Der Geist der Liebe In der 214. Ballett-Werkstatt erzählte John Neumeier, bestens aufgelegt, von seiner kommenden Kreation „Turangalîla“

Turangalila bedeutet göttliches Liebesspiel.

Hélène Bouchet und Carsten Jung proben „Turangalila“ von John Neumeier: Das Foto von Kiran West stammt von der Homepage des Hamburg Balletts.

Was für eine kreative Atmosphäre! John Neumeier, Gründer und Chef vom Hamburg Ballett, bewies in seiner 214. Ballett-Werkstatt, die, mitreißend und erleuchtend, am 12. Juni 2016 in der Hamburgischen Staatsoper stattfand, wieviel schaffensfrohe Energie ein gestandener Tanzschöpfer auch vor Publikum ausstrahlen kann. Neumeier berichtete von seiner Arbeit am neuen Stück sowie von seinem Verhältnis zu sinfonischen Werken, die ihm als Grundlage für sinfonische Ballette – also für abstrakte Ballette im Gegensatz zu Handlungs- oder Themenballetten – dienen: Aktuell arbeitet er an der tänzerischen Umsetzung der Sinfonie „Turangalîla“ von Olivier Messiaen, deren Uraufführung für den 3. Juli in Hamburg erwartet wird. Das Titelwort, aus dem altindischen Sanskrit kommend, bezeichnet übrigens das rhythmische Spiel des Lebens in göttlich-anmutiger Form. Somit scheint das Motto dieser Musik schon wie für das moderne Ballett gemacht, zumal Messiaens Musik generell leicht fernöstlich angehaucht ist und viele Schwingungen spiegelt, die der klassischen europäischen Musik sonst verwehrt sind.

In einer dunkelblauen Trainingsjacke überm türkisfarbenen T-Shirt tritt der Hamburger Ballettchef vor sein wegen des Prickelns vor der Premiere besonders erwartungsfrohes Publikum. Zu Beginn verspricht Neumeier, keinen Vortrag über die komplexe Musik von Messiaen zu halten, sondern seinen Zugang als Choreograf zu sinfonischer Musik und vor allem zur Turangalîla- Sinfonie zu erklären. Doch bevor es tänzerische Ausschnitte zu sehen gibt, werden exakt zwanzig Minuten lang die theoretischen Voraussetzungen erläutert: mit Genauigkeit und Faktenreichtum. Das ist die richtige Mischung in der richtigen Länge für so eine Rede: Nach ca. zwanzig Minuten brauchen die meisten Menschen eine Abwechslung beim Zuhören, das ist wissenschaftlich erwiesen.

Also zur Theorie: Messiaen, der von 1908 bis 1992 lebte, schrieb die zehnsätzige Sinfonie Turangalîla von 1946 bis 1948 im Auftrag des Boston Symphony Orchestra, das sie 1949 unter der Leitung von Leonard Bernstein (einem späteren Freund von John Neumeier) auch uraufführte.

Turangalila bedeutet göttliches Liebesspiel.

John Neumeier und sein Hamburg Ballett – hier bei einer anderen Ballett-Werkstatt, auf einem Foto von Holger Badekow.

In Hamburg wurde es 1960 erstmals aufgeführt – und mittlerweile gehört Turangalîla ebenso zur Klassik der musikalischen Moderne wie „Le sacre du printemps“ von Igor Strawinsky, mit dem es wegen seiner hoch komplizierten Rhythmik gelegentlich verglichen wird.

Tatsächlich gab es in Hamburg auch schon mal ein Ballett zu drei Sätzen aus Turangalîla, und zwar von Peter van Dyk, der dazu von Rolf Liebermann und Olivier Messiaen selbst angehalten worden war. Da es aber nur einige Zeitungsberichte und Programmhefte aus den 60er Jahren als Zeugnisse dessen gibt – und keinerlei Aufzeichnungen noch Filmmitschnitte – ist es nicht mehr en detail fasslich.

Für Neumeier ist es umso reizvoller, aus Turangalîla ein Ballett zu machen, zumal die anspruchsvolle Musik Messiaens „so spannend wie einen Krimi“ sei. Dass es stets polarisiert hat und von vielen gefeiert, von manchen aber auch als vermeintlicher Kitsch abgetan wurde, kann da nur für das Stück und somit auch für Neumeiers Auswahl sprechen.

