Mit auserlesenen, extravanganten und unerhört eleganten Hebungen, die indes nie Selbstzweck sind, sondern die den Sinn der utopischen Liebe auf den Punkt bringen, erreichte die 228. Ballett-Werkstatt von John Neumeier beim Hamburg Ballett gestern ihren Höhepunkt. Alina Cojocaru und Christopher Evans, bereits seit ihren Traumpaartänzen in Neumeiers „Giselle“ und „Ein Sommernachtstraum“ als Dreamteam auf der Bühne entflammend, verführten somit in die geheimnisvolle Wunschwelt der Theaterfigur Laura / Rose, wie Neumeier seine neue Hauptprotagonistin in Anspielung an gleich zwei Vorlagen benennt. „Die Glasmenagerie“, dieses sozialkritische Psychodrama über eine sich auflösende Familie – mit dem der amerikanische Dramatiker Tennessee Williams seinen ersten großen Erfolg hatte – verschmilzt in Neumeiers neuem Werk mit dem realen Leben von Williams. Was sich insofern anbietet, als auch der Dichter selbst seine autobiografisch erlebten Situationen in seinem Theaterstück verarbeitet und als Inspiration zu Grunde legt. Auch ohne Bühnenbilder und Kostüme, im nüchternen Bühnenlicht des Werkstatt-Ambientes, bezauberten und berückten die verschiedenen einzelnen Szenen, die es gestern als Kostproben vorab der Uraufführung zu sehen gab. Zur Premierenrezension geht es übrigens hier.
Am Sonntag, dem 1. Dezember 2019, wird Neumeiers Stück in der Hamburgischen Staatsoper premieren, der Termin wird mit großer Vorfreude erwartet.
Wer hierfür kein Ticket mehr ergattert oder ohnehin deutlich näher an Wien als bei der Alster lebt, kann sich außerdem – zufällig am selben Abend – das Sprechtheaterstück „Die Glasmenagerie“ von Tennessee Williams in der sehr spannenden Inszenierung von David Bösch und mit der hervorragenden Dramaturgie von Florian Hirsch im Akademietheater ansehen, also in der zweiten Spielstätte vom Burgtheater in Wien, dem bedeutendsten österreichischen Sprechtheater.
Ballettfans werden derweil den Tanz bevorzugen, keine Frage. Aber zur Ergänzung empfiehlt es sich generell, auch andere gelungene Kulturabende dazu zu nehmen – nicht nur, um mitreden zu können, sondern auch, um das Ideal eines rundum gebildeten Menschen nicht völlig zu verfehlen.
Die Uraufführungen bei John Neumeier haben hingegen nicht ohne Grund Kultstatus, es handelt sich um Feste der Hochkultur, wie es sie auch in der Geschichtsschreibung des Balletts und der darstellenden Künste nur selten gibt. Man darf ohne Übertreibung von John Neumeier als eine lebende Legende sprechen – und den Ansprüchen des Meisterhaften genügt sein choreografisches Genie allemal.
So ist man weniger gespannt, ob der neue Abend in Hamburg was wird oder nicht, als vielmehr darauf, wie er gestaltet ist, wie die Sache dramaturgisch, optisch und im tänzerischen Detail angegangen wird.
Auch die Musikauswahl spielt hier eine Rolle, und mit den Tanz-Auszügen gab es in der Werkstatt auch musikalische Surprisen. Da hören wir überraschend melodische, traumverloren-sinnliche Stücke des Minimalisten Philip Glass (etwa zum eingangs erwähnten Fantasie-Pas-de-deux), etwas exaltierte, aber absolut faszinierend-ästhetische Klänge des frühen Naturverteidigers und Humanisten Charles Ives (auch er war Amerikaner) sowie eine historische Swing-Schallplatte (jawohl!).
Letztere gibt den kessen Ballettgirls Emilie Mazon, Hayley Page (yeah!), Xue Lin, Olivia Betteridge, Francesca Harvey und Priscilla Tselikova Anlass zu zeigen, wie viel Drive und Sexiness, Lebenslust und Harmonie im Ballett stecken kann, wenn es sich dem Revuestil auf hohem Niveau annähert.
