Als Kenneth MacMillan 1967 an der Deutschen Oper Berlin seinen Einakter über das Schicksal von Anna Anderson kreierte – jene charismatische Schizophrene, die sich für „Anastasia“, die letzte Zarentochter hielt – glich das einer politischen Provokation. Nur sechs Jahre nach dem Mauerbau 1961 war das Thema der blutigen sowjetischen Revolution in der geteilten deutschen Stadt ein Menetekel. Im Osten wurde die Revolution verherrlicht, im Westen formierten sich die Studenten zu ihrer eigenen Revolte. Das Berliner Stück von MacMillan zeigt aber nicht Rudi Dutschke oder Benno Ohnesorg, sondern Anna Anderson als Irre mit kurzgeschorenen Haaren in einer Berliner Klinik in den 20er Jahren, umringt von Krankenschwestern und Besuchspublikum, von denen die schöne Kranke nicht wenige von ihrer angeblichen Lebensgeschichte überzeugt. Die Erschießung der Zarenfamilie ist zwar nur ihr Schein-Trauma, aber aus dem Labyrinth aus Erinnerungen und Deckerinnerungen, Fantasien, Alpträumen und Wünschen findet Anna nie mehr heraus. Es ist eines der modernsten Ballette, die MacMillan schuf. Vier Jahre (also 1971) später fügte Kenneth MacMillan beim Royal Ballet in London zwei weitere Akte hinzu, stellte sie vornan an und machte so aus dem collagierten Kurzballett einen tragischen Abendfüller. Der Glanz der beiden ersten Akte steht seither der tragischen seelischen Zerstörung der Titelfigur im dritten Akt gegenüber.
„Anastasia“ zeigt so die echte Zarentochter in zwei Akten als Heranwachsende – in ihrer Kindheit und Teenagerzeit – und erst im dritten Akt die gestrandete Anna.
Der detaillierte Historismus von MacMillan besticht dabei von der ersten Szene an. Sogar Rasputin ist mit an Bord, wenn das Picnic der kindlichen Anastasia zu Beginn des ersten Akts an Deck eines Vergnügungsdampfers stattfindet.
Natalia Osipova tanzt hier auf Rollschuhen zum weißen Spitzenkleid herein; Lynn Seymour, die die Partie kreierte, hatte sich das damals ausgedacht, um die sportive und moderne Ausgelassenheit der Zarentochter zu demonstrieren. Osipova überzeugt in diesem Aufzug wie selten mit einer Rollendarstellung. Endlich nimmt sie ihr übergroßes Bühnen-Ego mal zurück und füllt die spritzig-naive Rolle mit Verve!
Die hochbrillante Choreografie von MacMillan erleichtert ihr das. Lieblichkeit und Neugierde, Stolz und Freundlichkeit sind hierin verbunden, und von Beginn an spekuliert der dramaturgisch gut beratene Meisterchoreograf zurecht darauf, dass dem Publikum das Herz aufgeht. Schon weil man weiß, dass dieses süße Mädchen einen frühen Sturz erleben wird.
Im zweiten Akt tanzt Osipova allerdings weniger einen hoheitlichen Teenager als vielmehr eine majestätische Megäre, die dem Selbstbewusstsein und dem Stil nach eher im Matronenalter ist als noch zur Jugend zu gehören. Es ist, als tanze sie ein eigenes Stück, und in diesem geht es nur darum, wie kraftvoll Osipova ihre Beine benutzt. Das Drumherum befriedigt mehr:
Da ist die höfisch-zaristische Feier, bei der zwei Mariinsky-Stars auftreten (Marianela Nunez ist hier zwar exquisit-elegant-elegisch, aber dennoch nicht in ihrer besten Partie zu sehen – vermutlich lag das an der Einstudierung, bei der man ihr nicht genügend erklärte, warum sie hier ein kostbares schwarzes Prunkkostüm trägt – so kann man den Anklang an die Black-Swan-Auftritte nur erahnen). Dass es sich dabei um Mathilde Kschessinska mit Partner (Federico Bonelli) handeln soll, ist leider kaum zu erkennen – dabei liebte MacMillan solche delikaten Petitessen, denn Kschessinska war die Geliebte von Nikolaus, bevor er zum Zaren Nikolaus II. wurde.
