Wer kennt Ivan Liška und mag ihn nicht? – Das ist überhaupt nicht möglich! Der 1950 in Prag geborene Tänzer, Choreograf und Direktor des Bayerischen Staatsballetts hat eine Ausstrahlung und einen Charme, dabei eine Intelligenz und ein Weltverständnis, welche zusammen weder aufdringlich noch aufgesetzt noch unnatürlich oder hochgestapelt wirken. Und dennoch haben sie eine tiefgehende Wirkung. Ein Tänzer mit Tiefenschärfe!
Da er einen Großteil seines tänzerischen Wirkens in Hamburg bei John Neumeier absolvierte – und zwar von 1977 bis 1997 – übernahm jetzt, im Vorjahr seines Abschieds als Münchner Ballettdirektor, der Förderverein „Ballettfreunde Hamburg e.V.“ die Finanzierung seiner Biografie. Geschrieben wurde sie von der Hamburger Boulevard-Journalistin Dagmar Ellen Fischer, die seit vielen Jahren regulärer Gast in diesem Verein ist – man kann also mit Fug und Recht von einer Art „Vereinspublikation“ sprechen.
Nachdem Fischer sich in der Vergangenheit mit einem oberflächlich hingeschubberten Band über den legendären einstigen Stuttgarter Solisten Egon Madsen blamierte – damals von einem anderen zahlungskräftigen Verein finanziert – hat sie dieses Mal ein in weiten Teilen sehens- und auch lesenswertes Buch hervorgebracht. Verantwortlich dafür sind aber weniger die Autorin und der Verein, als vielmehr Ivan Liška selbst, dessen immer wieder ausführlich zititerte wörtliche Rede den besten Teil des Buches ausmacht, als auch die Programmleiterin des Henschel Verlags, die die Ballettbiografien dort betreut: Susanne Van Volxem hat aufmerksam befolgen lassen, was Fischer schon in ihrem Madsen-Werk hätte besser machen müssen.
So wird dieses Mal nicht nur die Person, sondern vor allem der Künstler portraitiert und vorgestellt: Fleißig werden alle Rollen, die er jemals tanzte, von Kindesbeinen in Prag an bis zu den späten, aber eindringlichen Gelegenheitsauftritten in München, aufgelistet. Manchmal erfährt man sogar etwas über den Inhalt des jeweiligen Balletts oder Tanzstücks – wiewohl Interpretation oder Analyse sicher nicht die Stärke von Fischer ist.
Dafür schildert sie anschaulich, wie der kleine Ivan begeistert den Kinder- und Folkstanz ausübte, bis er auf dem Prager Konservatorium, einer bis heute international berühmten Ballettschulen vor allem für Jungs, seine Profiausbildung erhielt. Sein Schulweg führte ihn an Kulturdenkmälern vorbei – möglicherweise hätte man hier noch etwas stärker das allgemein sehr gebildete Niveau Liškas sowie seine möglicherweise früh geweckte Lust an Bildung einflechten können.
Noch als Student erhielt er zahlreiche professionelle Auftrittsgelegenheiten in Prag – allerdings litten seine Eltern unter den politischen Verhältnissen und beschlossen, nach der jähen Beendigung des Prager Frühlings durch russische Panzer, in den Westen zu wechseln. Hier stimmt es etwas traurig, dass Fischer ein sprachlicher Lapsus unterläuft, der glauben macht, man bezeichne das Auffahren der Panzer als Prager Frühling. Die meisten Leser aber werden wissen, dass die gutgelaunte, hoffnungsfrohe und freiheitlich gestimmte Ära unter dem Politker Dubcek damit gemeint ist.
