Der Wolf als Unschuldslamm News von Ralf Stabel: John Neumeier bot ihm einen Job an, ebenso der Berliner Senat

Das Landesjugendballett Berlin ist geboren

Ralf Stabel, 2020 skandalgeschaßter Leiter der Staatlichen Ballettschule Berlin, hat es mal wieder geschafft: Er ist für neue Jobs mehr als im Gespräch. Foto: Gisela Sonnenburg

Um es gleich zu sagen: den Job bei John Neumeier nahm Stabel an, über den beim Berliner Senat denkt er noch nach. Die bundesdeutsche Goldregel bewährt sich auch hier: Wer ausreichend der Macht hintenrein gekrochen ist, ist absolut unkaputtbar. Je öller, desto döller, sagt dazu der Volksmund – auch dieser Spruch bewahrheitet sich, wenn ein Titan des Balletts, also Neumeier, einen Skandalüberlebenden, nämlich Ralf Stabel, gnädig mit einer neuen Aufgabe bedenkt. Der Berliner Senat will da in nichts nachstehen und versucht, Stabel mit einem Posten als Kulturreferent zu ködern: Damit das Zanken vor Gericht, bei dem der Berliner Senat dank unfähiger Anwälte eine denkbar schlechte Figur macht, ein Ende findet.

Falls jemand nicht mehr oder noch nicht weiß, wer Stabel überhaupt ist: Ralf Stabel, 56, strauchelte 2020 als damaliger Leiter der Staatlichen Ballettschule in Berlin über zahlreiche Vorwürfe von Kindeswohlgefährdung und verlor darüber seinen Job. Er ist gebürtiger Ostdeutscher und wurde in der DDR, an der Theaterhochschule „Hans Otto“ in Leipzig ausgebildet. Ein viel beachtetes Buch über den Tanz und die Stasi, das Stabel schrieb („IM Tänzer“), heizte allerdings auch die Gerüchteküche bezüglich seiner eigenen Person an.

Seine Studienfächer waren Theaterwissenschaft und Choreografie. Künstlerische Werke sind von ihm nicht bekannt, aber als Professor für Tanzdramaturgie und Tanzgeschichte hat er sich durchaus einen Namen gemacht. Was nicht heißt, dass er der Einzige ist, der hier etwas zu bieten hat.

Abschieds-Gala für Mikhail Kaniskin

Eine vollendete Verbeugung von Polina Semionova bei der Abschiedsgala für Mikhail Kaniskin 2020 beim Staatsballett Berlin. Foto vom Applaus: Gisela Sonnenburg

Als Leiter der zuvor äußerst renommierten Ausbildungsstätte für Profi-Ballett in Berlin agierte Stabel stark auf die Public Relations fokussiert: Bei fast jeder bedeutenden Handlung, die Stabel als Schulleiter anging, spielte der Gedanke der Vermarktung der Schule in den Medien offenkundig keine geringe Rolle.

Und Stabel ließ sich Einiges einfallen: von zahlreichen Auftritten von Schüler:innen unter anderem beim Staatsballett Berlin bis zum Engagement der Berliner Starballerina Polina Semionova als Honorarprofessorin. Wobei Semionova dieser Tätigkeit eher unregelmäßig und insgesamt ziemlich selten nachkam. Aber dann gab es jedesmal Fotos mit Polina für die Presse und die Social Media!

Die von Stabel Protegierten, vor allem männliche Schüler, hielten aber auch in seinen schwersten Zeiten zu ihm, als nämlich aufgedeckt wurde, was Kinder, Jugendliche, Eltern und Ehemalige wirklich über die Berliner Ballettschule so dachten.

Auch im Ballett-Journal finden sich hierzu die Ergebnisse gründlicher Recherchen in groß angelegten Reportagen.