Nach dem Experiment mit van Dyk gab Messiaen lange Zeit keine Erlaubnis mehr, Turangalîla zu vertanzen. Bis er gemeinsam mit einem französischen Dramaturgen ein Libretto ausarbeitete. Allerdings mündete dieses nie in eine Aufführung. Dennoch sorgte die Sache für Streit. Messiaen wollte dann nämlich, dass Roland Petit ein Ballett aus Turangalîla macht. Es kam auch zu einer recht hoch gehandelten Uraufführung an der Pariser Oper, mit einer Bühnenausstattung von Max Ernst.

Allerdings gab es, 1968, nur eine einzige Aufführung dessen in Paris. Denn jener Dramaturg, mit dem Messiaen zuvor bereits ein Ballettlibretto namens „Turangalîla“ ausgetüftelt hatte, meldete sich als Mitinhaber der Rechte an dem Ballett und ging gerichtlich gegen Messiaen vor. 20 000 Francs sprach ihm ein französisches Gericht zu, obwohl er, wie Neumeier betonte, nicht mal einen Vertrag hatte.

Turangalila bedeutet göttliches Liebesspiel.

Ist einfach unberechenbar gut: John Neumeier, Chef und Chefchoreograf vom Hamburg Ballett. Hier auf einem Fotoportrait von Steven Haberland.

John Neumeier seinerseits wollte „Turangalîla“ schon vor rund zwanzig Jahren gern als Ballett machen, zusammen mit Ingo Metzmacher am Dirigentenpult. Es gab aber damals eine glatte Absage von Messiaen. Der Komponist riet Neumeier, sich doch mal lieber der Vogel-Thematik in Messiaens Werk zu widmen und daraus ein eigenes Tanzstück zu machen. Als Inspiration für Neumeier reichte dieser Hinweis nun allerdings nicht.

Trotzdem sind – soweit in der Werkstatt Ausschnitte aus „Turangalîla“ getanzt wurden, war das zu erkennen – heute auch einige tänzerische Vogel-Elemente darin vorhanden, sie erinnern an die Vogelschar in „A Cinderella Story“ von John Neumeier und auch an die „Vogelsprünge“ der Männer in der „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“, die Neumeiers erste abendfüllende sinfonische Ballettproduktion (1975) war.

Seit 1968, als es in Paris so heftig um Turangalîla als Ballett krachte, kennt und liebt Neumeier Turangalîla als Konzertstück: dank Manfred Gräter, dem legendären Fernseh-Redakteur, der viele Größen des Opern- und Ballettbetriebs im wdr auftreten ließ. Gräter riet Neumeier damals, sich mit dem 6. Satz der Messiaen’schen Sinfonie, dem „Garten des Schlafes der Liebe“, zu beschäftigen. Getanzt hat Neumeier übrigens mal ein Messiaen-Ballett in Stuttgart, wo er am Ende des Stücks seine Kollegin Marcia Haydée „als böser schwarzer Vogel“ zu Tode picken musste. Seither, so John Neumeier süffisant, liebt er die Vogel-Ballette von Messiaen nicht mehr ganz so.

Die Wortmelodie von Turangalîla, die Neumeier schön und anregend findet und auch so ausspricht, als beinhalte sie einen Teil vom Paradies, hat mit einer dramatisch-pathetischen Vogelarie denn auch nichts zu tun.

„Lîla“ heißt auf Sanskrit „Liebe“ – und zwar in allen Formen, sagt JN: „als sinnliche Liebe, als herzliche Liebe, als ideale Liebe, als Liebe Gottes“.

„Turangalîla“ heißt soviel wie göttliches Handeln in Sachen Liebe, letzteres als Liebesspiel oder spielerische Liebe verstanden. Auch die Themenfelder Rhythmus und Anmut werden auf Sanskrit mit vom Titelwort angesprochen – eine ganz konkrete Wort-für-Wort-Übersetzung ist hingegen nicht so einfach zu haben.

