Liebe im Aufeinanderprallen zweier Welten Jiří Bubeníček als Albrecht: Das Semperoper Ballett tanzt die moderne „Giselle“ von David Dawson zur Musikversion von David Coleman – wie das Psychogramm eines Träumers

Giselle ist auch in der Moderne ein zeitlos bedeutungsvolles Ballett.

Ein starkes Team: Duosi Zhu, Jiri Bubenicek und das Ensemble vom Semperoper Ballett nach einer mtireißenden „Giselle“-Vorstellung am 8. April 2015. Foto: Gisela Sonnenburg

Am Ende kniet der reuige Albrecht, traumverloren mit den Armen rudernd, im Kirschblütenregen – er ist allein auf der Bühne, verlassen von allen guten und allen bösen Geistern, verlassen auch von Giselle, mit der er soeben die letzte Umarmung erlebte, bevor sie am Bühnenhorizont in der Erde verschwand. „Giselle“, von David Dawson 2008 fürs Semperoper Ballett in Dresden zur Musikversion von David Coleman kreiert, fasziniert nach wie vor: mit Pas de deux wie aus dem Märchenbuch der Liebe, mit Ensembleszenen, die temperamentvoll und schmissig sind, und mit einem Libretto, in das man sich sogar dann einfühlen kann, wenn man von Ballett vorher nicht viel und von „Giselle“ rein gar nichts wusste. Und dann gibt es da noch Jiří Bubeníček, der als Albrecht die Aufführung am 8. Mai 2015 zu einem Ereignis machte.

Giselle ist auch in der Moderne ein zeitlos bedeutungsvolles Ballett.

Am Ende träumt ein geläuterter Albrecht inmitten von Kirschblütenblättern bei Mondlicht – in David Dawsons „Giselle“ beim Semperoper Ballett. Foto: Costin Radu

Der in Prag geborene Tänzer, der mittlerweile auch als Choreograf reüssiert, hat jenen Schmelz und jene Selbstbestimmtheit, die man benötigt, um aus einer einfachen Liebhaberrolle ein Abbild menschlicher Abgründe zu machen. Zu Beginn ist Albrecht ein unüberlegter, verliebter Galan, der seine Identität als Mitglied einer elitär-perversen Sexclique nur deshalb verheimlicht, damit er bei dem etwas hinterwälderischen Mädchen, das er begehrt, gut ankommt. Duosi Zhu tanzt erstmals die Titelpartie dieser eher naiv angelegten „Giselle“: mit liebenswerter Grazie und großer, auf ihren Albrecht konzentrierten Liebesfähigkeit.

Giselle ist auch in der Moderne ein zeitlos bedeutungsvolles Ballett.

Auch sie haben den großen Schlussapplaus verdient:der Bräutigam (Julian Amir Lacey, zweiter von links) und die glückliche Braut (Alice Mariani (ganz links) sowie ihre Mitstreiter. „Giselle“ am 8. April 2015 war eine herzzreißend schöne Performance – in der Semperoper in Dresden. Foto: Gisela Sonnenburg

Als eine Freundin von ihr heiratet (die entzückende Braut ist Alice Mariani, mit Julian Amir Lacey als Bräutigam für rundum hemdsärmelige Happiness), kommt Giselle ins Nachdenken. Warum hat sie nicht so ein Glück? Diese erwartungsfrohe Verknalltheit der werdenden Eheleute! Dieses ganz und gar ungefährliche Kribbeln, wenn sie sich beim Tanzen ansehen! Und: Diese Ehrbarkeit, etwa in den hohen Hebungen der Braut, die auf den Schultern ihres Bräutigams herein getragen wird wie eine willige Trophäe! Wieso kann Giselle so etwas nicht haben? – Weil sie dafür den Falschen liebt.

Sie hätte sich, um ein leichtes Lebensglück zu bekommen, zum Beispiel in Hilarion verknallen müssen. Laurent Guilbaud tanzt ihn mit um Giselle streng-besorgter Miene. Hilarion ist Giselle vertraut seit Kindheitstagen, es ist eine Sandkastenfreundschaft, aus der ganz easy hätte mehr werden können… Wäre da nicht Albrecht, eben der schöne Jiří Bubeníček, dazwischen gekommen. Neben ihm verblassen in Giselles Augen alle anderen zu Staffagen. Auch die wunderbaren Soli des Trauzeugen (sprunggewaltig: Francesco Pio Ricci) sowie die anderen gute Stimmung machenden Freunde (hervorzuheben ist Joseph Hernandez mit einem Höchstmaß an geschmeidiger Eleganz) können Giselle nicht mitreißen.