Aber auch eine bedrückende Familienszene war zu sehen: Die rudimentäre, weil vom Vater sitzen gelassene Familie der Wingfields, die auch Tennessee Wiliams in seinem Stück beschreibt und deren einzelne Mitglieder so unglücklich wie aufeinander angewiesen sind.
Alina Cojocaru als Laura, die gehbehinderte, scheue – fast möchte man sagen: autistische – Tochter des Hauses, im Ballett zugleich Williams‘ unglückliche, psychisch kranke Schwester Rose verkörpernd, trägt in solchen Szenen am rechten Fuß keinen zweiten Spitzenschuh, sondern muss auf einem zierlichen Schuhabsatz humpeln, teils von einer Krücke gestützt.
Wie sie sich dennoch freitanzt und alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel nutzt, um die seelischen Konflikte von Laura / Rose zum Ausdruck zu bringen, ist ein Wunder für sich.
Die tanzende Seele zeigt hier ihre Fragilität, aber auch ihre Schönheit. Da macht die Glastier-Symbolik noch einmal Sinn.
Wobei man sich auch Madoka Sugai oder Hélène Bouchet in der Rolle der Laura / Rose vorstellen könnte…
Tom, den Bruder von Laura (und gleichzeitig das Alter ego von Tennessee Williams), gibt es dagegen gleich dreifach auf der Bühne, seine Persönlichkeit ist eng mit der des Dramatikers verwoben:
Als Tennessee ist er mit dem jetzt wunderschön langhaarigen „blonden Riesen“ Edvin Revazov herzergreifend besetzt. Als Tom II gibt er mit Félix Paquet ein jugendliches Mannsbild von burschikoser Kraft und Geschmeidigkeit ab. Und als Kind ist die Rolle von Tom mit Andrej Urban, dem Sohn der ehemaligen Primaballerina Anna Polikarpova und des Ballettmeisters Ivan Urban, sozusagen prominent besetzt.
Die drei kommen sich keinesfalls ins Gehege, auch wenn sie manchmal miteinander auf der Bühne stehen – die Tanzkunst macht das möglich, ebenso wie es die Literatur oder der Film oder auch die Musik möglich machen könnten.
Dennoch ist Neumeiers Konzept etwas Besonderes:
Man erfühlt und begreift die innere Welt von Tennessee Williams, indem man der Fantasie seiner Figuren folgt.
Das ist ein exorbitanter Kunstgriff, der es dem Choreografen erlaubt, das ganze Stück als Rückblick aus der Perspektive von Tom zu zeigen.
Denn obwohl seine Mutter Amanda, die ihrer Südstaaten-Vergangenheit als begehrtes Mädchen aus der Oberschicht nachhängt (Patricia Friza ist als abgehalfterte Dame der ehemals besseren Gesellschaft noch nicht ganz überzeugend), und seine Schwester Laura mit ihrer Gehbehinderung und ihrem menschenscheuen Verhalten von ihm als Ernährer abhängig sind, verlässt Tom sie.
Menschlich ist das übrigens ein großer Unterschied zu Tennessee Williams, der zwar ebenfalls seiner Neigung, Schriftsteller zu werden, nachgab, der damit aber keineswegs die eigene Familie ins Unglück stürzte.
Tom aber träumt das ganze Stück hindurch davon, endlich nicht mehr als Lagerarbeiter schuften zu müssen (um den weiblichen familiären Anhang mit durchzubringen), sondern Dichter zu werden.
Am Ende erfüllt er sich diesen Traum – und überlässt die beiden Frauen einem erbarmungslosen Abgrund, der umso gruseliger ist, als wir uns 1944 in den USA befinden und statt sozialer Absicherung der Zweite Weltkrieg immer näher kommt, denn auch Amerika wird bombardiert.
Was für eine Perspektive auf das Stück!
Weltgeschichte und Reflexionen über Glasnippes finden zusammen, und das verbindende Glied ist das Menschliche, im Ballett: Es handelt sich um einen wahrhaftigen Tanz der Seele.
