Wer sein Ticket schon hat, wähnt sich glücklich! Freudentänze allerorten? – Ganz so ist es leider nicht. Aber: An drei großen Häusern in Deutschland sind Eröffnungen Fakt, wird Ballett zumindest für einzelne Vorstellungen wieder vor dem Publikum live stattfinden – wie lange, steht in den Sternen. Wir sind zwar gegen Enttäuschungen gefeit, haben wir das Auf-und-Zu bei Opernhäusern in dieser Saison doch bereits mehrfach mitgemacht. Doch jetzt freuen wir uns erstmal auf die weiteren Öffnungen, die allerdings auch Anlass bieten, mit ein wenig Abstand – im mentalen Sinn – auf die zurückliegende Zeit zurückzuschauen. In Hamburg zählen die Fans derweil die Tage: Am kommenden Samstag wird dort John Neumeiers „Beethoven-Projekt II“ uraufgeführt. Am 5. Juni 21 folgt das Staatsballett Berlin mit einer neuen Ausgabe der Gala-Reihe „From Berlin with Love“ in der Deutschen Oper Berlin, und am 12. und 13. Juni 21 zeigt das Semperoper Ballett in Dresden zwei Voraufführungen des für die kommende Spielzeit geplanten Programms „A Collection of short Stories“ – eine Aufzeichnung dessen wird ab Ende Juni auch als Stream online zu sehen sein.
So viel Buntes – da lachen die Herzen der Ballettfreund:innen!
Zunächst ein Blick in die Hauptstadt: „From Berlin with Love“ („Mit Liebe aus Berlin”) wird Neuigkeiten auch in der Besetzung enthalten: Aya Okumura wird mit Daniil Simkin den „Grand Pas Classique“ von Victor Gsovsky interpretieren. Und Yuria Isaka und Murilo de Oliviera führen mit dem „Blumenfest von Genzano“ den historisch exquisiten dänischen Tanzstil von Auguste Bournonville vor. Wow!
Ein Damenduo vom Feinsten dürfte zudem die hochkarätige Moderne aufleben lassen: Elisa Carrillo Cabrera und Yoland Correa tanzen gemeinsam das „Duetto Inoffensivo“ von Mauro Bigonzetti. Zwei starke Frauen unter sich, und das vor Publikum – die Luft wird brennen!
Stars wie Evelina Godunova werden zudem Auszüge aus „Ein Sommernachtstraum“ von Heinz Spoerli sowie gleich zwei neue ästhetische Piecen von Nachwuchs-Choreograf Arshak Ghalumyan zeigen. Das „Half Life“ von Sharon Eyal wird dagegen vielleicht einen Stilbruch bewirken – aber der kann in Berlin auch wirklich gewollt sein.
Drei Aufführungen sind im Berliner Juni geplant – wie es dann weitergeht, hängt von den Inzidenzwerten ab. Freuen wir uns, dass die Kulturwelt so flexibel ist, uns nicht sitzen zu lassen!
John Neumeier, Chef und Chefchoreograf vom Hamburg Ballett, ist derweil vor allem glücklich, endlich sein zweites mächtiges Beethoven-Werk zur Uraufführung zu bringen Es war ja eigentlich schon für 2020 gedacht. Aber es ist mehr als ein Nachholen des Premierentermins geworden, denn der Hintergrund vom anhaltenden Leiden unter Corona und den Auswirkungen der Pandemie lässt das Werk in noch weiteren Nuancen schillern.
Neumeier, bekannt für kongeniale Tanzkonstruktionen, wird uns auch dieses Mal sehen lassen, wie Zeitgeist und überzeitliche Kunst verschmelzen können.
Ausschlaggebend für die Themenwahl waren für John Neumeier zunächst das Jubiläum des 250. Geburtstages von Beethoven (2020) sowie dann eben auch die Musik des zeitlosen Klassikers. Erhebend und erhaben wird es wohl werden!
