Lachen und Weinen, aber viel mehr Lachen Beim Hamburg Ballett tobt die Begeisterung für „Die Möwe“ von John Neumeier – und der Druck auf den Senat zeitigt positive Wirkung

"Die Möwe" von John Neumeier 2025

Ganz schön swinging: Solisten und Ensemble vom Hamburg Ballett in „Die Möwe“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Gute Nachrichten aus Hamburg! Die beiden Ballettstars und Volpi-Opfer (die keine sein wollen, weil sie starke Jungs sind) Christopher Evans und Alexandr Trusch, die letzte Spielzeit aus hohem Leidensdruck wegen dem damaligen Intendanten Demis Volpi beim Hamburg Ballett gekündigt hatten, sind ab sofort wieder offiziell beim Hamburg Ballett gelistet: als Gastsolisten. Herzlichen Glückwunsch – vor allem dem Publikum! Und: Die Ausklammerung der beiden Künstler aus der vom Hamburger Kultursenator Carsten Brosda (SPD) angekündigten Aufarbeitung der Volpi-Misere scheint jetzt nicht mehr möglich. „Externe Personen sind nicht die Zielgruppe dieses Vorhabens“ – so hatte Brosda am 2. September 25 noch die entsprechende Frage in einer SKA (Schriftliche Kleine Anfrage) der engagierten Abgeordneten Marie Kleinert (Hamburger Linksfraktion) beantwortet. Sie hatte explizit nach jenen Tänzern gefragt, die wegen Volpi das Hamburg Ballett verlassen hatten. Damals war von Gastverträgen noch keine Rede – zumindest offiziell nicht. Der Druck auf Brosda scheint aber zu wirken. Trusch wird zunächst beim Auswärtsspiel der Truppe im Oktober in Baden-Baden den „Nijinsky“ tanzen. Mutmaßlich dann wohl auch in Hamburg den Armand in der „Kameliendame“. Und den Günther im „Nussknacker“. In „Die Möwe“ ist er allerdings nicht im Cast, und eben dieses Tanzdrama von John Neumeier, das er frei nach dem Theaterstück von Anton Tschechow schuf, brachte gestern Abend die Hamburgische Staatsoper zum Brodeln. Das voll besetzte Haus tobte zum Applaus und feierte den Tanznachwuchs nebst Ensemble sowie Neumeier selbst, als wäre es eine Uraufführung gewesen.

"Die Möwe" von John Neumeier 2025

So ergreifend: Louis Musin mit der „Möwe“ aus Papier im gleichnamigen Ballett von John Neumeier. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Die in der „Möwe“ getanzte Story ist einfach kompliziert, so wie es Liebesdinge eben häufig sind. Hier zeigen sie sich gleich potenziert in einem dichten Geflecht zwischen Menschen, die ohnehin miteinander zu tun haben. Zum Lachen gibt es hier viel, denn an Komik und fröhlichen Szenen wird nicht gespart. Aber es gibt auch tragisch anmutende Sentenzen, zumal die Liebe nie wirklich ihre angemessene Erfüllung findet.

Gut, dass die Sonne mit Bühnenlicht scheint und das Bühnenbild, mal mit edlen Linien, mal mit prägnanten Symbolen gestaltet, zu fasslich realen Kulissen erhebt. Auch die Kostüme passen zu den jeweiligen Stimmungen und Figuren, fügen einen weiteren realistischen Aspekt ein. Licht, Bühne und Kostüme stammen übrigens aus einer, nämlich der Choreografenhand; es handelt sich insofern um ein typisches Neumeiersches Gesamtkunstwerk.

An Musiken wählte John Neumeier vor allem Stücke von Dmitri Schostakowitsch, dessen 150. Todestag am 9. August der Anlass für diese Wiederaufnahme überhaupt war. Insgesamt zeigt der Abend denn auch die Grandezza der russisch-sowjetischen Kunst, zumal er der gleichnamigen Vorlage des Theaterstücks von Tschechow von 1895 folgt. Nathan Brock ist diese Saison der Dirigent des Abends; am Piano wechseln sich Petar Kostov und Ondrej Rudcenko ab.

Neumeier transponierte die Künstler-Herzensangelegenheiten, die bei Anton Tschechow noch vornehmlich Literaten betreffen, ins eigene tänzerische Milieu. 2002 wurde seine Schöpfung in Hamburg uraufgeführt, und die bisherigen Generationen des Hamburg Balletts vermochten es stets, das Stück ganz gegenwärtig wirken zu lassen.

Nina, eine junge aufstrebende Tänzerin, und Kostja, ein ebenso hoffnungsfroher Choreograf, warten in der Sommerfrische der Provinz auf ihre große Chance. Sie lieben sich, ergänzen sich gut. Und sie proben Kostjas Tanzdrama in avantgardistisch-eckigem Stil namens „Die Seele der Möwe“. Ein Papierflieger versinnbildlicht zudem ihre Utopie einer freien Kunst in einer freien Welt.

Ana Torrequebrada und Louis Musin tanzen dieses Paar, als sei es für sie geschaffen worden. Der jugendliche Überschwang, die Empathie füreinander, aber auch der Eigensinn in der Kreation und Interpretation finden vollendeten Ausdruck.

"Die Möwe" von John Neumeier 2025

Trigorin (hervorragend: Matias Oberlin) und Nina (auch toll: Ana Torrequebrada) bilden eine Zeitlang ein Pärchen. Foto aus „Die Möwe“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett: Kiran West

Kostjas elegante Frau Mutter Irina, mit Anna Laudere formidabel besetzt, ist aber auch da. Sie ist eine berühmte Ballerina und mit dem etablierten Choreografen Trigorin liiert (als Trigorin auch unter all diesen Sternen noch auffallend hervorragend im Dramatischen: Matias Oberlin). Das ist die Grundkonstellation der fühligen Beziehungen, von der am Ende allerdings nichts mehr übrig bleibt.