Ihre Arbeit hat vor Gericht kläglich versagt:  Klaus Brunswicker von der Kommission zur Klärung der Vorwürfe an die Staatliche Ballettschule Berlin und die Berliner Senatorin Sandra Scheeres vor der Presse am 4. Mai 2020. Foto: Gisela Sonnenburg

Vor dem Landesarbeitsgericht hat Ralf Stabel nun allerdings bislang Glück. Sein Verfahren läuft schon in der zweiten Instanz, das hat seinen Grund, und zwar einen Grund, der mit Stabel eigentlich nichts zu tun hat. Denn die Kanzlei, die den Senat, also Stabels ihm kündigenden Dienstherren vertritt, hat es – im Gegensatz zum Ballett-Journal und vielen anderen Medien – tatsächlich nicht geschafft, konkrete Vorwürfe von konkreten Zeug:innen beizubringen.

Ob hier Bequemlichkeit oder schlechte Entlohnung ursächlich sind, sei dahingestellt. Fakt ist: Wirklich gute Anwälte hätten Argumente gehabt, die die formalen Fehler von Stabels  Kündigung aufgrund ihrer Schwere aufgehoben hätten.

Das Landesjugendballett Berlin ist geboren

Sandra Scheeres (zweite von links), Ralf Stabel (zweiter von rechts), Gregor Seyffert (links) und Beate Stoffers (rechts) von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie in Berlin beim Gründungsakt des Landesjugendballetts in der Staatlichen Ballettschule Berlin, die heute, ganz ohne zu gendern, „Staatliche Ballett- und Artistenschule“ heißt. Foto: Gisela Sonnenburg

Aber wieso kündigte der Berliner Senat auch nach Art eines unreifen Schulkindes? Unüberlegt und arbeitsrechtlich formal inkorrekt geschah das, nicht mal die gängigen Fristen wurden eingehalten. Mal ganz ehrlich: Es sieht so aus, als wollte man Stabel auf diese Art und Weise noch mal eine Chance geben. Nämlich die, sich vor Gericht äußerst glanzvoll in Pose zu werfen bzw. anwaltlich in Pose stellen zu lassen.

Am liebsten hätte der Senat ihm wohl gar nicht gekündigt. Nur war der öffentliche Druck halt doch recht groß.

Die Lehrer:innen, die im Laufe der Recherchen letztes Jahr schwer belastet wurden, sind übrigens weiterhin im Dienst. Dafür wird sich der Name der Schule ändern – man denkt eben an alles, was Signalwirkung hat. Die Ausbildungsstätte wird voraussichtlich ab August 21 so heißen: Staatliche Ballett- und Artistikschule Berlin. Die Homepages der beiden Bereiche der Schule lauten derzeit noch ballettschule-berlin.de und artistenschule-berlin.de – man hätte hier vielleicht gendern können, um up to date zu sein, aber so richtig trendy ist Berlin offenbar nicht.

Im Rechtlichen kam man nun auch bisher nicht weiter. Auf Anregung des Gerichts unterbreitete der Senat darum seinem dubiosen Ex-Elite-Schulleiter einen Vorschlag: Er solle doch Kulturreferent in Berlin werden.

Damit wäre Stabel, der bislang weder angenommen noch abgelehnt hat, vielleicht so etwas wie ein bunter Hund der Szene. Und wenn sich ein Sponsor fände, könnte Stabel der Eric Gauthier von Berlin werden: Er könnte Open-Air-Dance-Festivals groß machen oder sein Steckenpferd, den deutschen Tanz in den 20-er bis 50-er Jahren, zum Anlass nehmen, ein Festival zu gründen oder gründen zu lassen.

Für diesen Fall wäre John Neumeier mal wieder ein Vorreiter.

Prof. John Neumeier bei der 225. Ballett-Werkstatt vom Hamburg Ballett: weltberühmt und anscheinend mit Herz für gestrauchelte Professorenkollegen ausgestattet. Foto: Kiran West

Neumeier ist ja nicht nur der Chef vom Hamburg Ballett, sondern auch vom überwiegend mit Berliner Bundesgeldern finanzierten Bundesjugendballett.

Und eben diese Nachwuchstruppe, die ausschließlich elitär ausgewählte junge Superprofis zu Tänzer:innen hat, soll ab dem 16. Juni 2021 im Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg ein Programm namens „Die Unsichtbaren“ zeigen.