Man muss dazu sagen, dass Neumeier hier viel Eigenerfahrung (er ist ja in den USA geboren und aufgewachsen) wie natürlich auch eigene Emotionen in die Arbeit hineingegeben hat. Was ihn mit Tennessee Williams verbindet, wie er betont:
„Es sind immer die eigenen Gefühle und Probleme, die einen inspirieren.“
Dennoch abstrahiert ein Künstler und mischt konkrete Selbsterfahrung mit gesellschaftlicher Beobachtung.
Neumeier hat „Die Glasmenagerie“, wie er mit charmantem Lächeln erzählt, bereits als Teenager auf dem College als Theaterstück gesehen, inszeniert von seinem geistigen Ziehvater und Förderer Pater John Welsh.
Die Auseinandersetzung mit dem Stück führt ihn also auch in seine erste Zeit des Stürmens und Drängens zurück, in jene Zeit, in der Menschen entscheiden, welche Wege sie beschreiten wollen. Oft entscheiden sie in der Pubertät und frühen Jugend unbewusst, was sie wollen und was nicht.
Für Neumeier ist es aber auch wichtig, neue Erzählformen des Handlungsballetts zu entwickeln,
So kommt hier eine außergewöhnliche Szene zustande, die so wohl bei keinem anderen Choreografen denkbar wäre.
Der Terror des Sekretärinnendaseins, wenn man fremde Sätze und Gedanken heruntertippen muss, obwohl man schöpferisch und intellektuell hoch begabt ist, findet sich in Neumeiers neuem Ballett.
Neumeier selbst musste ja in den USA seinen Militärdienst ableisten, hat also erlebt, wie es ist, als kreative Persönlichkeit in ein Raster aus Gehorsam und ungeliebten Aufgaben jenseits aller Kultur gepresst zu werden.
Die Szene, die Laura / Rose durchmacht, ist hingegen sehr gegenwärtig, weil sie vor allem die Frauenarbeit betrifft.
Es ist ja ein typisches Frauenproblem, dass man sie Sekretärinnen statt Chefs werden lässt – und es ist John Neumeier hoch anzurechnen, dass er sich dieser Sache widmet und dem Publikum tänzerisch nahe bringt, wie ungerecht Frauen nicht selten zu Arbeiten weit unter ihren Möglichkeiten verdammt werden.
Im hämmernden Takt klopfen die mechanischen Schreibmaschinen, nahezu unsinnige Sätze werden ja verwendet, um das Schreibmaschineschreiben zu lernen. Was für ein Horror! Mit der angenehmen Erfahrung, mit zehn Finger tippen zu lernen, hat dieser Zwang hier nichts mehr zu tun. Laura / Rose soll in ein System hineingepresst werden, das ihr nicht liegt.
Auf der Bühne wird außer dem Tippen aber auch getanzt – und der Tanz zeigt in wenigen Sekunden all die inneren und äußeren Vorgänge synchron.
Das erinnert mich an das Experiment, das Arno Schmitt in seinem Kunstbuch „Zettels Traum“ vorführte, indem er die einzelnen Ebenen in einzelnen Textspalten nebeneinander setzte, statt die verschiedenen Ebenen nacheinander zu erzählen.
Den Tanz zu sehen, ist allerdings viel sinnenhafter, denn hier finden zeitgleich viele verschiedene Dinge statt.
Gerade auch innere Widersprüchlichkeit lässt sich durch Tanz, durch Ballett, vorzüglich bebildern.
Neumeiers Laura / Rose ist eben nicht nur behindert, sondern sie hat auch Talente und eine hoch kreative Fantasie – die auszuleben ihr allerdings nicht erlaubt ist. Ihr einziger Trost, ihre einzige Möglichkeit, sich zu verwirklichen, ist das gedankliche Spiel mit ihrer Glasmenagerie, einer Sammlung aus Glastieren, die dem Stück den Namen gab. Neumeier hat diese Tierchen auf die Bühne gebracht, ganz unspektakulär steht ein Glastisch mit ihnen an der Rampe.