Giselle ist auch in der Moderne ein zeitlos bedeutungsvolles Ballett.

Sie passen nicht zueinander, aber sie lieben sich. Und tanzen glorios-moderne Pas de deux, wie sie typisch und prägnant für den Choreografen David Dawson sind. So zu sehen in „Giselle“ an der Semperoper in Dresden. Foto: Costin Radu

Was sucht dieses Mädchen und meint es ausgerechnet in einem Mann aus einer ganz anderen Welt gefunden zu haben? Glück? Ist es einfach nur die Freude der Liebe, die Giselle sich von Albrecht erhofft? Man kann es kaum fassen. Sie sind so verschieden! Giselle, die kleine Zarte, hüpft mit den Brautjungfern um die heiratende Freundin herum, zupft an ihrem Kleid, bewundert den schönen Brautstrauß. Aber sie bleibt außen vor.

Giselle ist auch in der Moderne ein zeitlos bedeutungsvolles Ballett.

Absolut überzeugend als dominante, aber charmante Bathilde: Jenni Schäferhoff, hier beim Schlussapplaus nach „Giselle“ am 8. April 2015 in der Semperoper in Dresden. Foto: Gisela Sonnenburg

Giselle fühlt: So ein selbstverständlich glückliches Lebensgefühl wie die anderen wird sie niemals haben. Was will sie aber von einem, der mit allen Wassern gewaschen ist, auf der Brust ein Schlangentatoo trägt und zudem auch noch zur Entourage der dominant-aufregenden Bathilde (absolut überzeugend charmierend: Jenni Schäferhoff) gehört? Spürt sie nicht unbewusst, dass Albrecht und sie völlig verschiedenen emotionalen Universen angehören?

Giselle ist auch in der Moderne ein zeitlos bedeutungsvolles Ballett.

Auch Sigmund Freud ist hier zitierbar: Das Programmheft zu David Dawsons „Giselle“ beim Semperoper Ballett ist klug und aufschlussreich. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Und hat sich dieser Mann nicht längst entschieden? Und zwar für ein Leben jenseits der bürgerlichen Normen, für ein zwielichtiges Dasein? Im Verein mit drei anderen frechen Jungs (großartig mit vorsätzlich verschlagener Eleganz: Emanuele Corsini, Milán Madar, Casey Ouzounis)? Aber wieso guckt Albrecht die kleine Giselle überhaupt so an?

Giselle ist auch in der Moderne ein zeitlos bedeutungsvolles Ballett.

Eine furiose Truppe: Bathilde mit ihren Jungs… hier dürfen zwei die „Chefin“ durch die Luft wirbeln… untertänigst, versteht sich. Blick ins Programmheft zu „Giselle“ beim Semperoper Ballett: Gisela Sonnenburg

So ist das eben mit der großen Liebe. Sie fällt manchmal wie wörtlich vom Himmel, hier symbolisiert von stetem Kirschblütenregen: ganz fasslich rieselt es lieblich in rosaweißen Flöckchen aus dem Schnürboden des Theaters. Zwei Seelen, die nichts gemein zu haben scheinen, verschmelzen, sowie sich die geringste Barriere löst: Zwischen dieser Giselle und diesem Albrecht sprüht es Funken!

Zu Anfang schmeißt er ihr Luftküsse zu, am Bühnenhorizont entlang springend, seine Männlichkeit demonstierend – zugleich seine Leichtigkeit und vermeintliche innere Unabhängigkeit ausstellend. Sie versteht diese kleinen Liebesbeweise sofort. Und wie sie diese Werbungen genießt! Sie möchte mehr, möchte schmatzende Küsse im Gesicht verspüren. Sie bekommt sie. Albrecht und Giselle sind schnell ein Paar, und wie stark sie es sind, wissen beide zu diesem Zeitpunkt selbst noch nicht.

Giselle ist auch in der Moderne ein zeitlos bedeutungsvolles Ballett.

