Nach der Premiere dankte John Neumeier, Ballettintendant und Chefchoreograf vom Hamburg Ballett, seinem Ensemble. Diesen „Peer Gynt“, so der weltweit berühmteste Tanzschöpfer, habe er nur mit seiner ureigenen hanseatischen Truppe machen können. „Eine Energie, eine Dynamik“ gehe für ihn vom Hamburg Ballett aus, die ihn anrege und einmalig sei. Die Hauptdarsteller Carsten Jung in der Titelrolle und – als Gaststar – Alina Cojocaru aus London als Solveig bedankte der Meister extra – natürlich sind es großartige Leistungen, die hier an diesem Abend erbracht werden. Die Neukreation von „Peer Gynt“ löst die erste Fassung, die 1989 uraufgeführt wurde – ebenfalls in Hamburg – ab; wahrscheinlich wird man künftig vor allem die jüngere Version zu sehen kriegen.
Der Beginn ist ein Standbild, das anmutet wie aus einem Holzschnitt. Der norwegische Maler und Grafiker Edvard Munch fällt dem Kulturbeflissenen dazu ein.
Im kreisrunden Spotlight verkeilt sich ein familiäres Konstrukt: Es ist Peers Geburt.
Der Held kommt aber nicht allein auf die Welt; mit ihm kriechen die vier „Aspekte“, die seine Persönlichkeit bestimmen, aus dem rotweißen Kleid von Mutter Aase.
Anna Laudere steht als Gebärende mit magischen Gesten da – einerseits wie eine nordische Göttin der Weiblichkeit, aber auch wie eine zerbrechliche, einsame, junge Frau. Mutter Erde und ausgestoßene Alleinerziehende in einer Person, inspiriert von Gret Palucca, der legendären ostdeutschen Ausdruckstänzerin – so eine Tänzerin muss man erstmal haben, die das so zu vermitteln weiß!
Aleix Martínez als „Unschuld“, Alexandre Riabko als „Vision“, Karen Azatyan als „Aggression“ und Marc Jubete als „Zweifel“ bezeichnen dann die Beziehungsfelder, auf und zwischen denen sich Neumeiers Peer Gynt bewegt.
Vor allem Riabko bezwingt mit seiner brillanten Darstellungsweise, aber auch Martínez und die beiden anderen füllen ihre Figuren mit Verve. Allerdings wundert ein wenig die Besetzung des ausgesprochen lyrischen Tänzers Azatyan als „Aggression“ – er muss im Verlauf des Stücks mit einer Peitsche auf den Boden eindreschen und ähnliche Gewaltakte vollführen, was bei einem anmutigen Lyriker nun mal zwangsläufig etwas verfremdend wirkt. Möglicherweise ist das Absicht. Vorzustellen wäre aber auch ein Rollentausch von Alexandre Riabko und Karen Azatyan – Riabko hat eine sehr männlich-markante Seite, die er hier vorzüglich ausleben könnte.
In der ersten Version von Neumeiers „Peer Gynt“ waren es zudem noch sieben „Aspekte“, die Peer halfen, ihn aber auch quälten. Darunter waren so kryptische Gebilde wie „Anima“ (was ja eigentlich nur „Seele“ bedeutet), „Kindheit“ (was einen Lebensabschnitt bezeichnet) und „Fliegen“ (was ein Wunschzustand jeden Tänzers ist).
EINE NEUORDNUNG DER ZUSTÄNDE IST ANGESAGT
Durch die Neuordnung dieser Befindlichkeiten zu den vier genannten Zuständen organisierte John Neumeier auch die Person des Peer Gynt neu – einfacher, aber auch dünnhäutiger ist der Titelheld geworden, weniger stark und souverän in seinem Ich- und Mannsein, dafür clownesker, dünnhäutiger und in seiner Erotik auch unmittelbarer.
Es ist ja höchst selten, dass ein Choreograf ein Ballett nicht nur in einigen Details überarbeitet, sondern komplett neu durchgeht. Umso spannender ist es, auch die neue Version zu sehen.