Es sind die Gedanken und Gefühle von Laura / Rose, die sie zu etwas Besonderem machen.
Auch die Schwester von Williams hatte darum eine solche Glasmenagerie, und der Dramatiker half ihr in der gemeinsamen Jugendzeit, das Zimmer mit hellen Möbeln und bunten Wänden zu einer Oase, zu einer Art Mini-Erlebniswelt zu machen.
Die Eltern Williams (in realitas verließ der Vater die Familie nicht) ließen Rose wegen der bei ihr diagnostizierten Erkrankung im übrigen einer Lobotomie unterziehen, einer grausamen Gehirnoperation, die den Menschen irreparabel mental lahmlegt. Tennessee hat es seinen Eltern nie verziehen, dass sie zu dieser heute verbotenen OP, die den in der Psychiatrie leider nicht seltenen Menschenrechtsverletzungen entspricht, ihre Einwilligung gaben.
Im Theaterstück und Ballett wird Laura / Rose nicht geistig kastriert. Aber sie hat keine Möglichkeit, auch nur irgendwie selbständig oder von ihrer Familie unabhängig zu werden.
Die Ausbildung zur Sekretärin ist für sie eine Horrorzeit, und sie flüchtet davor, indem sie ins Kino geht oder einfach Spaziergänge unternimmt. Eine ihren Talenten und Interessen entgegen kommende Ausbildung steht nicht mal zur Debatte.
Nur eine Hoffnung haben sie und ihre Mutter noch: Jim O’Connor, ein Freund von Tom, kommt zu Besuch… Laura / Rose ist in ihn verliebt. Er ist der Mann ihrer Träume, sozusagen – aber die Realität spielt nicht mit. Jim erzählt, dass er verlobt sei, mit einer Anderen… im Theaterstück schenkt Laura ihm darum zum traurigen Abschied das Einhorn aus ihrer Glastiersammlung, welches er selbst zuvor beim Tanz mit ihr zerbrochen hat. Dadurch wurde aus dem Fabelwesen Einhorn ein banales Pferdchen…
Aber so weit sind wir hier im Ballett noch nicht. Wir wissen nur, dass Jim, sehr aufregend getanzt von Christopher Evans, auf Laura (eben die Weltballerina Alina Cojocaru, die seit 2011 regelmäßig beim Hamburg Ballett zu Gast ist) genau die Wirkung hat, die ein junger Mann auf ein verliebtes junges Mädchen hat…
Die Utopie der Liebe wird hier ganz weit oben angesiedelt: Sie schwebt über der jämmerlichen sozialen Misere, sie hält aufrecht, er erhält den Lebensnerv.
Das ist so zu sehen, John Neumeier muss es nicht extra erklären.
„Weil es noch nicht fertig ist, kann ich Ihnen nicht so viel zeigen, wie ich möchte“, kokettiert Neumeier allerdings, und tatsächlich ist das Publikum so neugierig, dass es am liebsten das ganze Stück vorab sehen würde.
Dafür ist eine Werkstatt nun allerdings nicht da. Aber: Der Meister erklärt, wo es in seinem Schaffen Querverbindungen zum neuen Werk gibt.
So hat er 1983 beim Stuttgarter Ballett mit Marcia Haydée in der Hauptrolle das Williams-Stück „Endstation Sehnsucht“ als Ballett (als Ballett-Theater) uraufgeführt, einer seiner ganz großen Meilensteine in der Geschichte des Bühnentanzes.
Neumeier erzählt, dass er hier mit der offenen, fragmentarischen Collage-Form zu einer neuartigen Dramaturgie des Erzählens fand, die ihn auch selbst als Künstler voran brachte.
Ob die Homosexualität, die sowohl in der „Endstation“ als auch im Leben von Tennessee Williams als auch im Leben und Werk von John Neumeier eine wichtige Rolle einnimmt, auch in der „Glasmenagerie“ zu ihrem Recht kommt, bleibt abzuwarten.