Messiaen, das sei als Anmerkung hier erlaubt, gliederte zudem drei seiner Werke, darunter Turangalîla, zu einer von ihm so genannten „Tristan-Thematik“, in der es um die sinnliche Liebe und den Liebestod geht. Für Neumeiers Ballett spielt dieser Aspekt aber wahrscheinlich keine große Rolle.

Turangalila bedeutet göttliches Liebesspiel.

Noch einmal ein Bick auf Hélène Bouchet und Carsten Jung, wenn sie für „Turangalila“ von John Neumeier proben. Das Foto stammt immer noch von Kiran West und steht auf der Homepage vom Hamburg Ballett.

Aufregend ist das Musikwerk allemal – wenn man es zum ersten Mal hört, könnte man es sich als Filmmusik für ein Sci-Fi-Drama vorstellen. Weltraumfahrten, Milchstraßenreisen, Sternschnuppen, Satellitenrotationen scheinen hörbar gemacht. Planeten scheinen da blubbernd zu entstehen und feurig wieder eingedampft zu werden. John Neumeier hat da natürlich andere Assoziationen: Er denkt an Körper in Bewegung, in Raum und Zeit und Licht und Farbe. Und „Turangalîla“ bewirkte bei ihm von Beginn an zugleich große Neugier.

Zunächst mal aber sah es nicht gut aus für ein Ballett von Neumeier zur Musik von Messiaen. Aber dann! Als klar war, dass Kent Nagano als Generalmusikdirektor an die Hamburgische Staatsoper kommen würde, sprachen JN und Nagano über Olivier Messiaen. Neumeier erzählte von seiner Faszination durch Turangalîla – er würde es so gern als Ballett machen! Und weil Nagano ein Protegé von Messiaen war, gab es von den Erben des Komponisten bald das Jawort für dieses Projekt.

Nur als Neumeier vorab sein Libretto beim Musikverlag einreichen sollte, musste er das verweigern. Denn für ihn stand von Beginn an fest, dass er ein sinfonisches Ballett kreieren wolle, eines ohne Handlung – und also auch ohne Libretto.

Dabei ist die Musik Messiaens von explosiver Spannung. „Nicht gerade das, was man in jedem Wunschkonzert heutzutage hört“, wie Neumeier witzelt. Das Orchester – um ein elektrisches Wellengerät ergänzt – ist zudem so groß und mit so vielen Schlagzeugen bestückt, dass es nicht in den Orchestergraben in Hamburg passen würde. Die Musiker werden darum auf der Bühne sitzen, im Hintergrund zwar, aber doch auch platzraubend. Dafür, so Neumeier, ist geplant, die Tänzer auch oberhalb der Bühne auftreten zu lassen, noch im Guckkasten zwar, aber auf einer zweiten Bodenebene. Doch das ist noch Zukunftsmusik – da wird erst die Uraufführung „Bares“ bringen.

Einen Teil vom ersten Satz aus „Turangalîla“ gab es aber schon zu sehen. „Jungs, bitte!“ lautete Neumeiers Startdevise hierfür.

Turangalila bedeutet göttliches Liebesspiel.

Christopher Evans ist einer der jungen Shooting Stars beim Hamburg Ballett – und maßgeblich an der neuen Kreation „Turangalila“ mit beteiligt. Das Fotoportrait stammt von Kiran West.

Sieben Jungs (darunter Christopher Evans, Aleix Martínez und Marcelino Libao) stehen da als Gruppe eng beieinander, als die Musik einsetzt. Dann sprengt das Rasseln und Tosen der Zimbeln und Trompeten die jungen Männer auseinander – zu wogenden Streichern verteilen sie sich im Raum, tanzen – teils individuell, teils synchron – zappelnde und blitzschnell zuckende Ballettbewegungen.

Sprünge auf dem Platz, schnelle Développés zur Seite, andererseits aber auch tänzerische Purzelbäume sowie vogelartige Armschwingungen machen deutlich, wieviel naturhaft-energetische Vibrationen hier entfesselt sind.

Es ist eine Art Urknall, eine symbolische Lebens- und Menschheitsentstehung, die Neumeier damit ersonnen hat.

Flatternde Hände an ausgetreckten Armen erinnern zudem kurz an das Standardrepertoire von Marco Goecke, der sich dadurch geehrt fühlen darf. Aber wenn die Tänzer in Rautenform am Boden sitzen, die Knie angezogen und die Arme zu wunderschönen, lyrisch geatmeten Ports de bras zum Kreisen gebracht, dann ist das Ganze unverkennbar ein Neumeier.

