersann, war im übrigen unersättlich bisexuell, aber er war nicht vor allem nur homo. Auch sein Leontes liebt sehr wohl die Frauen – und nebenbei die Jungs.

Das fast groteske märchenhafte Ende macht dies nochmals deutlich.

Da freut sich der gealterte König ohne Bedenken, dass sein Kumpel Polixenes seinem tödlichen Zorn entfliehen konnte. Zumal der seinem ehemaligen Freundfeind nicht mal gram ist. Es ist zudem eine Frage der Inszenierung, ob Leontes sich erneut an Polixenes heranpirscht oder dessen Distanzwunsch akzeptiert. Leontes wähnt sich aber auch glücklich, weil seine erst von ihm weggesperrte, dann sogar scheintote Gattin Hermione dank einer gemeinsamen Freundin 16 Jahre lang bei bester Verpflegung heimlich überleben konnte.

Dass aus ihrer gemeinsamen Tochter Perdita, dem vermeintlichen Kuckucksei-Kind, in der Ferne eine ebenso hübsche wie versöhnliche junge Dame wurde, ist der Gipfel des familiären Glücks. Aber kann man, nachdem man kurz nach der Geburt verstoßen wurde und eigentlich tot sein sollte, ganz unkompliziert-begeistert das Wiedersehen mit seinem Erzeuger feiern?

"The Winter's Tale" von Christopher Wheeldon

Nochmal ein Rückblick auf den Anfang: Küss die Hand! Aber ob Polixenes (Federico Bonelli) zu Besuch bei Leontes so locker sein kann? Videostill von der DVD „The Winter’s Tale“ von Christopher Wheeldon: Gisela Sonnenburg

Bei Shakespeare ist dieses lustige Happy Ending denn auch von der Angst vor dem Tyrannen Leontes grundiert. Alle sind nach wie vor abhängig vom erwiesenen Unhold, und alle fürchten latent den nächsten Stimmungsumschwung des autoritären Herrschers.

Nur aus dieser Angst heraus war Hermione bei Stückbeginn ja auch so sehr zu Diensten, Polixenes von seinen Abreiseplänen abzubringen. Sie wollte unbedingt weiterhin für Leontes‘ gute Laune sorgen. In einer Diktatur ist das überlebenswichtig.

Es ist also ein märchenhaftes Ende auf Abruf. Niemand weiß, wie lange das Glück anhalten wird.

Und umso berechtigter die Angst vor dem nächsten Terror durch Leontes ist, desto intensiver wollen die Betreffenden die Zeit der Lust genießen. Das ist der Punkt, an dem der Renaissance-Dichter Shakespeare das barocke Lebensgefühl entfaltet.

Die Freude des ohnehin schon zum Guten gewendeten Königs ist denn auch schier grenzenlos –  denn vergeben und vergessen sind alle Pein und alle Schrecken, die er zuvor verbreitete. Leontes wird nicht gemaßregelt und auch künftig nicht kontrolliert. Er kann tun und lassen, was er will. Der Januskopf der Macht zeigt jetzt wieder sein unbändiges Lächeln. Aber wie lange noch? Hui, ist das ein Märchen; eigentlich ist es reif für die Geisterbahn.

Die literaturgeschichtlich deutlich später entstandenen Schauermärchen der Romantik haben hier gelernt. Und es steht bei genauer Lektüre fest:

Das Wintermärchen“ handelt unter der grotesk-komischen Oberfläche vom unterdrückten Leben in einer Diktatur.

Mit dieser Dialektik bereitete Shakespeare sein Publikum auf kommende Zeiten vor.

"The Winter's Tale" von Christopher Wheeldon

Kunterbunt und heiter, noch einmal das hervorragende Londoner Damenensemble vom Royal Ballet im Tanz: So stellt sich Wheeldon Shakespeares Böhmen in „The Winter’s Tale“ vor. Foto: Tristram Kenton

Bei Wheeldon hingegen hat man den Eindruck, all die wundersamen Wendungen seien ganz natürlich, und es sei auch völlig normal und nachgerade zu erwarten, dass ein Bösewicht wie Leontes sich mal eben selbst bei der geringsten seelischen Erschütterung zum Guten bekehrt.

Dadurch wird die Sache zwar flacher, aber im Grunde auch noch absurder als bei Shakespeare.

Am Ende freuen sich bei Wheeldon alle ganz naiv, miteinander und füreinander, weil sie sich bei guter Gesundheit wiederfinden.

Rachsucht ist ein Fremdwort hier, ebenso ist keinerlei Aussprache notwendig.  Es gibt keine Angst und keine Furcht mehr, und das Leben ist zu kurz, die Vergnügungssucht hingegen viel zu groß, um nicht den Genuss ganz oben hinzustellen. Konsumismus ist doch toll. Punkt.