Aber es gibt eine weitere Delikatheit im Werk von Neumeier, die „Glasmenagerie“ betreffend: Schon einmal hat er eine Frauenpartie mit einem Absatzschuh zum Spitzenschuh ausgestattet, und zwar Gigi Hyatt in seiner „Sechsten Sinfonie von Gustav Mahler“, die er 1984 beim Hamburg Ballett uraufführen ließ.
Das ist das Wunderbare an einer Werkstatt: Solche Bezüge können sichtbar gemacht werden, sofern man so fleißige Mitarbeiter wie John Neumeier hat.
Eduardo Bertini, heute Künstlerischer Produktionsleiter vom Hamburg Ballett und früher ein heißblütiger Neumeier-Ballerino, studierte dankenswerterweise mit Emilie Mazon, Alexandr Trusch und Florian Pohl die Szene „Schattenspiele“ von Neumeier zum Andante moderato (dem dritten Satz der Sechsten von Mahler) ein.
Sie spielt in einem Kinosaal, wie auch die Träume von Laura / Rose sie ins Kino führen.
In der Mahler-Sinfonie stehen die Stühle wie in einem Konzertsaal oder einer Schulaula da – und die Ballerina bewegt sich in ihrem seltsamen Schuhwerk betont anmutig. Sie setzt sich, und auch die jungen Männer suchen sich später einen Platz.
Um Stimmungen, die mit der Musik korrespondieren, auszudrücken, bewegt und tanzt Mazon langsam und lethargisch auf, neben, unter dem Gestühl.
Es entwickelt sich eine Kommunikation mit dem wie immer begeisternd geschmeidigen Ballerino Alexandr Trusch: Die unter seinen Stuhl gerutschte Mazon lässt ihren Arm hochsteigen, bis zur Berührung mit dem Mann…
Knisternde Erotik strömt von der Bühne ins Opernhaus…
Alexandr Trusch zeigt mal wieder – sogar in einer so kleinen Szene – dass er ein Ballerino des absoluten Ausdrucks, der absoluten Eleganz, der absoluten Schönheit der Seele ist. Fein, dass er jetzt sein Repertoire um dieses Juwel erweitert hat.
Abwechselnde Pas de deux der jungen Dame mit den beiden Herren bezeugen Neumeiers Gefühl fürs Subtile und Sublime.
Da gibt es bereits Hebungen, die auf spätere Neumeier-Stücke deuten, ohne sie exakt vorwegzunehmen. „Die Möwe“ ist zu erkennen, auch „Die Glasmenagerie“ in Anklängen.
Schließlich zog ein Junge dem Mädchen ja auch die Schuhe aus – und barfuß ist sie die Grazie in Person, scheint aus einer Sphäre der Natur, der Weltenferne zu kommen, um Freude und Genuss zu bringen. Ach, und Sehnsucht – ohne diese wäre wohl jede Begierde plattes Triebwerk.
Was für die Musik als Inspiration gilt, lässt sich auch auf Neumeiers Verhältnis zu Literatur sagen: Er erkennt „viel mehr Suggestion zwischen den Zeilen als in den Worten“.
Das gilt natürlich erst recht für lyrische Werke, und Tennessee Wiliams war in der Tat ein hervorragender Lyriker, dessen Gedichte zu Unrecht nicht auf Deutsch erhältlich sind.
Auch John Neumeier hat sprachliches lyrisches Talent, und immer wieder hoffe ich, dass er sein wunderbares Gedicht zur inneren Situation eines Künstlers, das er während seiner Arbeit an seinem Tschechow-Ballett „Die Möwe“ schuf, durch weitere ergänzt.
Für Tänzer ist hingegen nicht nur ihr Talent von höchster Wichtigkeit, sondern auch ihr Körper.
John Neumeier erklärt das anhand seiner Muse Anna Laudere, und sie tanzte, zusammen mit ihrem Gemahl Edvin Revazov, auch das Eingangsstück zu dieser Werkstatt.
Der Pas de deux entstammte Neumeiers „Beethoven-Projekt“ von 2018, zur Musik von Ludwig van Beethovens „Eroica“.