Die vier „Aspekte“ tauchen keineswegs immer zusammen auf. Vielmehr spiegeln sie jeweils einen Anteil von Peers sozusagen multipler Persönlichkeit, die ansonsten von Neugier und Abenteuerlust gekennzeichnet ist. Carsten Jung tanzt den Peer mit bewunderswerter Hingabe und verkörpert mal darstellerisch feinfühlig, mal holzschnittartig grimassierend diesen ewigen Irrfahrer Peer, den der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen 1867 erfand, und der letztlich wohl in uns allen steckt.
Seine Kindheit verbringt Neumeiers Peer tobend und auf der Schaukel sinnierend – schon hier fühlt er sich, in aller Unschuld noch, wie der Kaiser von der ganzen Welt, der er später wirklich zu sein glaubt.
Die rostroten Latzhosen, die Peer und seine „Aspekte“ nun tragen, erinnern an „Liliom“, jenes spektatuläre Sozialdrama, das Neumeier 2011 mit den Protagonisten Jung und Cojocaru schuf. Darin trägt der Sohn der Hauptfiguren – kreiert von dem hoch begabten Jungtalent Aleix Martínez – ebenfalls eine Latzhose, sie scheint bei Neumeier ein Symbol für jugendlich-männliche Unschuld geworden zu sein.
Die erste Begegnung mit Solveig atmet denn auch schon die Poesie der Liebe, unverdorben und direkt.
Aber schon bald baut Peer Mist und entführt Ingrid, ein Mädchen, das er nicht liebt, von ihrer Hochzeit. Mit nur wenigen Stößen macht er sie rau und lieblos zu seiner Geliebten, wird sie auch später immer wieder treffen, zumal die hier so schöne wie glaubhafte Carolina Agüero nicht nur Ingrid, sondern auch die „Grüne“ und Anitra verkörpert, jene fantastischen Frauengestalten, die jeder Sprechtheateraufführung von „Peer Gynt“ die nötige sinnliche Würze geben.
In akrobatisch-modernen Pas de deux wirbelt Peer diese seine ungeliebte Femme fatale durch die Luft: Sie goutiert das, einerseits hilflos gegenüber seiner Lust am Experiment, andererseits bereitwillig gefallend.
Höhepunkte sind aber auch die exzellenten Pas de deux von Peer mit Solveig. Da wird es Zeit, etwas zu Alina Cojocaru zu sagen!
Diese wichtige Muse für Neumeier, was Frauenpartien angeht, zeigte schon als Julie in „Liliom“ ein auch komisches Talent, somit eine Gabe, der im Ballett oft gewünschten Mädchenhaftigkeit eine weitere Facette anzufügen.
Als Solveig tanzt Cojocaru rührend innig von ihrer Verliebtheit, sie erzählt in einem wunderbaren Solo traumtänzerisch von ihrer Sehnsucht und ihren Ideen, mit Peer zu leben und eine Familie zu gründen.
Alina vermag diese einfachen Dinge – im Grunde handelt es sich um den Inhalt eines typischen Jungmädchentraums – hoch emotional und dennoch sozusagen „pur“ zu tanzen, ohne dass sie auch nur eine Sekunde in Kitsch oder Banalität abzudriften droht. Dabei verleiht sie der Liebe Solveigs von Anfang an den Impetus der Ausschließlichkeit, somit auch der absoluten Treue. Es ist ein Genuss zu sehen, wie mächtig die Liebe einen Menschen erfassen kann!
Und ist Alinas Solveig zu Beginn noch ganz ungeduldig, ihren Peer endlich in den Armen zu halten, entwickelt sie im Lauf des Stücks eine schier unfassliche Geduld, immer wieder auf den Mann, den sie liebt, zu warten. Mimik und Körpersprache vereinen sich hier zu einem Gesamtkunstwerk, das jeder, der das moderne Ballett liebt, sehen sollte – sonst hat man unwiderruflich was verpasst!
Es ist, nebenbei gesagt, ja ganz schwer, diese Frauengestalt Solveig anders denn als patriarchalen Unterdrückerwunsch zu interpretieren. Aber Neumeier und Cojocaru gelingt das: Hier ist die einfache Liebe zu einem Mann ein Lebenselement, dessen soghafter Ausstrahlung sich der Zuschauer nicht entziehen kann.