Die politische Einseitigkeit des Bandes nimmt denn auch nicht Wunder – Fischer ist eine Hamburger Lokalreporterin und keineswegs versiert darin, größere historischer Zusammenhänge auch nur ansatzweise zu beleuchten. Hier hätte sie sich vielleicht die Mühe machen können, andere Autoren zu lesen und zu zitieren – aber ihre Lektüren und Quellenangaben enden ohnehin überwiegend Anfang der 90er Jahre, was weiterhin ein Beleg für ihre – mit Verlaub – „Betonköpfigkeit“ ist, die das Ende des Kalten Kriegs noch immer nicht so richtig fassen kann und wohl bis Lebensende in sich kultivieren wird.
Über das bis heute mitunter berechtigt schwierige Verhältnis der Prager zu den Deutschen, die als Nazis die Stadt blutig besetzten, schweigt Fischer ganz – vermutlich hat sie davon noch nie gehört.
Man muss also, um den Band zu genießen, in seiner ersten Hälfte so Einiges an abgestandenen Phrasen und historischem Lochwerk übergehen. Dann aber wird es spannend.
Denn während seine Eltern sich während eines Verwandtenbesuchs in Westdeutschland absetzten, konnte Ivan elegant über Paris seine Heimat verlassen. Obwohl er nicht immer konform mit dem sozialistischen System ging, erlitt er keine Repressalien – was absurderweise die Ausreise erleichterte. Als begabter Tänzer wurde er von seiner Folklorelehrerin sogar auserwählt, ihr in den Sommern 1968 und 1969 bei Workshops in Paris zu assistieren. Diese Gelegenheiten, die so genannte Stadt der Liebe kulturell und auch von der Lebensart her kennen zu lernen, ließ sich der aufgeweckte junge Mann nicht entgehen. Vor allem interessierten ihn alle Bandbreiten des Bühnentanzes – etwas, das ihn vor allem anderen in den Westen lockte.
In Düsseldorf arbeitete eine schon zuvor emigierte ehemalige Tanzlehrerin Liškas als Ballettmeisterin. Sie vermittelte ihrem einstigen Zögling ein Vortanzen bei dem ambitionierten Düsseldorfer Ballettchef Erich Walter. Der engagierte ihn sofort – auf eine so unkomplizierte Art und Weise, von der die heute in stark konkurrierendem Wettbewerb stehenden jungen Nachwuchstänzer wohl nur träumen können.
Düsseldorf wurde Job und zweiter Ausbildungsweg zugleich. Ivan Liška tanzte, tanzte, tanzte, sammelte Erfahrung und Kenntnisse, trainierte seinen schönen Körper und brillierte mit seiner spezifischen, markant-männlichen, dennoch auch sehr sensiblen Aura auf der Bühne. Seine bereits avancierte Kollegin Colleen Scott, gebürtige Südafrikanerin, gefiel ihm vom ersten Anblick an. In ehrlicher Begeisterung steckte der Anfänger ihr einen Zettel unter den Scheibenwischer ihres Wagens: „Coleen – ich bewundere Dich, Dein Tanz, Poesie (Anm.: das Wort hat er unterstrichen) in Dein Bewegung – es war heute wunderbar – Ivan“ – welche Frau würde sich über so nette Worte nicht freuen?
EIN TOLLES PAAR
Dennoch dauerte es noch vier Jahre, bis Ivan und Colleen ein Paar wurden. Später heirateten sie und gründeten eine Familie – und sind noch heute Eheleute. Dass Colleen eine begabte Ballettmeisterin ist und im Stab ihres Mannes beim Bayerischen Staatsballett arbeitet, erfährt man nur am Rande – die große Bescheidenheit der einstigen Starsolistin wurde Dagmar Ellen Fischer vermutlich zum Verhängnis. Sie hätte bei Scott einfach mehr nachfragen sollen!
Dann wüsste man vielleicht auch genauer, wie eine Tänzerehe in den 70ern und 80er Jahren funktioniert hat. Die spezifischen Arbeits- und Lebensbedingungen waren damals ja auch in der Oberschicht längst nicht so gut wie heute. Dennoch hielt die Ehe, und als Ivan sich verbessern wollte und von Dieter Gackstetter als Solist nach München engagiert wurde, kam Colleen einfach mit – obwohl sie, die in Düsseldorf bereits so etwas wie eine kleine Berühmtheit bei den Ballettfans war, in München mit einem Gruppenvertrag anfangen musste.