Hier ist der Zar mehr oder weniger eine Schreitrolle, und auch der dubiose Guru Rasputin – als Heiler und religiöser Prophet sehr repräsentativ dargestellt von Thiago Soares – ist eher ein Körpermime als ein Tänzer.
Und dennoch schlägt das Szenario von Prunk und Protz der beiden ersten Akte in den Bann!
Zum Zeichen, dass bald was schiefgehen wird, hängen die drei Kronleuchter im zweiten Akt von Beginn an schief über dem Geschehen. Das ist ein derartig deutlicher Wink mit dem Zaunpfahl – oder besser: mit dem Lüster – dass man förmlich darauf wartet, dass sie herabstürzen oder Ähnliches geschieht.
Tatsächlich stürmen Revoluzzer die Bühne, wir schreiben ja 1917, und der Ausbruch der Revolution mit roter Fahne ist von MacMillan so einprägsam wie cineastisch in Szene gesetzt.
Das aufregende Bühnenbild und die kleidsamen Kostüme stammen von Bob Crowley, einem vielfach preisgekrönten irisch-stämmigen Darling der britischen Hochkultur. Die Musiken kommen in den ersten beiden Akten von Peter I. Tschaikowsky (von wem sonst!) – und so manche Melodie erkennen Ballett-Fans, weil auch George Balanchine und John Neumeier sie nutzten (vor MacMillan und nach MacMillan).
Das Licht von John B. Read ist nicht zu dunkel, könnte allerdings mehr Farbigkeit ins Gefüge hineinbringen.
Furiose Pas de deux mit exzellenten Hebungen, mitreißende Pas de trois (vor allem von Jungs) sowie weitere faszinierende Kleingruppen motzen das elegante, teils mit Folklore-Elementen gepeppte Corps gründlich auf.
Wer hier nicht dahinschmilzt, der sollte vielleicht besser ein Buch lesen; Stimmungssache ist „Anastasia“ jedenfalls nicht, vielmehr ein MUST für jeden echten Ballettomanen.
Die rundum solide Aufzeichnung erschien übrigens 2017 als DVD bei Opus Arte.
Natalia Osipova stellt denn auch im letzten Teil als langsam zugrunde gehende Anna Anderson eine desolate psychische Situation durchaus dramatisch fesselnd dar. Wo man sie in anderen Rollen fast als reine Technikerin erlebt, kann sie hier ergreifend und berührend sein. Zu hundert Prozent gehe ich zwar auch hier nicht mit ihr mit, aber sie trägt längst nicht so falsch dick auf wie in anderen Partien.
Der dritte Akt des Stücks leidet zudem zwar unter der nicht ganz schlüssig zusammen gestöpselten modernen Musik- und Geräusch-Collage, aber in Anbetracht der Tatsache, dass er bereits 1967 entstand, ist er als Zeugnis einer besonders schweren Zeit fürs Ballett in Berlin zu sehen. Es wäre damals undenkbar gewesen, auch noch die beiden zaristischen Akte vor Ort auf die Bühne zu bringen: Womöglich hätte das damals, mitten im Kalten Krieg, einen weiteren Weltkrieg oder zumindest enorme diplomatische Spannungen ausgelöst.
Denn als echte Helden stehen die Revolutionäre und das Schießkommando, das die Zarenfamilie auslöscht, nun nicht da. Wiewohl ihnen die brisante Schönheit des Schlussbildes vom zweiten Akt unwiderruflich historische Weihe verleiht. Wie in einem lebendigen Gemälde schwingt da ein Kämpfer die große rote Fahne mitten im Getümmel.
Ob Kenneth MacMillan mit „Anastasia“ eine klare gesellschaftspolitische Tendenz verfolgte, ist schwer abzuschätzen. Sicher ist aber Eines: Seine tänzerische Schöpfung zeigt, dass Menschen, wenn sie es zu bunt treiben mit der Elitenbildung und der Unterdrückung der Anderen, das ganz enorme Folgen haben kann.
Gisela Sonnenburg