Steinbruch-Tänze Ostern mit dem „Messias“: Beim Hamburg Ballett blühen drinnen die Neurosen und draußen die Kirschblüten

Im "Messias" geht nicht alles schief.

Das Cover vom Programmheft deutet es bereits an: Im „Messias“ beim Hamburg Ballett bewegt sich der Mensch sogar zu Ostern auf der schiefen Bahn… Faksimile: Gisela Sonnenburg / Coverfoto: Holger Badekow

Es gibt Menschen mit Charakter in dieser Gesellschaft, die sich wegen ihrer Armut umbringen. Gegen diesen Skandal kann Ballett nicht wirklich helfen. Aber um zu erkennen, was die Welt jenseits von Physik und Geld im Innersten zusammen hält, ist Ballett ein einzigartiger Weg. Der „Messias“ von John Neumeier zum Beispiel, der unter anderem zu Ostern am Sonntagnachmittag vom Hamburg Ballett getanzt wurde, strotzt nur so vor Variationen, die aufzeigen, wie Menschen miteinander umgehen – wie sie einander hassen, einander lieben, einander beschädigen, einander verzeihen. Die collageartig ineinander greifenden Tänze bilden einen Steinbruch kommunikativer Möglichkeiten – man picke sich heraus, wonach einem der Sinn gerade steht.

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Die Bühne mutiert zum von einem Steinkreis begrenzten Spielfeld, auf denen sich ebenso viele Tänzer bewegen wie Sänger im Orchestergraben singen… Tanz und Musik gehen hier eng zusammen. Foto: Videostill von Gisela Sonnenburg aus dem Werbetrailer „Messias“ vom Hamburg Ballett

„Exil“ heißt der erste Teil dieses ernsthaften Balletts zu Musiken von Georg Friedrich Händel und Arvo Pärt. Aleix Martínez und Carolina Agüero tanzen darin mit konzisen Schrittfolgen ein ungleiches Paar, das keines mehr sein will und dennoch nicht voneinander lassen kann. Über der schwarzen Schräge, von der sie abrutschen wie Menschen, die auf eine schiefe Bahn gerieten, hängt drohend und unbarmherzig ­– und auch noch schief – ein großer Spiegel. Hinter diesem Geschehen wächst ein Baum, der direkt aus einer Inszenierung von Samuel Becketts Theaterstück „Warten auf Godot“ stammen könnte. Kein Blatt, nirgends!

Der kahle Baum, der etwas blinde Spiegel, die unwirtliche Schräge – die Lebens- und Überlebensbedingungen in diesem „Messias“-Stück sprechen nicht gerade eine paradiesische Sprache. Aber die Menschen, die zu aller Not auch noch tote Steine um sich im Kreis gelegt haben und die Bühne so zu einem ritualhaft abgesteckten Ort machten, sind voller Leben hier! Fast steckt zu viel Leben in ihnen, zu viel Wollen, zu viel Macht über andere, zu viel des Drängens, des Beharrens, des Habenwollens. Es gibt Streit, zwangsläufig – und scheinbar völlig irrational bahnen sich Gefühlsströme ihre Läufe, die mal euphorisch-angenehm, mal entsetzlich-abschreckend sind.

m "Messias" geht nicht alles schief.

Drinnen die Neurosen, draußen die Kirschblüten: Impression aus einem Hamburger Park an Ostersonntag bei blauem Himmel. Zur Stimmungsvielfalt von „Messias“ passt auch dies! Foto: Gisela Sonnenburg

Aleix Martínez ist ein junger Meister solcher emotionalen Wechsel. Er lässt sich hier als Retter feiern und bejubeln – und doch bald darauf als schuldiger Scharlatan fast steinigen. Dann krabbelt er die Schräge auf allen Vieren empor, die Hände wie Klauen versteift und gespreizt. Der Mensch, ein Arbeitstier? Mühsal und Anstrengung, animalische und meditative Kontemplation. Mensch, mach mal hin! Sieh zu, dass du was wirst! Rauf auf den Gipfel!