Nach Neumeiers „Beethoven-Projekt“ von 2018 – das auch als DVD und BluRay erschienen ist – wollte der Tanzschöpfer unbedingt die Auseinandersetzung mit Leben und Werk des mit zunehmendem Alter taub gewordenen Komponisten erneuern und vertiefen. Schließlich fand er in den Musikarchiven auch noch Klänge, die nur wenig bekannt und eine Entdeckung mit tänzerischen Mitteln wert sind.
Neumeier dazu: „Ich hole sie vom Sockel herunter – die Musik wird intim.“ Und: „Es ist überaus faszinierend, Beethovens Musik zu meiner eigenen werden zu lassen.“ Hinzu kommt: Einer seiner und auch unserer liebsten Sänger, der Tenor und Bariton Klaus Florian Vogt, wird dazu singen, und zwar in Beethovens Stück „Christus am Ölberge“.
Tanz und Religion bilden ohnehin eine Allianz, die auch in diesen Tagen nicht außer Acht gelassen werden sollte. Ein Rückblick:
Als der erste Lockdown begann – im März 2020 – sahen ihn die meisten in der Tanzbranche noch nicht als Gefahr für ihren Werdegang. Yonah Acosta vom Bayerischen Staatsballett in München, wo er als Erster Solist engagiert ist, stellt im Rückblick sogar fest: „Ich denke, ich hatte zu Beginn der Pandemie überhaupt noch nicht verstanden, was da auf uns zukommt. Ich dachte, wir würden für ein paar Wochen oder Monate stoppen, nicht für eineinhalb Spielzeiten.“ Die Zwangspause schien zunächst eine angenehme Erholung. Auch die Münchner Primaballerina Kristina Lind war zunächst froh – und konnte endlich einen chronisch verletzten Zeh auskurieren.
Zuvor gab es allerdings, wir erinnern uns, einen höchst skurrilen Zwischenfall. Münchens Ballettdirektor Igor Zelensky wollte sich dem Virus nicht ergeben und ließ noch Ende März 2020, als das Land schon im Shutdown versank, in Ballettsälen trainieren. Zwar mit Abständen und Desinfektionsmitteln – aber das schwitzende Ballettensemble rief die Polizei auf den Plan. Ein historisches Ereignis: Polizeibeamte sind in staatlichen Ballettstudios sonst eher nicht zu finden.
Danach trainierte auch das Bayerische Staatsballett – wie alle anderen weltweit – daheim. Küchenzeilen, Stühle und Regalbretter wurden zum Stangenersatz, zur „Barre“, um daran die grundlegenden Übungen zu absolvieren. Die Theater lieferten so genannte Tanzteppiche an ihre Tänzer:innen: Das sind Spezialbeläge, die das Ausrutschen verhindern können und zudem für eine ebene Oberfläche sorgen. Fortan schmückten solche unifarbenen Tanzteppiche die Zimmer, auch mal Balkone oder Dachterrassen von Tänzerwohnungen.
Die Ballettmeister:innen kamen nun per Internet – per Zoom – zur Tänzerschaft, um die Trainings zu leiten. Über die sozialen Medien wurde das Ganze oft weltweit übertragen. Die internationale Tanzwelt wurde noch internationaler. Ohne Anreise kann man seither ein Training – man sagt auch eine „Class“, also eine Klasse – am anderen Ende der Welt nehmen, etwa bei dem bis nach Japan beliebten Trainer und Startänzer Rainer Krenstetter vom Miami City Ballet. Der gebürtige Wiener hat sich im Lockdown online Aufgaben gesucht und übers Internet eine neue Schülerschaft aufgebaut. Und auch Tanzlehrer:innen in Deutschland wie Laura Tiffany Schmid, die das Ballettstudio Dahlhaus im Nürnberger Land leitet, erhielten im Lockdown internationalen Zuwachs. Ein kleiner Trost dafür, dass die Präsenzunterrichte ausfielen.