Dessen wissenschaftliche Beratung und dramaturgische Mitarbeit hat, man höre und staune: Ralf Stabel intus. Schwupps! Eben noch totgesagt, plötzlich an exponierter Stelle beim großen John Neumeier im Team tätig. Eben noch als böser Wolf verschrien und jetzt als Unschuldslamm gehandelt! Wenn das keine Stehaufmännchenkarriere ist!

Aber ob das Projekt eine gute Idee ist?

Das Jugendballettprogramm soll rekonstruierte Tänze aus den 20er-Jahren etwa von Mary Wigman und Rudolf von Laban  enthalten und diese mit Texten und Gesang, thematisch zu tanzenden Opfern und Verfolgten des Nazi-Regimes, vermischen.

Ob diese Verquickung wohl schlau ist? Sagen wir mal: Sie entspricht ganz dem Niveau der meisten Tanzveranstaltungen, die die Bundesstaatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters (CDU), mit Geldsegen bedenkt.

Die 219. Ballett-Werkstatt von John Neumeier beim Hamburg Ballett war ein absolutes Erlebnis

Kevin Haigen tanzte einst selbst bei John Neumeier und ist heute künstlerischer Leiter vom Bundesjugendballett. Foto: Bundesjugendballett

Die letzten Vorstellungen, die ich vom BJB (Bundesjugendballett) sah, waren ohnehin so schlecht, dass ich mit Grausen flüchtete. Geld verdirbt den Charakter, sagt man – beim BJB hat das Geld die Kunst verdorben.

Um die Tänze von Mary Wigman zu tanzen, sollte frau übrigens Lebenserfahrung haben – es ist äußerst fraglich, ob blutjunge, megaehrgeizige, vor allem auf Körpertechnik und Belastbarkeit gedrillte Ballettmädchen dafür die Richtigen sind.

Im Ballett-Journal steht übrigens auch ein großer Text über die Wigman, by the way.

Aber das ist hier sicher egal: Hauptsache, es steht beim BJB was dran, womit der Bund seine finanzielle Förderung gut begründen kann.

Dieses Prinzip ähnelt sogar jener PR-Masche, die Stabel als Schulleiter mit dem Land Berlin durchzog, zum Verwechseln! Auf die eigentlichen Lehr- und Lerneffekte kommt es dabei nicht an. Nur darauf, dass es nach außen was hermacht.

Ralf Stabel jedenfalls bezauberte einst die für seine Schule zuständige Berliner Senatorin Sandra Scheeres (SPD) mit seinen PR-Worthüllen so sehr, dass sie ihm das Berliner Landesjugendballett bewilligte, welches dann aber nichts anderes als Schüler:innenauftritte anbot und schließlich 2020 auch Gegenstand des Skandals wurde.

Jetzt darf Stabel also die Hamburger becircen. Mangels eigener Bildung wird die künstlerische Leitung vom Bundesjugendballett, der ehemalige Startänzer, Ballettmeister und Tanzlehrer Kevin Haigen, auch sicher alles nachplappern, was Stabel ihm vorkaut.

Die Tänze dieser Frau sind nichts für Berufsanfängerinnen! Aber eine sehr empfehlenswerte DVD zu Mary Wigman erschien bei Arthaus Musik. 

Die Verantwortung trägt sowieso John Neumeier – und dieses Genie hat mit gewieftem Geschäftssinn dafür gesorgt, dass das Betroffenheitsthema der „Unsichtbaren“ gerade rechtzeitig zum zehnjährigen Bestehen des BJB sowie zum 70-jährigen Jubiläum des Ernst-Deutsch-Theaters herauskommt.

Wenn wir Glück haben, lernen die zuschauenden Kinder und Jugendlichen sogar, dass die Nazis nicht schon in den 20er-Jahren, sondern erst 1933 an die Macht kamen.

Ob man „alle die ermordeten, all die zur Emigration gezwungenen Tänzer und Künstler“ bedacht sieht, von den John Neumeier salbungsvoll in seiner entsprechenden Pressemitteilung vom heutigen Tag spricht, bleibt abzuwarten.
Gisela Sonnenburg

www.bundesjugendballett.de

 

 

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