Aber da ist nichts, auf dem Gipfel. Die Schräge hört nie auf, eine Schräge zu sein – gefährlich und fürs Abrutschen wie gemacht. Die Menschen, die es schaffen, da weit empor zu kraxeln, auch sie purzeln wieder herab.

Anna Laudere hat so ein Solo: Da strebt sie hinauf, mit einer Selbstverständlichkeit, dass man ihr alles zutraut, sogar einen hoch dotierten Lottogewinn! Doch dann geht es bergab für sie, ob wie will oder nicht. Die Schwerkraft, die so eine brillant ausgebildete Tänzerin sonst am ebenen Boden locker zu überwinden scheint, wird jetzt zu einer Kraft, die von der Künstlerin noch dargestellt werden muss.

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Purpurviolett blüht es in Hamburg an Ostern, während auch der „Messias“ von John Neumeier oftmals ein lilafarbenes Licht enthält… Foto: Gisela Sonnenburg

Anna Laudere, die hoch gewachsene schlanke, dennoch zarte Frau, rollt abwärts… unten angekommen, schmiegt sie sich an die Kante der Schräge, und auf Zehenspitzen hangelt sie sich an ihr mit aller Hingabe entlang, sie kann nicht vom Ort ihres Verderbens lassen.

Carolina Agüero hat ein ganz anderes Solo. Sie verlässt die ebene Spielfläche dazu nicht. Aber ihre blitzschnellen Verbiegungen, ihre kleinen Schritte und Leibesbeugen, ihre Handsignale und ihre Rumpfkrümmungen erzählen von Qualen, ähnlich denen der Laudere. Oh, ihr Frauen, ihr habt Recht: Die Emanzipation ist notwendig, aber kein Zuckerschlecken…

Dario Franconi hingegen ist der Starke in diesem Spiel. Er hat atemberaubend schöne Pas de deux mit Frauen, aber auch mit Männern. Graeme Fuhrman, der sich langsam, aber sicher als Solist empfiehlt, ringt und rangt mit Franconi – und nur Emanuel Amuchástegui und Jacopo Bellussi können mit ihren Hebungen und Verwerfungen im Männer-Pas-de-deux der Ambivalenz von zwischenmännlichen Beziehungen noch stärker die Maske des zivilisierten Anscheins nehmen.

Im Sommer wird John Neumeier Beförderungen aussprechen müssen. Die Anzahl seiner Ersten Solisten schrumpfte durch Alter oder Erkrankung, die Zahl seiner Solisten durch Abgänge. Ein Trend, der anhält und bald weiteren Schwund zeitigen wird. Nachwuchsbeförderung ist angesagt!

Nun weiß man, dass das Leben nicht immer gerecht ist, im Gegenteil: Meistens ist es ungerecht. Manche Menschen werden bevorzugt, andere benachteiligt. Und so eine Balletttruppe ist zudem eher ein Roulette des Lebens als eine berechenbare Gewinnermaschine. Aber einige Tänzerinnen und Tänzer hätten einen Solistenstatus sicher verdient, so mitreißend und individuell, wie sie sich dem Publikum bereits präsentiert haben. Als da außer Graeme Fuhrman sind: Sasha Riva, Lucia Ríos, Emanuel Amuchástegui, Christopher Evans, Lizhong Wang, Winnie Dias, Emilie Mazón, Yun-Su Park… und sicher noch einige andere.

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Hätte die Beförderung zur Solistin verdient: Lucia Ríos, hier in „Messias“ in jenem Part, den Ostersonntag Anna Laudere tanzte. Man beachte die ausdrucksstarke Schönheit des Ballerinenfußes! Foto: Videostill von Gisela Sonnenburg aus dem Werbetrailer „Messias“ vom Hamburg Ballett

Aber letztlich können Beförderungen viele Gründe haben – und nur wenige werden ausreichen, um realisiert zu werden. Manchmal braucht ein Ballettchef einen bestimmten Rollentypus unter den Solisten. Oder auch ein bestimmtes Temperament im Corps. Manchmal geht es sogar nur darum, jemanden als Zugpferd in der Gruppe zu halten und zu motivieren – prompt wird befördert. Für Soloparts kann man hingegen jederzeit eine Zulage zahlen – darum muss nicht zwangsläufig der faktische Rang einer Tänzerin oder eines Tänzers steigen.