Online ist die Disziplin der Schüler wie der Profis gefragt: Man muss sich anstrengen, obwohl niemand direkt neben einem steht und einen anfeuert. Hinzu kommt eine Menge Disziplin bei der Ernährung in sozialer Isolation. Einerseits entdeckten viele Tänzer:innen die Freuden des Kochens. Andererseits müssen sie auf ihre superschlanke Linie achten. Viel Freizeit verführt aber zum Essen und, nun ja, auch zum Naschen. Hinzu kommt die Melancholie durch die Isolationserfahrung. Zum Glück fürs Publikum sind die Profis aber auch Profis darin, überflüssige Pfunde wieder loszuwerden. Die Gefahr, dabei in eine Magersucht zu rutschen, ist ihnen bekannt. Bewegung und kontrollierte Nahrungsaufnahme sind darum das A und O.
Das Hamburg Ballett stellte hilfreiche Videos mit fachkundigen Trimm-dich-Übungen seines Physiotherapeuten Daan van den Akker ins Internet. Tänzer:innen sind heutzutage auch Akrobat:innen, sie brauchen schwierige Balance- und Fitness-Übungen, um ihren Standard zu halten. Heimische Fitness, Gymnastik wie Pilates (eine Gymnastikform) und vor allem das regelmäßige Balletttraining bilden darum auch im Lockdown das übliche Pensum. Das Tänzerpaar Anna Laudere und Edvin Revazov vom Hamburg Ballett räumte extra ein Zimmer leer, richtete sich darin ein kleines Kraftstudio ein.
Freie Tänzer:innen haben es weitaus schwieriger. Staatlich Angestellte bekommen ja weiter ihr Gehalt, trotz Kurzarbeit meistens in voller Höhe, weil die deutschen Opernhäuser zuzahlen. Freiberufler:innen müssen hingegen sehen, wie sie mit den Corona-Hilfen des Staats und mit improvisierten Einnahmen zurecht kommen. Besonders schlimm trifft es wegen der Krise entlassene Künstler:innen in Ländern ohne Sozialhilfe. So in den USA: Dort zogen viele junge Tänzer:innen wieder zu ihren Eltern, weil sie die Miete nicht mehr zahlen konnten. Aber auch dort machen sie weiter, soweit das möglich ist.
Der Online-Handel mit aufstellbaren Ballettstangen mag florieren. Spitzenschuhe waren aber zeitweise schwer zu bekommen, weil die Herstellung stagnierte. Den Spitzenschuhtanz können Tänzerinnen ganz gut daheim üben: zwar nicht bis zur Perfektion, aber wenigstens in den Grundlagen. Die Herren im Ballett trifft es ärger. Rainer Krenstetter konstatiert: „Für uns Männer ist so ein Lockdown besonders hart. Denn wir müssen unsere hohen Sprünge, die im Ballett eine wichtige Qualität bedeuten, im großen Saal üben. Wir brauchen einen schwingenden Boden dafür, um uns die Gelenke nicht kaputt zu machen, und wir benötigen viel Platz, um die Sprungkombinationen überhaupt auszuführen. So etwas geht im kleinen Kämmerlein einfach nicht.“
Nach langen Pausen ist das Verletzungsrisiko indes hoch, gerade bei Sprüngen. Vorsicht ist derzeit generell bei den Ballettprofis angesagt. In Kontaktgruppen aufgeteilt, arbeiten sie in den Ballettzentren unter Corona-Schutzmaßnahmen: Auf den Gängen, in den Garderoben herrscht Maskenpflicht, trainiert und geprobt wird mit Sicherheitsabständen. Ein- bis mehrfach wöchentlich werden alle durchgetestet, zudem führen sie Kontakttagebücher. Trotzdem kommt es vor, dass ein Ballettensemble in die Quarantäne geschickt wird, wegen positiver Ergebnisse bei Corona-Tests. Dann trainieren wieder alle daheim. Dieses Hin und Her ist für viele fast schon Gewohnheit.