Jetzt mischt auch das Klavier akustisch kräftig mit, und bald setzen die Tänzer angesichts dieser Klanggewalten der Musik ihre Körper akustisch ein: Sie stampfen laut auf, im Gehen und Laufen, und dass sie dieses Stampfen mit geschmeidigen Schlängelbewegungen der Arme kombinieren können, zeichnet sie als hervorragend trainierte Truppe aus.

Auch die Pirouetten sind hier ungewöhnlich, aber elegant und frei im Ausdruck: Die Tänzer nehmen die Arme dabei hoch, nicht mit dem Lyrizismus einer Pirouette en attitude aus der Romantik, sondern mit einer fast sportlichen Anmutung. Vielleicht handelt es sich um einen Sonnentanz, an morgendliche Yoga-Übungen erinnernd, vielleicht aber geht es hier auch um die Anbetung und Schöpfung neuen Lebens an sich.

Man bedauert, dass man jetzt nicht einfach weiter diesen Tanz sehen kann!

Auch ohne Kostüme und Bühnenbild wirkt es so aufregend, was Neumeier sich da wieder ausdachte. Das Spiel der göttlichen Liebeskraft, (aus dem Titelwort von Turangalîla), es hat bei John Neumeier sicher noch viele weitere Facetten. Auf sie brennt man als Ballettkenner!

Jetzt aber ist auch das Mit-dem-Verstand-Begreifen wichtig. Und weil die Musik von Messiaen hier so viele Rhythmen übereinander legt bzw. aneinander reiht, erklärt Neumeier, wie das Tanzen dazu, aber auch generell zu Musik vonstatten geht.

Turangalila bedeutet göttliches Liebesspiel.

Noch einmal  der tolle John Neumeier, Chef und Chefchoreograf vom Hamburg Ballett. Seine Veranstaltungen sind, zumal, wenn er für das Publikum erläuternd spricht, unvergesslich! Ein Fotoportrait von Steven Haberland.

„Wir Tänzer zählen die Musik normalerweise, und zwar so, dass den Musikern manchmal ganz übel wird!“ – Denn im Tanz zählt die Bewegung mehr als das vorgefertigte Taktschema. Man zählt dann „über den Takt“ hinweg, und bei klassischer Musik geht es dabei meist von eins (one) bis acht (eight).

Richard Hoynes, der getreue, großartige und auch langjährige Pianist vom Hamburg Ballett, spielt zur Demonstration eines Klassik-Exempels jenen Auszug aus Tschaikowskys „Schwanensee“, der den „vier kleinen Schwänen“ gilt. Jeder kann da im Geiste mitzählen: Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht und eins…

Und weil wir immer alle so davon hingerissen sind, wie Neumeier richtig sagt, gibt es dann sogar die vier Schwäne tanzenderweise zu sehen: Mayo Arii und Florencia Chinellato (auf dem schwierigen Links-außen-Posten ganz wunderbar, trotz der kniffligen Technik frisch und sorgenfrei in der Ausstrahlung), Xue Lin und Futaba Ishizaki trugen das weltberühmte choreografische Kleinod von Marius Petipa gekonnt und fehlerfrei vor, mit exakten und präzise synchron gehaltenen Füßen, Knien, Armen, Köpfen. Wusch, eine Labsal! Und kaum zu glauben, dass sie das Stück erst am Vorabend einstudiert hatten.

Dann kommt das Experiment. „Ritchie“ Hoynes darf ein Stück von Albert Zimmermann spielen, eines mit schwermütig dumpfen Klängen aus den unteren Oktaven – und ohne erkennbar differenziertem Rhythmus. Dann ergießt sich ein Schwall hoher Töne dazu. Ohne für sich minimalistisch die Taktschläge zu empfinden, gibt es hier gar kein Metrum.

Die Schwanenmädchen aber halten fest zusammen und schaffen es, den eigenen Rhythmus ihrer Choreografie einfach beizubehalten, egal, was Hoynes gerade spielt. Sie tanzen das Stück sozusagen nach der Rhythmik in ihren Köpfen – die sie vermutlich längst auch im Körper, in den Beinen haben – und halten so gut durch, bis Neumeier sie erlöst.