Schließlich ist aus Perdita und dem Sohn von Polixenes bei Shakespeare wie bei Wheeldon ein fröhliches, vor allem glückliches Pärchen geworden, das für Zukunft steht. Für welche auch immer. Kuss!

Das ballettöse Hochzeitsfest birgt indes nur eine Besonderheit: die spektakuläre Enthüllung des Standbildes von Hermione und ihrem aus Kummer über das tragische Schicksal der Mutter verstorbenen Sohn.

Dieser festliche Akt erhält seine Pointe dadurch, dass die skulpturale Hermione plötzlich lebt und vom Sockel herabsteigt, den toten Sohn aus Stein einigermaßen lieblos zurücklassend.

Bei Shakespeare handelt es sich nur um eine Skulptur der Frau. Bei Wheeldon ist der verstorbene kindliche Sohn von Hermione und Leontes hinzugefügt. Und vor seiner Statue gibt es dann auch den letzten, finalen Tanz, das letzte Solo einer liebenden Frau – wie eine anhimmelnde Verehrung des toten männlichen Nachkommens.

Und es gibt mehr unpassend inszenierte Szenen. Wo das Ballett hätte unheimlich, aber auch poetisch sein können, ist es einfach nur platt und prosaisch. Denn das Herabziehen einer Abdeckung von einem Denkmal reicht zum Beispiel kaum für einen entsprechenden Effekt. Nur ein Beispiel für viele von Wheeldon verschenkte Momente.

Vieles verschenkt er auch an Emotionen. Wo es bei Shakespeare heftig auf und ab geht, wo Glück und Unglück, Hoffnung und Verzweiflung einander abwechseln, ist bei Wheeldon alles gleichförmig von derselben stilistischen Soße begossen.

Unglück und Reue von Leontes äußern sich in erstarrter Mimik statt in expressivem Tanz; Liebe und Sehnsucht sind gar in derselben tänzerischen Sprache verfasst. Alles ist eingeebnet zu einem dekorativen Gehüpfe mit eleganten Hebungen. Das ist zu wenig für ein wirklich gutes Stück.

Gerade das Groteske vom „Wintermärchen“ sollte man ausstellen, statt es zu glätten, um die Highlights hier so richtig glänzen zu lassen.

Diesen Bogen hat Christopher Wheeldon nicht raus. Er scheint von hoher Literatur nichts zu verstehen. Da er und sein Komponist Jobi Talbot das Libretto selbst geschmiedet haben, ist von Shakespeare im Grunde nicht viel übrig.

Die Zielmarke bleibt unerreicht: „Ein Schmarren, aber ein unsterblicher“ – so urteilte der geniale Kurzkritiker Alfred Kerr vor rund hundert Jahren trefflich über Shakespeares Stück. Bei Wheeldon ist es nun auch ein Schmarren geworden, aber ein von zuviel Puderzucker verklebter.

Dabei will man das „Wintermärchen“ eigentlich immer wieder neu inszeniert sehen: weil es so charmant bescheuert und doch so lehrreich ist.

Das Wintermärchen“ ist zudem das vorletzte Drama von William Shakespeare. Es ist fast over the top, fast eins zuviel, steht dicht an der Grenze zum Unerträglichen, weil es so stark auf die theatrale Überwirklichkeit setzt.

Es ist zugleich ein Selbstversuch des Dichters: als Versuch, Shakespeares berühmtestes tragisches Stück, „Romeo und Julia“, als Komödie oder wenigstens als groteske Romanze erneut durchzuspielen.

"The Winter's Tale" von Christopher Wheeldon

Frauenpower mit elegantem Stil: Lauren Cuthbertson als Hermione im ersten Akt von „The Winter’s Tale“ von Christopher Wheeldon. Diese Besetzung ist auch auf der DVD / BluRay vom Royal Ballet zu sehen, die bei Opus Arte erschien. Foto: Johan Persson

Wenn man das Stück liest – und dazu sollte dieser Ballettabend allemal anregen – begeistert einen die Vieldeutigkeit der Shakespeare’schen Sprache.

Allerdings stehen sich hier nicht zwei gleichberechtigte Aggressoren gegenüber, wie es die Montagues und die Capulets in „Romeo und Julia“ sind. Vielmehr geht das Böse im „Wintermärchen“ eindeutig nur von der einen Seite aus – und der emotionale Winter dauert als Folge ganze 16 Jahre lang.

Hoffen wir, dass unsere heutige globale Welt nicht auch in eine solche eisige und unerbittliche emotionale Winterzeit verfiel.
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

Die DVD / BluRay „The Winter’s Tale” mit The Royal Ballet erschien 2015 bei Opus Arte.

www.opus-arte.de

Bei Reclam gibt es – praktisch klein – eine solide zweisprachige Ausgabe zum Lesen.  

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