Nun sind Tänzer:innen zwar meist robust, als Voraussetzung für ihre Berufsausübung. Und die meisten bemerken bei einer Covid-Infektion auch nur leichte Erscheinungen, etwa Schnupfen oder Einschränkungen beim Riechen und Schmecken. Aber es gibt auch Fälle von schweren Krankheitsverläufen mit hohem Fieber. Dann ist die Angst, Spätschäden zu erleiden, besonders groß. Rainer Krenstetter, der Asthmatiker ist, traute sich die ersten zwei Monate vom Lockdown sowieso kaum vor die Tür. Mittlerweile ist er erfolgreich geimpft. Andere haben hingegen starke Nebenwirkungen von den Impfungen. Und manche Tänzer:innen berichten als Genesene von Langzeitschäden, etwa einem verschlechterten Gedächtnis. Ein auch im Tänzerberuf großes Problem. Es erfordert nämlich immense Memorierungsleistungen, um sich all die Schritte und Bewegungen, die zur Musik getanzt werden müssen, überhaupt zu merken. Einen „Hänger“ zu haben, ist da ein Alp. Auf geschädigte Tänzer:innen kommen spezielle Therapien zu, unter Anleitung.
Die Selbstdisziplin, allein zu arbeiten und mit Neuem zurechtzukommen, lernen Tänzer:innen in ihrer Ausbildung eher nicht. Fällt der persönliche Kontakt weg, sind sie auf sich zurückgeworfen. Evelina Godunova, eine glanzvolle Solistin beim Staatsballett Berlin, hat gerade das als Chance begriffen. Sie erklärt das sehr schön: „Es ist die interessanteste Situation für jedes menschliche Wesen, so viel zuhause zu sein. Man hat ja sonst keine Angst vor anderen Menschen, dass sie einen anstecken könnten. Jetzt war alles anders. Uns überfiel eine große Traurigkeit in der Isolation. Das war ein Moment des Innehaltens, der unvorhergesehen war und uns verändert hat. Ich habe daraus gelernt: Wir können nicht vor uns selbst davonlaufen.“
„Lernen aus der Traurigkeit“ sagt Godunova, habe sie gerettet. Sie hat das „Abschalten des Zirkus“ als Möglichkeit gesehen, im Stillen ihren Körper neu zu entdecken. Eine Ballerina befragt ihre Füße, ihre Zehen, ihre Hüften, ihre Schultern, ihren Nacken, ihre Arme, sie erforscht ihren Körper – das Ziel ist stets eine noch stärkere Kontrolle der Muskeln, um sich noch besser damit ausdrücken zu können.
Dennoch wurde das zurückliegende Jahr auch für die kluge Evelina Godunova ein Horrorjahr. Sie kam aus Riga nach Westeuropa, um große Rollen zu tanzen – und sollte in dieser Spielzeit die Titelpartie des abendfüllenden, romantisch-klassischen Balletts „Giselle“ interpretieren. Monatelang, fast ein volles Jahr lang, bereitete Evelina sich darauf vor. Sah sich Videos berühmter Interpretationen an und ging die Choreografie von Patrice Bart immer wieder durch. Sie suchte und fand die Giselle in sich. Der versierte Starballerino Dinu Tamazlacaru partnerte sie. Es sollte etwas Großartiges werden.
„Giselle“ ist bekanntlich die Geschichte einer jungen Frau, die sich in einen sozial über ihr stehenden Mann verliebt, der sie schwer enttäuscht. Seine Reue kommt zu spät. Aber nach ihrem Tod erscheint sie als Geist und rettet ihm das Leben. Ein romantisch-feministischer Aspekt steckt auch im Stück, das einst Heinrich Heine angeregt hatte: Andere betrogene junge Damen verwandeln sich im Libretto in schaurig-schöne Rachegeister. 1841 erlebte dieses Ballett in Paris seine Uraufführung, seine Faszination hält weltweit bis heute.