Nur Peer Gynt merkt natürlich gar nicht, was für ein Juwel an Aufrichtigkeit er da vom Schicksal geschenkt bekam. Er zieht weiter durch die Gegend, als liege das Bessere immer noch vor ihm. Carsten Jung illustriert die Tumbheit und Zerstreuungslust von Peer mit einer Passion, die ihresgleichen sucht – und die aus der Sicht von Alinas Solveig zugleich wirklich weinen macht.
Peers „Aventuire“, in Anspielung auf die mittelalterlich-heldische Abenteuerfahrt, wurde bereits von Ibsen in seinem Theaterstück ad absurdum geführt. Bei Neumeier aber wird sie zugleich immer wieder zu einer Reise ins Innere, zu einer Suche nicht nur nach sich selbst, sondern auch nach den Auswirkungen der Welt in uns. Dadurch bekommt „Peer Gynt“ hier etwas Aufklärerisches – Gesellschaftskritik durch die Hintertür ist angesagt.
So sind die Trolle, die Ibsen sich noch als skurril beschwänzte Märchenfiguren vorstellte, die also hässlich, eklig und nur satirisch zu genießen waren, bei Neumeier ganz normale Menschen.
Die Banalität des Alltags als skurrile Bosheit – ein origineller, aber kein ganz fern liegender Gedanke, wenn man sich die bunte Werbewelt unserer Tage mit ihren verlogenen Abziehbildern von vermeintlich „tollen“ oder „schönen“ Allerweltsfiguren anschaut.
Die Damen und Herren vom Hamburg tanzen den Terror der Normalität mit Charme und Akkuratesse – und die geschmackvollen, mitunter fast orgiastischen Kostüme von Jürgen Rose machen den Auftritt jeder Tänzerin und jeden Tänzers zu einem Augenschmaus.
Überhaupt hat Rose, der ganz Große unter den Ballettbühnenausstattern, in „Peer Gynt“ gezeigt, wie man Farben und Formen sinnstiftend optimal einsetzt. Carolina Agüero macht er in einer giftgrünen Seidenrobe mit massenhaft Geglitzer auf dem Kopf zu einer unnachahmlich mondänen Partyqueen. Carsten Jung darf in Anzüge schlüpfen, die mal vornehm-weiß sind, mal silbrig-futuristisch.
Stets stimmt auch das Farbverhältnis der Kostüme zum Bühnenbild. So besteht die Kulisse überwiegend aus abstrahierenden Farbflächen auf Theaterprospekten: Landschaften mit Hügeln und Wiesen entstehen im Auge des Betrachters wie von selbst.
Und prangt bei der Geburt von Peer noch scheinbar ein riesenhaftes tiefrotes Stück Seidenpapier im Hintergrund, als Symbol für die Schmerzen und die Mühen der Geburt, darf Peer sich später ein Haus mit Giebeldach zulegen. Er lebt aber nicht in, sondern vor diesem Haus: auf einem Metallgestell, auf dessen Plattform eine Handwerkerleiter steht, an der – o selige Kindheitserinnerung – eine Schaukel baumelt.
Peer, das ewige Kind – auch das gehört zu dieser facettenreichen Figur, die ihren Kummer stets mit geschickter Hand anderen aufzubürden weiß.
Carsten Jung füllt seine Arabesken und Pirouetten mit dem Charme des Lebenslüstlings. Und wenn er grimassenhaft Staunen und Wollust zeigt, dann dient das der Haltung, die Peer Gynt an den Tag legt: Er ist keiner, der seine Gefühle zu verstecken versucht.
Aber kann er sie beherrschen?
Peer ist ein Mensch, der sich treiben lässt, und Jung zeigt das mit nahezu exzessiver Begeisterung am jeweils Neuen.
Choreografisch zitiert Neumeier hier so häufig Mats Ek – den großen schwedischen zeitgenössischen Choreografen und Sohn von Birgit Cullberg, Gründerin des Cullberg Balletts – dass man sagen kann: Neumeier nimmt prägnante Elemente der Ek’schen Choreografien als Ausgangspunkt. Sie ersetzen ihm sozusagen den Text des norwegischen Dichters Ibsen und bilden auf der tänzerischen Ebene die skandinavische Grundlage.