Und er erklärt: „Mit dieser Spannung arbeite ich sehr oft“, denn er will „kein Kopieren der Musik mit dem Körper.“ Über den Takt zu gehen und den Geist der Musik mit dem Tanz neu zu formulieren – das ist künstlerische Schöpfung, im Gegensatz zur rein nachahmenden Illustration.

Wer Neumeier gut kennt, der ahnt, dass jetzt, wie schon mal bei einer Ballettschüleraufführung, eine Boogie-Woogie-Nummer auf die Schwanenmädels zukommt. Oh ja: Zum munteren Gesang vom Band im Stil einer Tanzkapelle müssen sie nun erneut als adrett-nette kleinen Schwäne auftauchen – und wo Ballettstudentinnen meist charmant, aber gnadenlos scheitern, vollbringen diese vier Grazien vom Hamburg Ballett das kleine Wunder, die Choreografie voll durchzuhalten, wenn auch nicht ganz formvollendet. Aber der leichte Konturverlust beweist, dass man so eine drastische „Gegen-den-Strich-Bürstung“ wirklich nur aus Spaß machen sollte. Und es ist ein Gag – das ganze Opernhaus lacht, so scheint es.

Denn der Kontrast der Trivialmusik zur klassischen Choreografie ist so groß, dass es unwillkürlich Lachsalven hagelt. Und alsbald viele Bravos für die tapferen Tänzerinnen!

Zurück zu Turangalîla. Neumeier: „Ich hatte weder Idee noch Geschichte noch Thema, als ich anfing, es zu choreografieren.“ Er wollte den Überraschungseffekt bei der Kreation, und er war gespannt darauf, was die Musik aus ihm herausholen würde. Allerdings hat er sich dramaturgisch sehr gut vorbereitet, er geht keinesfalls hin und macht mal eben was, ohne genau über die Musik, die er verwendet, Bescheid zu wissen. „ Ich habe bei sinfonischen Werken immer so gearbeitet“, gesteht er, „auch bei der ersten Sinfonie, die ich gemacht habe, also bei der ‚Dritten Sinfonie von Gustav Mahler’.“

Damals entstand plötzlich ein Männer-Pas-de-deux, der als zentral in Neumeiers Werk begriffen werden kann. „Was er bedeutet und warum es so kam, weiß ich aber nicht!“ – Neumeier bringt die Freiheit des unabhängigen Künstlers damit auf den Punkt. Wenn das Unbewusste in einen Schaffensprozess mit eingebunden ist, darf dem keine Schranke aus dem Bewusstsein auferlegt sein.

Carsten Jung und Karen Azatyan zeigen darum dieses unsterbliche Kleinod moderner Ballettkunst. Jung tanzt eine Phrase, die Azatyan wiederholt, bis beide zugleich und synchron tanzen. Perfekt ist dabei die Parallelität ihrer Arme, auch wenn sie dicht an dicht stehen oder gemeinsam zur Musik laufen. Die wechselhafte Musik scheint dabei etwas auszubaldowern, und man fragt sich: Was wird da keimen?

Turangalila bedeutet göttliches Liebesspiel.

Carsten Jung in seiner Rolle als „Liliom“, einer ebenfalls abendfüllenden, grandiosen Neumeier-Kreation von 2011. Die Bildcollage von Holger Badekow ist dem „Jahrbuch 2012“ vom Hamburg Ballett entnommen.

Es sind Marschrhythmen, forsch und stringent, die da entstehen. Mahler hat musikalisch also etwas vorgemacht, das sich bei Messiaen als Prinzip wieder findet. Allerdings katalysiert, also beschleunigt und verstärkt – denn mit der spätromantischen Haltung hat der Modernist Messiaen nur bedingt etwas am Hut.

Aber die „Vogel-Sprünge“ aus Neumeiers Mahler-Choreo werden von Jung und Azatyan voll spröd-männlicher Poesie dargeboten; insbesondere Karen Azatyan, der sich vor einem Jahr noch etwas schwer mit Neumeiers Mahler-Stück tat, hat sich hier sichtlich sehr weiter entwickelt.