Die Rolle der „Giselle“ zu tanzen, bedeutet für jede Primaballerina einen Höhepunkt ihrer Karriere. Just jetzt, im Mai 2021 hätte Evelina Godunova beim Staatsballett Berlin diesen Erfolg haben sollen. Die Schließung der Opernhäuser hat das verhindert. Besonders schade für Godunova: „Giselle“ steht in absehbarer Zeit nicht mehr auf dem Berliner Spielplan, auch wenn es ab Mitte Juni 2021 wieder Vorstellungen geben soll. Evelina hofft jetzt auf die Chance, einen Auszug aus „Giselle“ auf einer Gala oder in einem Video zu tanzen.
Das Staatsballett Berlin studiert derweil – außer den neuen Gala-Stücken – auch ein neues Stück des Choreografen David Dawson ein. Das nach ihm benannte Programm „Dawson“ soll im November 2021 premieren. Bisher lieferte Dawson etliche Hochkaräter ab, war aber noch nie abendfüllend in Berlin zu sehen – man darf also gespannt sein, zumal sich mit „Voices“ zur Musik von Max Richter eine Uraufführung ergibt. Ob der Abend in der Gunst der Fans mit „Giselle“ konkurrieren kann, wird sich zeigen.
Glück mit „Giselle“ hatte die Münchner Sensationsballerina Laurretta Summerscales. Sie konnte im September 2020 die begehrte Rolle vor Publikum im Münchner Nationaltheater tanzen. Mit wehendem Tutu – so nennt man den mehrlagigen Tüllrock, der zum klassischen Ballett ebenso gehört wie die Spitzenschuhe – sauste Laurretta über die Bühne, liebte und litt als brillant-graziöse Verliebte mit ihrem Bühnenpartner Dmitrii Vyskubenko. Die Version, die getanzt wurde, war vom Ballettmeister Thomas Mayr speziell für die Corona-Auflagen modifiziert worden. So standen weniger Ballerinen auf der Bühne, saßen weniger Musiker im Orchestergraben und insgesamt gab es Kürzungen.
Und es waren fantastische Aufführungen, die das mit Masken, Visieren und Abständen im Opernhaus sitzende Publikum weidlich genoss. Wie auch Startänzerin Laurretta Summerscales: „Ich hatte die Bühne und das Publikum so vermisst! Nichts fühlt sich so an wie das Tanzen auf der Bühne. Man ist in einer anderen Welt.“ Bis das Bayerische Staatsballett im Oktober 20 in die Quarantäne ging. Der November-Lockdown schloss sich nahtlos an und wurde bis Mai 21 verlängert. Die Bühne wurde eine Erinnerung.
Manche hofften, zu Weihnachten tanzen zu können. Aber bundesweit gab es kein einziges Weihnachtsballett vor Publikum. Es war schlicht verboten. Auch in Dresden, wo sonst rund 25 „Nussknacker“-Vorstellungen im Winter stattfinden. Und auch beim Hamburg Ballett, wo der Ballettintendant John Neumeier zunächst eine Neueröffnung für den 22. Dezember 20 plante. Man bangte um diesen Termin und hoffte doch – und musste sich schließlich geschlagen geben. Aber Frustration ist in Corona-Zeiten fast ein Alltagssport geworden.
Für zwei Tänzergruppen ist „das verlorene Jahr“ besonders tragisch: Für jene, die altersbedingt ans Aufhören denken und darum jede Vorstellung als besonders empfinden – und für jene, die neu im Beruf sind und dringend Erfahrung sammeln wollen. Der Körper diktiert beim Profi-Tanz die Regeln. Nur ein junger Körper kann das lernen, was er braucht, um ein exquisites Instrument zu werden. Der alternde Körper hingegen verliert an Sprung- und Spannkraft, an Schnelligkeit und Flexibilität, und es kostet viel Kraft, dagegen mit Training und Proben anzukämpfen.
Für den Choreografen David Dawson hat hingegen der Hochbetrieb wieder begonnen. Nicht nur in Berlin, auch in Dresden beim Semperoper Ballett ist der Brite tätig. In Dresden ist er sogar „Associate Choreographer“, eine Art Chefchoreograf, und studiert gerade mit zwei männlichen Tänzern seinen Pas de deux, also Paartanz, namens „Faun(e)“ ein. Im kommenden Programm „A Collection of Short Stories“ (übersetzt:„Eine Sammlung aus kurzen Geschichten“) wird das Ergebnsi zu sehen sein – und man ist schon enorm darauf gespannt. Besticht Dawsons Stil doch regelmäßig mit vorzüglicher Eleganz und raffinierten Schrittmustern.