Abgespreizte Fußsohlen, Flex-Haltungen in allen Lebenslagen, breit aufgefächerte zweite Positionen der Beine, gebuckelte Rücken, lustig stampfende Gangweisen – dieses Repertoire zitiert Mats Ek, ohne ihn zu kopieren. Und wenn, vor allem in den zauberhaften Pas de deux von Peer mit Solveig, daraus Hebungen und somit ganz intime Beziehungsmomente gezeigt werden, hat man fast den Eindruck, Neumeier habe Ek neu für sich erfunden.
Auch das Mädchen-Corps darf diese fröhliche nordische Unbenommenheit verkörpern. Piqué-Schritte vorwärts auf die Spitzenzehen des einen Fußes, während der andere in Flex-Haltung gespreizt wird, verleihen den Girls den Charme der nordischen Folklore.
Aber dann schälen sich zunehmend die Neumeier-Posen aus dem häufig parallel mehrere Universen zeigenden Bühnengeschehen.
Immer stärker werden die sehnsüchtig gebogenen, nach Harmonie strebenden Körper, die typisch für Neumeiers Ästhetik sind.
Das Streben der Menschen hört im Grunde eben nie auf, und werden sie noch so zugeschüttet mit bunten Werbebildern oder medialen Non-Ereignissen!
Neumeier führt exemplarisch das Showbiz und die Hollywood-Filmfabrik vor. Was für ein Genietrick, das Libretto von Ibsen dem Tanz anzupassen!
Dagegen nehmen sich „Peer Gynt“-Ballette wie etwa von Heinz Spoerli, die auf die Wirkung der populären Musik von Edvard Grieg setzen, nachgerade altbacken aus. Trolle? Berggeister? Von wegen! Peer Gynt, das kann auch ein Ritter der modernen Glitzerwelt sein, einer, der nicht erst in der Wüste, sondern schon im Kino gleich ums Eck auf die Erotikqueen Anitra trifft.
Lloyd Riggins darf hier den Ansager machen, mit einem Mikro in der Hand und stringenter Verkaufsseligkeit in der Stimme. Wie der Coach einer Broadway-Show leitet er das Casting, an dem Peer teilnimmt. Sportlich bitte, Boys and Girls! Der Kommerz flutet die Kunst, und Neumeier zeigt das, als sei es eine Ungeheuerlichkeit. Wunderbar.
Doch dann erhält die Show fast satirischen Drive: Das „Regenbogen Sextett“, eine augenzwinkernd schwule Gang aus Fred-Astaire-und-Showshow-Dancern in glitzernden gestreiften Anzügen, verbreitet eine künstlich gepushte gute Laune, die typisch ist für den Musical- und Touristenzirkus, in dem so viele gut ausgebildete Tänzer ihr Brot verdienen müssen. Weil die Leute oft lieber Kommerztanz als Kunst sehen.
Einer wie Peer Gynt ist da natürlich obenauf! Da kichern die Mädchen um ihn noch, da wird er schon entdeckt – für den Film.
Es wird ernst. Peer reüssiert als Filmstar!
Die Kostüme zeigen es an: Neumeier erlaubt sich hier eine parodierende Hommage auf „Spartacus“, den Vorläufer von „Gladiator“, der mit Michael Douglas in der Titelrolle frei nach dem Ballett von Juri Grigorovich gedreht wurde. Es war das erste und bisher einzige Mal, dass ein Ballett einen Hollywood-Blockbuster nach sich zog.
Aber bis in viele Details hinein und auch musikalisch ist die Ähnlichkeit deutlich zu erkennen: Grigorovichs Weltballett „Spartacus“ bewirkte in Zeiten des Kalten Krieges ein Kulturverständnis, das bis nach Hollywood reichte.
Die Geschichte von „Spartacus“, vom Anführer eines Sklaven- und Gladiatorenaufstands, ist aber auch ein Burner. Der zuerst siegreiche Held, dessen Legionen aus ehemaligen Sklaven nur durch Tücke blutig niedergeschlagen werden können, steht für die Tragik des Gutmenschen schlechthin: Weil der Held, ein gutherziger Rebell und verliebter Mann, die Bosheit seines Gegners unterschätzte und ihn leben ließ – statt ihn zu töten – wird er später selbst dessen Opfer. Dass dieses durchaus stalinistische Credo gerade Hollywood faszinierte und zum Kassenmagneten verhalf, ist bemerkenswert, aber nicht wirklich verwunderlich.