Dafür finden sich andere Paare. Auch eine Hochzeit findet im Verlauf des Stücks statt, allerdings ist da eigentlich nur der Bräutigam in die Braut verliebt, die ihr Herz unglücklich anderweitig verschenkt hat, nämlich an Kostja. Zunächst aber verliebt Kostjas Nina sich in Trigorin, geht mit ihm nach Moskau. Doch die Liaison hält nicht ein Leben lang. Als Revue-Sternchen träumt Nina in der Weltmetropole vom großen Erfolg, aber ohne ihn je spüren zu dürfen.

"Die Möwe" von John Neumeier 2025

Im modern gewandelten Stil der Golden Twenties: Olivia Betteridge, Daniele Bonelli und das Hamburg Ballett in der Revue in „Die Möwe“ von John Neumeier. Foto: Kiran West

Eine deftige Revue und die Ballettsatire „Der Tod der Möwe“ zeigen im zweiten Teil unterschiedliche Konzepte von Kunst – meisterhaft vorgeführt und zugleich als Tänze ganz ernsthaft tauglich sowie auch als Parodie belustigend. Einen solchen virtuosen Balanceakt kann nur ein wahrer Meisterchoreograf, ein Genie, hinlegen. John Neumeier beweist gerade in der „Möwe“, was er kann und wie er das Publikum zu faszinieren weiß. Sensibel sind die Einzelteile dieses Balletts, seien es Liebesgeschichten oder Theater-im-Theater-Szenen,  aufeinander abgestimmt.

"Die Möwe" von John Neumeier 2025

Applaus wie für eine Uraufführung: für John Neumeier und das Hamburg Ballett am 21.09.25 nach „Die Möwe“. Foto: BALLETT-JOURNAL

Das Ensemble und die Solistinnen und Solisten drehen aber auch voll auf! Niemand, der das Hamburg Ballett derzeit besucht, kann sich über mangelhafte künstlerische Leistungen beschweren. Man merkt nicht mal, dass die Riege der hauptsächlichen Tanzstars unter Demis Volpi regelrecht ausblutete, weil fünf führende Körperkünstler abwanderten. Für andere Stücke mag es auch vielleicht nicht ganz so einfach möglich sein, aber in „Die Möwe“ finden sich wunderbare Tanztemperamente auch unter den ganz jungen Ensemblemitgliedern.

Die Zweitbesetzung mit Caspar Sasse und Francesca Harvey in den Hauptrollen und mit Ida Praetorius, Daniele Bonelli und Charlotte Larzelère in weiteren wird  dann ab dem 25.09.25 zeigen, dass ein Ende der Fahnenstange beim Hamburg Ballett zum Glück noch längst nicht abzusehen ist.

"Die Möwe" von John Neumeier 2025

First class ballerina Ana Torrequebrada mit wehmütigem Blick als Nina in „Die Möwe“ von John Neumeier. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

In nicht mal zwei Wochen – also in gut zehn Tagen – lernten diese eifrigen Hochleistungskünstler übrigens die gesamte Choreografie zur „Möwe“. Das dürfte absolut rekordverdächtig sein. Welches Ballettensemble in der Welt könnte das?

Und für die diesjährige Dezember-Premiere hat der aktuelle Ballettdirektor Lloyd Riggins als kommissarischer Boss ja auch ein Schmankerl ausgesucht: Die klassisch-romantische Version von „La Sylphide“ von Frank Andersen, einem ehemaligen Direktor des Königlich-Dänischen Balletts, war vor einigen Jahren schon beim Staatsballett Berlin (mit Maria Kochetkova als Gaststar) zu sehen – und begeisterte mit abgespeckter szenischer Authentizität, die an Stilsicherheit in der dänischen Romantik ihresgleichen suchte.

Diese frühe Bühnenvision von elfenzarten Luftgeistern im Kontrast zu sinnlich-bäuerlichen Menschen wird wohl auch in Hamburg absolut berücken.

"La Sylphide" vom Staatsballett Berlin premierte in der Deutschen Oper Berlin

Maria Kochetkova und Marian Walter vom Staatsballett Berlin beim Premierenapplaus nach „La Sylphide“ am 1. März 2019 in der Deutschen Oper Berlin. Applaus-Foto: Gisela Sonnenburg

Damit nun niemand vergisst, dass wir im 21. Jahrhundert leben, wird dann noch am selben Programmabend der junge Erste Solist Aleix Martínez, den man trotz seiner spanischen Herkunft mit Fug und Recht ein Hamburger Produkt nennen darf, eine hochmoderne zeitgenössische Kreation zum Thema „Sylphiden“ zeigen. Wer könnte da nun nicht sehr gespannt drauf sein?

Ob und in welcher Form die Tänzerinnen und Tänzer auch ein Mitspracherecht bei der Auswahl ihres künftigen Chefs (oder ihrer künftigen Chefin) ab der Spielzeit 2027/28 haben werden, steht allerdings noch in den Sternen.

Marie Kleinert von der Hamburger Linksfraktion hat aber auch hier schon vorgesorgt und den Senat bereits dazu angefragt. Sie wird, wie man sie so kennt, nicht locker lassen. Zum Glück für die Tänzerinnen und Tänzer!
Gisela Sonnenburg / Anonymous

www.hamburgballett.de

"Die Möwe" von John Neumeier 2025

Anna Laudere schmunzelt als Irina am Ende der „Möwe“, aber für Kostja (Louis Musin) ist die Welt keine bessere geworden. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

 

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