Das Publikum wird bestimmt überrascht werden – und in manchem auch bestätigt. Vorstellungen wie die österlichen „Messias“-Schauen sind jedenfalls gut geeignet, um die Newcomer einer Compagnie kennen zu lernen. Denn hier sind viele Soloparts enthalten, und sogar in den Gruppenparts zeichnen sich immer wieder sichtlich Individuen ab (ohne Egalisierung mit „Perückenchoreografien“). In diesem Sinne ist der „Messias“ eine hervorragende Ergänzung zur „Winterreise“ und zugleich eine prima Vorbereitung auf „Préludes CV“.

m "Messias" geht nicht alles schief.

Yun-Su Park springt, landet, biegt sich höchst elegant, mit einer bescheidenen, hochkarätigen Anmutshaltung. Yeah! Foto: Holger Badekow

So hat die sehr zarte, aber geschmeidige und stets in schöner Körperspannung tanzende Yun-Su Park im „Messias“ ein Solo, das erst in einen Pas de deux mit Aleix Martínez und dann in einen Pas de trois mit Anna Laudere übergeht – und während dieser gesamten Strecke zeigt sie mit einer bewunderungswürdigen Bescheidenheit eine hoch anmutige Linienführung. Eine Yoga-ähnliche Beinverknotung in einer Sitzposition inbegriffen: Da schaut sie aus wie eine Skulptur, von einem Könner wie Rodin erschaffen. So etwas möchte man gern öfters sehen!

Wichtig ist im „Messias“ aber auch der Zusammenhalt der Künstler. 36 Tänzerinnen und Tänzer sind auf der Bühne, ebenso viele Chorsängerinnen und – sänger im Orchestergraben bei den Musikern. Die Gesangssolisten Mélissa Petit, Rebecca Jo Loeb, Rainer Trost und Florian Spiess bewegen sich teilweise auf der Bühne, nah der Spielzone – und der Dirigent Alessandro De Marchi hat allerhand zu tun, seine Schützlinge auf einen Nenner zu bringen. Dabei geht ihm das virtuos durch den Taktstock, tataaaaa – und zum fabelhaft ruhigen, sicheren, klaren Trompetenklang von André Schoch liegt dann das Tänzerensemble für ein paar Sekunden so entspannt auf der schrägen Bahn, als würde es ein kollektives Sonnenbad nehmen.

m "Messias" geht nicht alles schief.

Musiken, alte und neue, mischen sich in „Messias“ von John Neumeier. Hier ein Blick ins Programmheft des Hamburg Balletts. Faksimile: Gisela Sonnenburg

„Händel klingt irgendwie vertikal, senkrecht geschichtet und damit auch in gewisser Weise vertikal“, stellt denn auch Angela Dauber in einem Essay im Programmheft zu „Messias“ fest. Ein „Hallelujah“ als Finale, fröhlich und versöhnlich, jedoch gefolgt von Arvo Pärts eher düster-lakonischem „Agnus Dei“, scheint das zu beweisen.

Dennoch versöhnen sich zwei grundverschieden charakterisierte Gruppen auf der Bühne, über alle Zweifel hinweg: Die modernen Wegelagerer von der schiefen Bahn und die ewigen Migranten, die in Mänteln und mit Trauermarsch-Mimik die restliche Bühne überqueren, finden ein Einverständnis auf diesem Erdball. Vorerst jedenfalls.
Gisela Sonnenburg

Lesen Sie hierzu bitte auch:

www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-messias-2016/

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