Versteht was von der Liebe, im tänzerischen Sinn: David Dawson, vermutlich der am meisten in Deutschland unterschätzte Choreograf, der schon am Bolschoi in Moskau sowie in über 30 Ländern choreografierte. Der Engländer ist zudem Prix-de-Benois-Preisträger, also bereits mit den höchsten offiziellen Weihen der Ballettwelt gesegnet. Foto: Patrick Wamsgamz

Als er sie nach einem wunderschönen, wie hingehauchten Pas de deux küsst, liegt sie schon am Boden, willig, alles zu geben, was er verlangt. Sie liegt mit dem Kopf nach links, er kniet neben ihr, sie küssend – beide ahnen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass diese Pose auch jene sein wird, in der sie sterben wird. Bald. Aber irgendwie durchzieht bereits so ein Odem der Ewigkeit diese Lust der ungleichen beiden – weil mit diesem Kuss zwei Welten aufeinander prallen, die eigentlich wirklich nichts miteinander zu tun haben.

Und hatte man zunächst noch den Eindruck, es handle sich bei Dawsons „Giselle“ um eine in cremigen Pastelltönen ins symbolisch-spiralige Bühnenbild von Arne Walther hingetupfte „Giselle light“, so erhält die erzählte Geschichte rasch zunehmend an Tragweite. Da lieben sich doch zwei Menschen, die in Parallelwelten zuhause sind – was für eine Utopie völliger Versöhnung und Bereinigung. Ist das nicht der Beginn aller Weltfriedensträume? Dass sich die Gegensätze nicht nur anziehen, sondern in Liebe und Friedfertigkeit vereinen können?

Aber: Die Liebe als allheilende Illusion funktioniert hier nur, weil Albrecht sein raffiniertes schwarzes Jackett, das ihn als Bathildes Liebhaber kennzeichnet, gegen eine brave hellblaue Strickjacke eintauschte. Er lügt damit! Er ist nicht der, der er vorgibt zu sein, und so stark und ausnahmsweise sogar redlich sein Begehren auch sein mag – Giselle ahnt nicht einmal, dass er nicht der harmlose Junge von nebenan ist, sondern ein aufgefuchster Verführer mit ziemlich derbem Erfahrungsgut.

EIN DOPPELSINNIGER

Jiří Bubeníček tanzt diesen Doppelsinnigen, der trotz seines mentalen Betrugs aufrichtige Liebe für Giselle empfindet, mit einer Hingabe und Kommunikationsfreude, die einen wünschen lässt, die Zeit möge still stehen. Mit exakten kleinen Hüpfern gleitet er in Arabesken, partnert seine Giselle kongenial souverän, lässt sie sogar so sicher wie spielerisch über den Boden schliddern wie eine Eiskunstlaufprinzessin.

Solche Gleitschritte sind typisch für die Pas de deux von Dawson – ebenso wie das ruckhafte Zucken, das häufig die Oberkörper der Tänzer durchfährt, wenn sie, während sie eine komplizierte Beinarbeit ausführen (etwa Sprünge oder Drehungen auf ganzer Fußsohle mit ausgestrecktem Spielbein) in emotionale Konvulsionen geraten.

Doch alle vermeintliche Gemeinsamkeit und Harmonie zwischen Giselle und ihrem Herzensritter sind vergebens. Gerade ist das Fest der Hochzeit auf seinem Höhepunkt, gerade siedet die Stimmung vor lauter Glück und Zuversicht, da passiert es: Hilarion, der Eifersüchtige, outet Albrecht als sündigen, „verdorbenen“ Begleiter von Bathilde – und wie in der klassisch-tradierten Vorlage der „Giselle“ von 1841 verfällt die bis dahin ahnungslos verliebte junge Titelheldin Stück für Stück in einen seelischen Zustand der Zerrüttung, den man gemeinhin als Wahnsinn bezeichnet.

WAHNSINN UND TOD

Da steht sie, wiegt den Kopf, den sie mit beiden Händen festhält – und kann es nicht glauben, will es nicht glauben, dass ihr Liebster nicht der ist, für den sie ihn hielt. Ihr Albrecht ein berechnender Luxusverführer? Ein versauter Spekulant in Herzensdingen? Konnte sie sich so täuschen? Wie konnte das geschehen! Und was war sie denn für ihn? So eine Art Spielzeug? Ein seelenloses Etwas?

Sie kreiselt, sie taumelt, sie fällt, sie steht auf, sie mag es immer noch nicht glauben, sie rennt hin zu ihm – und läuft somit versehentlich in sein riesiges Messer, das gefunden wurde und ihm von Hilarion in die Hand gedrückt wurde. Giselle rammt es sich bei diesem Unfall tief in die linke Hälfte ihres zarten Unterleibs – und wankt jetzt, auch ohne Theaterblut glaubhaft schwer verletzt, sterbend über die Szenerie.