Zurück zur Schaffenskraft Neumeiers. „Man arbeitet bei Uraufführungen ja oft monatelang nur mit den Klavierauszügen eines musikalischen Werks“, erläutert er. Das ist darum der Fall, weil es dann noch gar keine Einspielung geben kann. Für einen sensiblen Schöpfer allerdings ist das nicht nur toll: „Das ist hardcore!“ Neumeier ächzt fast bei der Erinnerung daran, etwa an die Arbeit an „Tatjana“, deren Musik von Lera Auerbach eine Auftragsarbeit ist.

Aufs Stichwort „Tatjana“ werden flugs ein großer Teddy, ein Stuhl, ein Tisch hereingetragen. Neumeier ordert noch einen zweiten Stuhl. Dann können Hélène Bouchet und Edvin Revazov einen Auszug aus „Tatjana“ zeigen, der im Hinblick auf „Turangalîla“ und ausdrücklich auch im Gegensatz zu John Crankos „Onegin“ anzusehen ist. Neumeier: „Hier wie dort handelt es sich um moderne Musik, und es ist unmöglich, daraus die Gefühle zu hören, die es zu tanzen gilt.“ Gerade „Onegin“ lebt ja bekanntlich vom Bonus der schwelgerischen Musik Tschaikowskys – ein Comfort, den ein echtes modernes Ballett eben nicht zu bieten hat.

Hélène Bouchet beginnt mit einem zartfühlenden Solo, das in einen Pas de deux mit Edvin Revazov mündet. Die Musik bildet dazu eine zweite Ebene, und gerade das beziehungsreiche Nebeneinander von Bewegung und Musik ergötzt! Da vermisst man die rasenden Violinenfahrten aus Tschaikowskys sinfonischen Werken gar nicht mehr.

Aber: „Auch Text kann für mich eine instinktive Bedeutung haben“, so Neumeier. Das Titelwort seines Balletts „Winterreise“ sei da ein Beispiel. Auf einer Zugfahrt habe er Hans Zenders moderne Version des Schubert’schen Themas gehört und eine Vielzahl von Bildern assoziiert. Damals, kurz nach dem 11. September 2001, war die Welt im Schock wegen des Attentats, und Neumeier, der an der „Winterreise“ arbeitete, sah dann auch stets mehrere Menschen als Reisende, niemals nur einen einzelnen.

Aleix Martínez, der die Rolle auch bei den kommenden Ballett-Tagen tanzen wird, gibt uns eine Kostprobe dieser subtilen, sehr ergreifenden Choreografie Neumeiers.

EIne Gala ohne die Kameliendame wäre keine in Hamburg.

Die „Winterreise“ – eines der stillsten, tiefsten, ergreifendsten Meisterwerke von John Neumeier. Hier eine Szene (mit Aleix Martínez mit ausgestreckten Armen), die das Mitmenschliche ohne Zugeständnis in den Mittelpunkt rückt. Foto: Marcus Renner

Mit der Fliegerkappe und dem Strickpulli mit überlangen Ärmeln ausstaffiert, verkörpert er einen Menschen, der fremd in der Welt ist, in der er sich bewegt – und für den das kleine Treppchen, das die Bühnenrequisite darstellt, immer nur Hoffnung versinnbildlichen wird, ohne, dass diese eingelöst werden kann.

Liebeskummer ist textlich der Hintergrund – der Komponist Zender verwandte dieselben Verse wie Franz Schubert in seiner „Winterreise“.

Das Leben, ein einziges Streben! Martínez springt von einem Bein, so hoch, als hätte er Anlauf genommen. Als er die Kleidung wechselt und gegen eine Art Sackhüpf-Hose eintauscht, wird er im Ausdruck energischer. Wie die Musik, wie der Text. Von Untreue und unstetem Wesen der Geliebten ist da die Rede. Oh ja, so etwas kann weh tun…

Aber hilfreich ist es nicht, sich zu sehr auf solchen emotionalen Schmerz einzulassen. Aleix findet zur Kappe und zum Pulli zurück, hinter ihm und seinem Part liegt die Erfahrung der Verarbeitung einer inneren Problematik. Sein Solo diente dieser Seelenarbeit, Heilung durch Tanz – das ist gar nicht mal so weit hergeholt. Wie auch Yoga oder Qi Gong und sicher in stärkerem Ausmaß hat Ballett mit dem seelischen Gleichgewicht und der Harmonie der Emotionen zu tun.