Das Ballett in Dresden hat eine besonders harte Zeit hinter sich, denn das örtlich zuständige Gesundheitsamt verlangte zunächst Masken beim Training, also bei schwerer körperlicher Arbeit. Das war wirklich ein Problem, vor allem mit den FFP2-Masken. Man bekommt damit beim Tanzen kaum genügend Frischluft, atmet die eigene verbrauchte Luft ein. Außerdem tränkt der Schweiß den Zellstoff – Ballett ist anstrengender als die meisten Sportarten. Schließlich gab das Gesundheitsamt nach und erlaubte Trainings ohne Masken. Seither kämpft Dresdens Ballettdirektor Aaron S. Watkin um die Möglichkeit, sein Ensemble vor Publikum auftreten zu lassen. Und hat endlich Erfolg – sein Publikum kann die beiden Vorstellungen im Juni kaum erwarten, auch wenn die offizielle Premiere des Programms erst kommende Spielzeit sein wird.
Ganz anders ist es in München. Zwar ist der von Andrey Kaydanovskiy im Nationaltheater riskant inszenierte „Schneesturm“, der dort aktuell läuft, nicht wirklich gelungen. Aber beim Bayerischen Staatsballett gibt es seit kurzem wieder quasi-regulär bejubelte Vorstellungen. Und das ist einfach super!
Laurretta Summerscales gehört zu den Glücklichen, die im Programm „Paradigma“ große Auftritte hatte. Die erste Aufführung nach der letzten Zwangspause am 19. Mai 21 wird wohl niemand vergessen, der dabei war: Das maskierte Publikum, aus knapp 700 Zuschauer:innen bestehend, trappelte vor Begeisterung mit den Füßen. Der Freude des Wiedersehens steht nur eine leise Befürchtung entgegen. Denn schon mehrfach wurden in der Corona-Zeit Opernhäuser geöffnet, um dann doch wieder zu schließen. Laurretta sagt darum: „Was ich wirklich gelernt habe in dieser schwierigen Zeit, ist: jeden Tag jeden Schritt ganz bewusst zu machen.“
Das Heimtraining fiel der Engländerin zunächst schwer. Sie war froh, ihren Ehemann Yonah Acosta, der aus Kuba über London nach München kam, hilfreich zur Seite zu haben. Auch Yonah tanzt als Erster Solist beim Bayerischen Staatsballett. Er hat seine Gattin nun erstmals gecoacht. Andere Tänzerpaare setzten ihre Familienplanung um: Überdurchschnittlich viele Ballerinen wurden im Lockdown schwanger. Das klingt aufmunternd, aber manchmal steckt auch ein Stück Resignation dahinter. Jede Frau weiß, dass ein Kind Kraft kostet – und es ist immer ein Risiko, einen anspruchsvollen Beruf und die Mutterrolle zusammenzubringen.
Noch befinden sich die meisten Compagnien in Kurzarbeit. Da bleibt Zeit, sich für das Leben nach der Bühnenkarriere zu interessieren. Spätestens mit 42 Jahren hören Tänzer:innen auf – Ausnahmen sind selten – und für die meisten endet die Bühnenlaufbahn deutlich früher. Corona hat nochmals Druck gemacht. Manche begannen nebenberuflich ein Fernstudium, andere knüpfen über die sozialen Medien Kontakte für die Zukunft. Aber insgesamt sind Ballettleute ein zähes Völkchen, das sich die Lust am Tanzen gegen den Corona-Blues nicht nehmen lässt. Was Yonah Acosta sagt, würden die meisten unterschreiben: „Alles was wir tun können, ist zu hoffen und hart zu arbeiten.“
Gisela Sonnenburg