Neumeier nimmt beides auf die Pike und zeigt zudem, durch übergroße Farbfilter an der Filmkamera, dass ohne Beschönigung und Einfärbung ohnehin nichts mehr läuft in unserer propagandaverseuchten Medienrealität.
Kein Wunder, dass sein Peer all diesem nicht gewachsen ist. Während er sich bei Ibsen um Kopf und Kragen redet, landet er bei Neumeier noch im Gladiatorenkostüm in der Klapsmühle – als vermeintlicher „Kaiser der Welt“. Da hilft nur noch die „Vision“ in Person von Alexandre Riabko, um Peer wieder zu sich und zur Welt finden zu lassen.
Es wird Zeit, nach Hause zu kommen. Peer, der Solveig immer mal wieder in Gedanken traf und mir ihr die lieblichsten Pas de deux absolvierte, wie in einem Think tank oder in einer Kraftquelle, nimmt erst als alter Mann sein Liebesschicksal an.
Er trifft auf Solveig, und sie zieht ihm langsam, ganz sachte, seine Kleidung aus, bis aufs Suspensorium, einen fleischfarbenen Tanga. Sie faltet die Textilien und zitiert damit Neumeiers „Matthäus-Passion“ und sein „Weihnachtsoratorium“. Jetzt endlich ist Peer soweit, Solveigs fürsorgende Liebe zu erwidern: Auch er entkleidet sie, langsam, behutsam, und ihre Kleidung trägt er wie ein sakrales Gut zu seinen eigenen gefalteten, gleichermaßen abgelegten Lebenskleidern.
In Zeitlupe und ohne Hast holen die beiden das nach, was Peers Abenteuerwut ihnen zuvor verpatzt hatte: Sie lernen sich kennen, immer besser, sie lieben sich umso stärker, und was vorher nur aquarellierte Sehnsucht war, wird jetzt ein Gemälde aus Zuneigung.
In allen Farben schillern hier die Gefühle, nicht die Kostüme. Solveig und Peer üben alle Umarmungsarten, die man als alt werdender Mensch noch zu leisten vermag.
Wenn man, wie wir heute, verstärkt auch über das Alter und über das Alter der Menschen in der Kunst reden, ist dieser Liebestanz unverzichtbarer Bestandteil der allgemeinen Bildung! Neumeier traute sich etwas, das sonst eher tabuisiert ist. Und kein Gag, kein Kokettieren, keine Scherzhaftigkeit hilft hier, den Schmerz des Alters zu nehmen. Dennoch entsteht eine Vielseitigkeit in der Choreografie, die ihresgleichen sucht!
Im übrigen wurden der Choreologin Sonja Tinnes, Neumeiers sprichwörtlichem wandelnden Gedächtnis, die beiden Koffer mit all den Aufzeichnungen zur neuen Gynt-Version aus dem Auto gestohlen. Für weitere Arbeit am Werk und neue Einstudierungen existieren einstweilen nur noch die Videos – die Diebe waren so dumm wie brutal, dachten sie doch offenbar an Bargeld beim Klau der ungeöffneten Koffer.
Die Tänzer vom Hamburg Ballett haben ihre Schritte und Posen zum Gück im Kopf. Und so verschmilzt das späte Zueinanderfinden von Peer und Solveig unmerklich zu einem zeitlosen Zustand des Liebens.
Ob und wann die beiden sterben und ins Jenseits gleiten, ist nicht klar entschieden. Aber am Ende steht fest: Hier wird in alle Ewigkeit geliebt, bis in jenen zeitlichen Horizont, an dem es kein Anfang und kein Ende mehr gibt.
Und es sind nicht Peer und Solveig allein, die hier die Unendlichkeit der Liebe praktizieren. Auch das Ensemble als Verkörperung der Jugend macht mit: In hellblauen Trikots wiederholen sie die Bewegungen von Peer und Solveig, auch bei ihnen ist Zeitlupe Trumpf und bewirkt eine meditative, eigenwillige Ästhetik.