Hier steht auch die Einsicht am Ende, den Weg allein weiter gehen zu müssen.

Und der Ballerino endet in der zweiten Position mit weit geöffneten, nur leicht rund gehalten Armen, mit angespannten Rückenmuskeln und einem weiten Brusthorizont. Zukunft, du kannst kommen!

Verdienter großer Beifall brandet auf, wobei überraschenderweise die skurrile Komik der „Schwanen“-Nummern noch immer im Raum schwebt. Es ist schon eine Anstrengung, von diesem munteren Klamauk innerlich ganz abzulassen und sich voll auf die sehr ernsthaften Szenen zu konzentrieren.

Ein weiterer Ausschnitt aus der „Winterreise“, getanzt von der biegsamen Lucia Ríos, zeigt die Frau mit dem roten Buch, die – John Neumeier sagt es so poetisch – das Problem hat, dass sie „den Eisboden ihres Lebens nicht erträgt“ und darum nicht stehen kann.

Weiße Handschuhe, das rote Buch und eine Umhängetasche – dieses Mädchen ist wie aus einer Bibliothek abgeschaut, es könnte sich um eine Studentin handeln, deren Gefühlsleben ziemlich brach liegt.

Aleix Martínez und Karen Azatyan bemühen sich, sie aus dieser inneren Lethargie, die sich in abwechselnd kantigen und runden Bewegungen nach außen zeigt, zu holen und ins Gemeinwesen einzubinden. Tatsächlich tanzen die drei am Ende eine Art höfischen Reihentanz – und das lustvolle Erlebnis der Gegenwärtigkeit siegt über die autistische Selbstversunkenheit.

Turangalila bedeutet göttliches Liebesspiel.

Noch einmal ein Bick auf Hélène Bouchet und Carsten Jung, wenn sie für „Turangalila“ von John Neumeier proben. Das Foto stammt von Kiran West und steht auch auf der Homepage vom Hamburg Ballett.

Dass Figuren auch ohne Rollenbezeichnung so konkret werden können wie die drei, findet sich auch in „Turangalîla“ – und zwar schon in der Musik. Neumeier erzählt, dass Olivier Messiaen zu seinem Werk schrieb, er benutze darin „ein System von rhythmischen Charakteren“, die wie die Figuren eines Schauspiels eingesetzt seien. Da gebe es Aktive und Passive und solche, die ganz still nur beobachten würden. (Offenbar band Messiaen solchermaßen das Publikum zumindest als Aspekt mit ein.)

„Ich sehe Ihr Erstaunen in den Gesichtern“, scherzt der Ballettchef Neumeier und meint: „Ganz ehrlich, ich habe es auch nicht verstanden.“ – Musiker haben zur szenischen Vorstellung wahrscheinlich ein ganz anderes Verhältnis als Choreografen oder Regisseure oder auch als das Tanzpublikum.

Ein weiterer Hinweis von Messiaen gilt dem „Tristan“, und der Mythos und vielleicht auch Richard Wagners gleichnamige Oper über „Tristan und Isolde“ haben Messiaen lebenslang tief beeindruckt.

Neumeier hört allerdings eher Anklänge an Wagners Oper „Parzifal“ in Turangalîla – und ich, wenn ich das sagen darf, entdecke in Messiaens Werk zwar leichte „Tristan“-Schwingungen, finde aber vor allem Fast-Zitate aus dem „Ring“. Nun ist Messiaens Musik so einfach nicht zu fassen, das zeigt schon dieser kleine Diskurs, und man muss vermutlich die ganze Partitur sehr genau unter die Lupe nehmen, um dann die Spuren, die zu Werken anderer Komponisten führen, sehr vorsichtig auszumachen. Das wäre dann ein Thema für eine Doktorarbeit…

Der 7. Satz von „Turangalîla“ ist aber ein fröhlich-ausgelassenes Stück, und Neumeier hat genau diese Atmosphäre für seine Tänzer in Choreografie umgesetzt.