Giselle ist auch in der Moderne ein zeitlos bedeutungsvolles Ballett.

Giselle, verstorben – diese choreografische Pose ist ein Zitat all jener romantischen „Giselle“-Inszenierungen, die auch dem sehr gebildeten David Dawson (der selbst Principal Dancer war) bekannt sind. Zu sehen in der Semperoper in Dresden. Foto: Costin Radu

Als sie stirbt, ist sie für einige Takte fast identisch mit all den anderen, früheren Gisellen. Zudem ist die Musik von Adolphe Adam für diese „Giselle“-Version entschlackt worden: Der Dirigent und Tonsetzer David Coleman studierte im Archiv der Pariser Oper einst die Originalpartitur und rekonstruierte die Noten entsprechend dem Flair von 1841. Viele später dazu gekommenen schwelgerisch-romantischen Klänge und Orchestrierungen ließ er weg – mit Erfolg. Die Solovioline, die Bratschen, die beiden Fagotte und die Harfe hört man jetzt lieblich-klassisch-schlicht hervorstechen, wo sonst ein schwallender Klangteppich auf Humtata-Rhythmen basiert. Giselles hier unfreiwilliger Liebestod wirkt umso Mitleid erregender!

Die „Gisellen“ in mehr romantischen Versionen sterben zumeist an „gebrochenem Herzen“, manchmal auch ganz konkret an Herzversagen oder einem Herzinfarkt. Das kluge Programmheft des Semperoper Balletts, an dem die außerordentlich bedeutende Dramaturgische Beraterin Freya Vass-Rhee (eine praktisch wie theoretisch versierte Ballettkönnerin) mitwirkt, klärt hier über die zahllosen Möglichkeiten auf. Ist Giselle nun eine verkappte Selbstmörderin, deren Bühnensuizid im 19. Jahrhundert tabuisiert wurde? Oder hat sie eine kranke Herzklappe? Oder ist sie auf mysteriöse Weise ein Opfer ihres Schicksals?

Die vielen „Gisellen“ geben nur selten eine eindeutige Antwort. Meist zappeln, zittern, springen sie alle noch einmal in Albrechts Arme, um dann dort tot zusammen zu brechen – David Dawsons „Giselle“ hingegen stirbt in den Armen ihres Jugendfreundes Hilarion.

Giselle ist auch in der Moderne ein zeitlos bedeutungsvolles Ballett.

Giselle starb im Sprung, bei David Dawson in Dresden in die Arme ihres Jugendfreundes Hilarion – den hier auf dem Foto Jiri Bubenicek darstellt, weil er nicht immer den Albrecht tanzt. Foto: Costin Radu

Wie sie dann tot da liegt – das ist die Schnittstelle, der Fixpunkt in diesem Ballett. Zwei psychologische Universen gehen von hier aus: Zum einen in die Vergangenheit, also in den ersten Akt zurück, und dort sieht man die liebeshungrigen, leicht erregbaren Städter von heute, die David Dawson mit scheinbar leichter Hand wie in einem lichternen Aquarell skizzierte. In die Zukunft voraus schauend, also in den zweiten Akt, ergibt sich jedoch aus dem Tod von Giselle ein höllisch finsteres, alpträumerisches Szenario, das mit Selbstquälerei und Schuldgefühlen zu tun hat.

Giselle ist auch in der Moderne ein zeitlos bedeutungsvolles Ballett.

So ein intelligentes Programmheft macht schlau: Das Programmheft zu „Giselle“ von David Dawson an der Semperoper in Dresden ist zweisprachig, und zwar so, dass der Mensch sein Englisch (oder sein Deutsch) prima üben kann, noch während man sich eigentlich mit Ballett beschäftigt.Ist das eigentlich eine Form von Multitasking? – Faksimile: Gisela Sonnenburg

Beide Welten entstammen nicht nur unserer objektiven Wahrnehmung, sondern vor allem der psychischen Realität von Albrecht. Der hin- und hergerissene Liebhaber, der in Konflikt mit sich und seiner Identität geriet, der irrsinnig-abstrus Verliebte, der als Verführer Giselles letztlich ebenso versagte wie als ihr möglicher Retter vor für sie möglicherweise auch tödlicher Kleinbürgerlichkeit und spießiger Einöde – wie wird er weiter leben können? Er, der Giselle wörtlich aufspießte und so zu Tode brachte, anstatt mit ihr ein neues Leben zu beginnen, das sie aus der Enge und ihn aus der Ferne auf den tragfähigen Boden einer lebendigen Partnerschaft geholt hätte – wie soll er sich sein Verfehlen verzeihen?