Es ist natürlich unerhört tröstlich, dass auch die jungen Leute sich hier mit dem Thema des Alterns befassen und, anders als Peer und Solveig ihrerzeit, aufs Altwerden mit Liebe vorbereiten. Diesen Hoffnungsvorschlag für die Gegenwart und Zukunft macht John Neumeier – und man müsste herzlos sein, ihm das abzuschlagen.
Liebe als Grundrecht. Ein schöneres Credo kann ein Ballett eigentlich nicht haben.
Dass Held Peer zuvor durch alle nur möglichen Universen stöbern musste, ist nicht nur beinahe tragisch. Das ist es, weil dadurch seine Lebenszeit mit scheins unsinnigen Streifzügen verging. Aber es ist auch realistisch, zumal, wenn man Peer Gynt (was schon zu Ibsens Zeiten getan wurde) als Sinnbild eines Jedermanns sieht: Viele Fehler müssen gemacht werden, bis man aus ihnen lernt. Dann aber ist es Aufgabe der Alten, ihr Wissen an die Jungen zu geben. Und es ist Aufgabe der Jungen, nicht alle Fehler der Alten zu wiederholen, sondern weiter zu gehen.
Fortschritt in Liebesdingen – dafür ist es jedenfalls nie zu spät! Eine wunderbare Erkenntnis eines Ballettabends.
Knapp drei Stunden dauert die Neumeier’sche Irrfahrt des Peer Gynt bis zu dieser Einsicht, sie führt kreuz und quer durch die Gefilde des Lebens und auch des Todes.
Ohne entsprechende Musik wäre das choreografisch wohl kaum zu bewältigen. Da hat das Publikum Glück: Die extra für Neumeier komponierte Musik des russisch-jüdischen Komponisten Alfred Schnittke (1934 – 1998) treibt die chronologisch sortierte Collage mit empathisch-alarmierenden Geräuschmelodien und rhythmischen Klangteppichen voran.
Mal erinnert das Sinfonie-ähnliche akustische Gebälk in seiner lyrisch-atonalen Bewegtheit an Arnold Schönberg, mal – in seinen vielen Kontrapunkten und Aufwallungen der Streicher – an Gustav Mahler.
Markus Lehtinen, versierter Ballettdirigent, führt die Philharmoniker Hamburg sicher durch die melodischen Höhen und Tiefen der Partitur; gelegentlich erschließen sich wahre Abgründe aus rauschhaften Akkordkombinationen, oft allerdings fühlt man sich auch in einer avantgardistisch nachgebildeten Sci-Fi-Welt.
Vor allem die Ersten Violinen sowie der Organist Ondrej Rudcenko, der beim Hamburg Ballett auch als Pianist arbeitet, liefern den Tänzern exakt und hilfreich die musikalischen Stichwörter, bebildern ihre Emotionen oder liefern genügend Reibeflächen, um gestisch etwas dagegen zu setzen.
Neumeier benutzte schon vorher Musik von Schnittke, so für die cineastisch-dramatisch „Endstation Sehnsucht“ nach dem Stück von Tennessee Williams, die jüngst in Stuttgart wieder aufgenommen wurde und auch in der kommenden Saison beim Stuttgarter Ballett wieder zu sehen sein wird.
Aber sein „Peer Gynt“ hat den Vorzug der Auftragskomposition: zu schade, dass Schnittke diese zweite Version des Balletts nicht mehr erlebt.
Als ich John Neumeier nach dem wunderbaren, ausführlichen Schluss-Pas-de-deux, dem Epilog, befrage, gibt er mir Recht: Dieser Schluss ist das Wichtigste am Ballett. Darin, so Neumeier, war er sich auch mit Schnittke immer einig: „Er hat mich autorisiert, überall in ‚Peer Gynt’ Musik zu kürzen, aber nicht im Epilog. Das habe ich beherzigt.“
Man kann nur raten, keine falsche Scheu vor moderner Musik zu hegen. Dieser Ballettabend ist Erbauung mit Beglückungskomponente und gehört auf den Wunschzettel jedes Tanzfans – und auch solcher, die es werden wollen.
Gisela Sonnenburg
Wieder heute abend in der Hamburgischen Staatsoper – und kommende Saison!
Eine kürzere englischsprachige Rezension finden Sie hier:
www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-peer-gynt-english/
www.hamburgballet.de