Tod und Leben ringen hier auf erstaunlich konziliante Art miteinander, auch ein Corps Jungen übernimmt energetisch die Begleitung des Überlebenskampfes im puren Miteinander.
Am Ende kommt Aleix Martínez, also Beethoven, und rettet seine Muse (eben Anna Laudere) durch einen schlichten Akt des Ansehens und Mitfühlens: durch eine menschliche Geste.
Dennoch steht die Wahrheit fest im Raum: Die Körper sind das Wichtigste für Tänzer. Talent und Temperament, Konzentration, Leidenschaft, Mut und Hingabe, Tapferkeit und Stolz, aber auch Empathie und Mitleid vorausgesetzt…
Umso erstaunlicher, dass das Hamburg Ballett sein „lebensnotwendiges“ Training zum Aufwärmen für die Werkstatt auch ohne Musik ziemlich synchron absolvieren kann – in der halben Stunde vor Beginn der Matinee war das unter der Leitung von Laura Cazzaniga auf der Bühne zu bewundern. In der Stille wirken die Bewegungen nochmals poetischer, sind von atemberaubender Schönheit auch in ihrer Einfachheit und Ungeschminktheit.
Außer Alexandr Trusch fiel hier auch Jacopo Bellussi angenehm auf: Bellussi, der soeben einen Preis aus München erhalten hat, musste wegen einer Verletzung einige Monate pausieren und kehrt jetzt, in dieser Werkstatt, mit dem traditionellen Benefiz-Pas-de-deux am Ende auf die Bühne zurück.
Mit Anna Laudere tanzt er so erhebend wie lakonisch „Wo die schönen Trompeten blasen“ aus Neumeiers „Soldatenlieder (Des Knaben Wunderhorn)“ zur Musik von Gustav Mahler, und während sie im weißen Spitzenkleidchen zart und zerbrechlich wirkt, fast kantig, so durchscheinend, brilliert sein männlicher Körper mit Standfestigkeit und Anmut.
Dieser Pas de deux, 1989 für den später an Aids gestorbenen Tänzer Jeffrey Kirk choreografiert, wird traditionell beim Hamburg Ballett zum Abschluss der so genannten Benefiz-Werkstatt getanzt.
Den Erlös – an diesem Sonntag waren es rund 35.000 Euro– erhält ebenso traditionell das soziale Unternehmen Hamburg Leuchtfeuer, das mal als kleines Schwulen-Hospiz begann und mittlerweile in nur einem Jahr einen Millionenbetrag für sein neuestes Projekt „Festland“ an Förder- und Spendengeldern eintrieb. Dafür wird neu gebaut: Im Dezember wird Richtfest sein. Vor allem junge Schwerkranke mit verschiedenen Diagnosen sollen hier untergebracht werden – mustergültig in Pflege und ärztlicher Versorgung betreut wie mit möglichst hoher Lebensqualität. Allerdings: Die Wartelisten dürften lang sein, denn „Festland“ bietet nur 22 Plätze an.
Nichts gegen karitative Spenden. Aber auch das Ballett-Journal braucht Spenden, weil weder die kommerzielle Mainstream-Medienwelt noch staatliche Förderung für dieses weltweit einzigartige Projekt zuständig ist.
Und: Man darf hier im Ballett-Journal natürlich auch inserieren, sogar, um selbst Spenden zu erbitten. Auch Hamburg Leuchtfeuer darf das – ab 80 Euro für vier Tage und vier Nächte mit einem Werbebanner auf der Homesite plus Link zur eigenen Website. Bei bis zu 5.700 Lesern pro Tag ist das kein schlechtes Arrangement.
Längere Buchungszeiten sind natürlich stark rabattiert und können gern verhandelt werden. Hier geht es zu den Kontaktdaten: Impressum.
Während über diese Angebote und über die mittlerweile mehr als 600 umfassenden Ballett-Beiträge, die hier abrufbar sind, noch nachgedacht wird, proben John Neumeier und sein Hamburg Ballett weiter an der „Glasmenagerie“.
Im Ballettsaal weiß man: Die Tatkraft ist entscheidend!
Gisela Sonnenburg