In ihrer zweiten Saison wurde sie bereits Solistin, und auf der Bühne strahlte das Paar noch stärker als privat: Sie als rotblonde, sehr zarte, für eine Balletttänzerin aber extrem weibliche Künstlerin, und er mit seiner männlichen Souveränität, gewürzt mit diesem gewissen Etwas aus Sensitivität und Kampfgeist. Ein tolles Paar.
Das fand man auch in Hamburg, wohin John Neumeier die beiden 1977 engagierte. Neumeier suchte eine Optimalbesetzung für den lyrischen, aber auch in ultrakomische Aktionen verwickelten Gärtner Lysander in seiner erst noch zur Uraufführung zu bringenden Choreografie von „Ein Sommernachtstraum“ nach dem Theaterstück von William Shakespeare. Mit Ivan Liška hatte er genau jene Nuancierungen, die er für die Rolle suchte.
WENN EHEFRAUEN INS HINTERTREFFEN GERATEN
Colleen Scott erwies sich später übrigens als eine hinreißend ambivalente Elfenkönigin im selben Stück – ihren für die Spitzenschuhe ohnehin wie gemacht erscheinenden, poetischen Ballerinenfüßen und überhaupt ihrem Flair als Künstlerin hätte man gut und gern mehr Aufmerksamkeit schenken können, als es dieses Buch tut. Ehefrauen geraten eben allzu leicht ins Hintertreffen – sogar in so einem Buch. Da ist die bei der Deutschen Grammophon erschienene DVD „Die Kameliendame“ mit ihr als virtuos-koketter Prudence und ihrem Mann als tiefsinnig liebendem Armand (neben der dominanten Marcia Haydée in der Titelrolle) immerhin aufschlussreicher!
In Hamburg tanzten Scott und Liška die großen Partien, die wir heute als Klassiker des modernen Balletts bezeichnen: die Haupt- und interessante Nebenrollen in John Crankos „Der Widerspenstigen Zähmung“, in John Neumeiers „Die Kameliendame“, in „Endstation Sehnsucht“ (ebenfalls von Neumeier), in Stücken von George Balanchine und José Limón. Ein Glanzlicht war die Kreation Ivan Liškas der Rolle des „Mannes im Schatten“ in Neumeiers „Illusionen – wie Schwanensee“: Der das Ballett abschließende Pas de deux zweier Männer, von denen der eine den in Wahn sterbenden Ludwig II. verkörpert und der andere – Ivan – den ihn holenden Schattenmann, gehört zu den absoluten Hits der Choreografie-Historie des 20. Jahrhunderts. Niemals zuvor sah man zwei Männer in so leidenschaftlicher, auch kämpferischer Umarmung.
Liška beherrschte als Tänzer aber nicht nur die großen Rollen von Handlungsballetten. Auch in abstrakt-thematisch zu verstehenden Parts vermochte er es, eine Sogwirkung auf die Menschen im Publikum auszuüben. In Hans van Manens „Großer Fuge“ schwebte er schon 1973 mit nacktem Oberkörper, in einen knöchellangen Männerrock gehüllt, über die Tanzfläche. Was für ein androgyner Charme bei doch so großer körperlicher Entschiedenheit!
Auch Neumeier schuf für Ivan Liška mit Parts von „The Age of Anxiety “ (1979) über die „Fünfte Sinfonie von Gustav Mahler“ (1989) und auch noch in „Opus 100 – for Maurice“ (1996) abstrakte Rollenparts, die in ihrer ästhetischen Schönheit und in ihrem psychologischen Tiefgang unerreicht sind.