Albrecht, der Träumer, der einstige Bruder Leichtfuß, der als Bathildes grausamer Spielgefährte so erbarmungslos verführen und sitzen lassen konnte, der die Peitsche wie das Zuckerbrot als Mittel zur Manipulation von Menschen kannte – er kommt im zweiten Akt des Dawson-Balletts mit frustriertem Blick und düsterem Täterbewusstsein auf uns zu. Hat er eine Chance, mit sich ins Reine zu kommen? Das Psychogramm wird komplettiert von der Entwicklung, die er nach Giselles Tod nimmt.

EIN TRAUMHAFTER TÄNZER TANZT DEN TRÄUMER

Und wieder schafft es Jiří Bubeníček, uns in seinen Bann zu ziehen. Er schaut nur kurz herein in diesen abstrakten, kahlen, dunklen Raum, den Bühnenbildner Arne Walther und Lichtdesigner Bert Dalhuysen für Albrechts Schuldbewusstsein schufen. Aber wenige Augenblicke genügen bereits, um die ganze Atmosphäre seiner Befindlichkeit zu vermitteln. Er ist dabei ganz bei sich, fast in sich gekehrt – aber seine kummervollen Gedanken, vermischt mit der Bereitschaft, sie abzuklären und mit sich selbst ins heilsame Gericht zu gehen, werden nahezu fasslich. So beredt sind sein Körper, seine Mimik.

Hat nicht jeder manchmal das Gefühl, so ziemlich alles in seinem Leben falsch gemacht zu haben? Möchte man nicht von vornherein ein anderer oder eine andere gewesen sein? Hat man nicht – ob wissentlich oder unwissentlich – die wichtigsten Chancen im Leben vergeben? Hätte man nicht immer und ausschließlich nur der Suche nach wahrer Liebe leben sollen? Und seinem Herzen auf diese Suche folgen müssen?

Giselle ist auch in der Moderne ein zeitlos bedeutungsvolles Ballett.

Die Wilis sind bei David Dawson nicht ganz so rachsüchtig wie in den traditionellen „Giselle“-Versionen – aber sie sind verwirrend und darum so  gefährlich wie Nebel auf der Autobahn, bei 300 km/h… Zu erleben beim Semperoper Ballett in Dresden. Foto: Costin Radu

Myrtha (groß und stark: Aidan Gibson) ist jedoch dagegen. Sie ist die Königin der „Wilis“, dieser von Heinrich Heine vermutlich erfundenen, angeblich aber ursprünglich der slawischen Sagenwelt zuzuordnenden weißen Frauengeister. In der traditionellen „Giselle“ tauchen sie dem Libretto nach im deutsch-französischen Grenzgebiet auf; Dawson versetzt sie in einen Gedankenraum, der uns alle betreffen kann.

Giselle ist auch in der Moderne ein zeitlos bedeutungsvolles Ballett.

Auch beim Schussapplaus halten alle zusammen: Die „Principals“, die Solisten, das Ensemble… beim Semperoper Ballett in Dresden. Foto: Gisela Sonnenburg

Mädchen, die unverheiratet großer Liebe frönten und daran starben, flittern hier mit weißen Schleiern, tanzenden Nebelschwaden ähnelnd, durchs düstere Gefilde. Myrtha ist die wichtigste von ihnen, sie bestimmt, was zu geschehen hat.

Myrtha fordert von Albrecht, dass er sich besinnt, dass er bis zur Erschöpfung über sich und seine Fehler nachdenkt, im Ballett also: exzessiv tanzt, und sie gibt erst nach, als Giselles Geist – ohne weißen Schleier, dafür im hautengen Trikot – sich seiner erbarmt.

Der Geist von Giselle, die allen Grund hätte, Albrecht den Tod zu wünschen, nähert sich ihm liebevoll und auch ein bisschen neugierig. Was wird nun aus diesem einst so selbstsicheren Mannsbild?

Jiří Bubeníček – wie vor ihm auch Raphael Coumes-Marquet (der die Partie des Albrecht mit David Dawson kreierte) und wie weitere fabelhafte Tänzer des Semperoper Balletts – zeigt nun die Entwicklung dieses Mannes: vom reuigen Sünder zum geläuterten Menschen.