Da wirkt der erste Eindruck, den Ivan Liška von John Neumeier in Hamburg hatte, wirklich antizipatorisch: „In der Direktionsetage angekommen, kurz vor dem Anklopfen, hörten wir eine Männerstimme leicht verzweifelt rufen: ‚Ich brauche Tänzer!’“ Ja, und die bekam er denn auch, mit Ivan und Colleen.
1997 dann ging das Paar nach München, ein zweites Mal in seiner Karriere, dieses Mal wurde Ivan – als Nachfolger der ihm bekannten Konstanze Vernon – dort selbst der Boss. Zunächst arbeitete er als Stellvertreter der Vernon, ab September 1998 als Ballettdirektor. Seine Frau war – damit die beiden Kinder in der Schule keine Nachteile hatten – bereits 1996 mit den Gören nach München gezogen. Ihre Belohnung war die Möglichkeit, dann als Ballettmeisterin zu arbeiten – in Hamburg war sie nach dem Bühnenabschied als Tanzlehrerin im Privatbereich nicht wirklich ausgelastet.
Mit Bettina Wagner-Bergelt und Wolfgang Oberender fand Liška zudem kompetente Ballettdramaturgen in München vor – der Zusammenhalt von Tanz und anderen Künsten, die Möglichkeit, durch Ballett geschmacks- und meinungsbildend zu wirken, waren so leichterdings gut gewährleistet.
Die weitere Profilierung des Bayerischen Staatsballetts als einerseits klassische, andererseits auch moderne Tanztruppe – ein Unterfangen, dass die Vernon bereits begonnen hatte – gelang Ivan Liška und darf als sein Lebenswerk in der zweiten Hälfte seiner Karriere erachtet werden. Sein Verdienst ist es, dass die Bayern heute eine nicht nur große, sondern auch bedeutende Compagnie haben – man muss hoffen, dass dieses Niveau nach Liškas Rückzug 2016 unter seinem Nachfolger Igor Zelensky nicht deutlich geringer werden wird.
Als kulturpolitische Errungenschaft etablierte Liška nicht nur Gastspiele sowie Kooperationen mit Museen und Eventorganisationen, sondern auch die so genannte „Junior Company“, das Bayerische Staatsballett II. Was früher vor allem in Russland gang und gäbe war, nämlich tänzerische Berufsanfänger in einer Art Übergangsensemble auf den rauen Alltag als Tänzer vorzubereiten, gelang in München ebenfalls stante pede: Bundesweit und international gastiert die Jungtruppe, und ein besonderer Erfolg ist ihre Einstudierung von Oskar Schlemmers avantgardistischem Anti-Ballett „Das Triadische Ballett“, welches Ivan Liška und Colleen Scott 1977 selbst einmal getanzt haben.
Was bleibt, ist die Erinnerung an einen großartigen Tänzer, Menschen und Ballettimpresario, der mit Irène Lejeune auch eine der bedeutendsten Ballettmäzene immer wieder zu faszinieren weiß. In Zukunft wird Ivan Liška die Heinz-Bosl-Stiftung leiten – und auch seine Choreografien einstudieren, etwa „Le Corsaire“ von 2007, der bereits zu Beginn der kommenden Spielzeit beim Bayerischen Staatsballett zu sehen sein wird.
Noch was: Man wird neugierig auf diesen Mann, egal, wie gut man ihn bereits kannte. Damit ist der Sinn so eines Buches eigentlich erfüllt – in heutigen Tagen, in denen der Buchmarkt mit flüchtigen Schlechtwerken geflutet wird, nimmt sich „Ivan Liška. Tänzer – Die Leichtigkeit des Augenblicks“ aus wie eine Offenbarung.
Gisela Sonnenburg
Dagmar Ellen Fischer: „Ivan Liška. Tänzer – Die Leichtigkeit des Augenblicks“, 184 S., 80 Abb., Hardcover, Henschel Verlag, Leipzig, 2015, ISBN 978-3-89487-754-5 – Kostenpunkt: 24,95 Euro