GLÜCK UND UNGLÜCK DES ÜBERLEBENDEN

Der Seelenfrieden, er kann erst eintreten, als Giselle ihm verziehen hat… dieses Ziel verfolgt Albrecht, tanzt sich dafür fast zu Tode, es ist Mitleid erregend, anzusehen, wie er wieder und wieder bereit ist, für sein Versagen zu sühnen. So, wie Giselle im ersten Akt zu Tränen rührte, so rührt nun er uns an: Wann ist Schuld wieder gut zu machen – und wie?

Die Heerschar der Wilis umzingelt Albrecht, verwirrt ihn mit zuckenden, kreisenden Bewegungen – es stößt ihn fast zurück ins dumpfe Nichtswissenwollen. Doch Giselles heller Spiritualismus, ihre gleitenden, geschmeidigen Liebkosungen durch die Luft stärken ihn. Und lassen ihn genesen.

Albrechts Fantasie ist für ihn selbst wie eine Therapie. Er kann sich selbst vergeben, weil Giselle ihm vergibt. Und sogar die eher rachsüchtige Myrtha ihn fortan in Ruhe lassen wird. So eine kathartische Kraft hat die Liebe!

Giselle ist auch in der Moderne ein zeitlos bedeutungsvolles Ballett.

Der erste Applaus nach dem letzten Pas de deux und dem Stückende: Jiri Bubenicek und Duosi Zhu vom Semperoper Ballett nach „Giselle“ von David Dawson. Foto: Gisela Sonnenburg

Als es zum letzten Pas de deux mit Giselle kommt, ist Albrecht bereits ein anderer. Ein gereifter Mensch, wie es sie womöglich nur sehr selten gibt. Ein liebenswerter Mensch – trotz nicht geringer Schuld, die er einst auf sich lud. Erlöst geht er auf die Knie, beugt den Oberkörper träumerisch vor und zurück, sieht hoch, setzt sich den auf ihn niederfliegenden Kirschbütenblättern aus… Er ist in einer anderen, metaphysisch bestimmten Welt angekommen, in der das Gefühl der Liebe auch ohne sexuelle Erfüllung eine Erhebung und Kraftquelle bedeutet. Bravo.
Gisela Sonnenburg

Am 12. und 18. April tanzen die weniger sanfte, dafür aufregend-wilde Courtney Richardson die „Giselle“ – und der auratisch-vornehme Fabien Voranger den Albrecht. Was ebenfalls äußerst sehenswert ist. Für Insider ist das sogar ein richtiger Geheimtipp!

Giselle ist auch in der Moderne ein zeitlos bedeutungsvolles Ballett.

Auch für Musikfans ein Tipp: David Coleman, Dirigent und Tonsetzer, arrangierte die Musik von Adolphe Adam nach den Originalnoten… hier verbeugt er sich nach einer „Giselle“-Aufführung in Dresden, zwischen zwei superben Ballerinen stehend. Foto: Gisela Sonnenburg

Für Musikfans ist die Aufführung zudem interessant, weil die gespielte Version Adolphe Adams Originalpartitur von 1841 folgt. Sie ist längst nicht so pompös und „schwallig“ orchestriert wie die späteren, sonst gespielten „Giselle“-Noten, und sie lässt zum Beispiel den Violinensoli vorzügliche Möglichkeiten, exquisit-lieblich zur Geltung zu kommen.

Giselle ist auch in der Moderne ein zeitlos bedeutungsvolles Ballett.

Noch einmal David Coleman, der der Harfe, der Violine, der Bratsche und den Fagotten genügend Luft lässt – in der entschlackten Originalversion von „Giselle“, die er vorzüglich dirigiert. Foto: Gisela Sonnenburg

Es gibt für beide dieser Vorstellungen noch Karten!

Eine Anreise nach Dresden dafür lohnt unbedingt. Man sollte bedenken:

David Dawson gehört zu den am meisten in Deutschland unterschätzten Choreografen – und das Semperoper Ballett ist nach Meinung des ballett-journals die bedeutendste aufstrebende Compagnie in Deutschland, mit bereits internationaler Wirkung. Viele hochkarätige, aber vom Temperament her völlig verschiedene Tänzer bilden hier einen sehr spannenden Ensemble-Organismus, dessen Solisten eine denkbar breite Palette abdecken. Muss man wirklich gesehen haben!
Gisela Sonnenburg

Lesen Sie bitte hierzu auch:

www.ballett-journal.de/semperoper-ballett-giselle/

www.semperoper.de

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