Besonders ein Szenendetail brennt sich ein: Drei Paare stehen da, die Damen liegen auf den Rücken ihrer Partner, und je nachdem, wie die Herren sich beugen oder aufrichten, verändern auch die Mädchen den Ausdruck ihrer Posen. Das ist nicht Neumeier-typisch, weil in dieser Form sehr neu, dennoch aber auf den ersten Blick Neumeier’sch, vom Stil und Ausdruck her.

Übertroffen wird dieser Ausdruck des Geistes der Liebe noch vom 5. Satz aus „Turangalîla“, der erst jetzt gezeigt wird, da er – zumal ohne den Kontext der Gesamtaufführung – eine Steigerung darstellt.

Turangalila bedeutet göttliches Liebesspiel.

Mathias Oberlin, noch sehr jung, fiel sehr positiv auf – mit geschmeidigen Drehungen in der Arabesque und einer unnachahmlich souverän-glücklichen Haltung! Foto: Kiran West

„Es ist immer eine Freude, wenn eine Musik etwas ganz Anderes aus mir herausholt, als ich dachte“, berichtet Neumeier.

Der 5. Satz nun sei musikalisch so in sich geschlossen, dass Messiaen ihn zeitweise zur alleinigen Aufführung empfehlen wollte. Allerdings zog der Komponist das später zurück, in der Meinung, dass dann die Gesamtintention seines Vorhabens nicht verstanden werde.

„Freude des Sternenblutes“ heißt dieser 5. Satz, und der Titel zeigt, dass Messiaen sich zwar gern poetisch ausdrückte, dabei aber auch rückhaltlos personifizierte. Neumeier hingegen findet noch etwas bemerkenswert: „wie die Tänzer es geliebt haben, dieses im Entstehen begriffene Stück zu tanzen, also einfach drauflos zu tanzen!“ Und: „Das spricht auch für den Geist dieser Musik“, so der Meister, „wenn Tänzer sich vor Freude richtig reinschmeißen, in die Choreografie“. Na, und das spricht auch für die Choreografie!

Dieser 5. Satz klingt aber auch fast nach einer Komposition von Leonard Bernstein, vielleicht ist er eine verkappte Referenz des Komponisten an den Dirigenten der Uraufführung. Jazzig, ja swinging sind da manche Passagen, natürlich durchbrochen von komplizierteren Klangstrukturen, die wiederum typisch für Messiaen sind.

Hohe Sprünge der Jungs, tänzelnde Drehungen, ein Hochspringen auf dem Platz, Sprünge mit einem Passé, bei dem der Fuß ans Knie vom waagerecht gehaltenen Bein angelegt ist – Man fühlt sich an die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ oder auch an „Lieb und Leid und Welt und Traum“ von John Neumeier, das ebenfalls zu Mahler-Musik entstand, erinnert.

Turangalila bedeutet göttliches Liebesspiel.

Bei Facebook kann man auf dem Account vom Hamburg Ballett sehen, wie gut sich John Neumeier auch mti Yuri Grigorovich, dem großen Bolschoi-Doyen des letzten Jahrhunderts, versteht. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Allerdings obsiegt im brandneuen 5. Satz von „Turangalîla“ eine Spritzigkeit und Schnelligkeit, die typisch ist für zeitgenössisches Ballett, und für die in den 70er und 80er Jahren im modernen Ballett nur bedingt Raum war. Das Getragene, Elegische war damals häufig die Essenz, der Kern eines zeitgenössischen Balletts – heute hingegen muss Manches so quirlig und rasant einher kommen, als käme es, bildlich gesprochen, aus dem Mixer.

Mathias Oberlin, der 2013 für die Schule von John Neumeier auch in Lausanne, beim wichtigsten Nachwuchswettbewerb antrat (und ungerechterweise leer ausging), macht hier zudem mit großer Geschmeidigket und souveräner Haltung eine außerordentlich tolle Figur.

Und dann die Damen! Ihr bevorzugtes Ausdrucksmittel hier ist das Grand jeté, der Spagatsprung, und sie legen es zum Glück nicht darauf an, einen unfreiwillig komischen, überdehnten Spagat in der Luft abzuliefern. Sondern, im Gegenteil, sie lassen ihn spitzwinklig, sodass er dynamisch und unendlich vorwärts strebend wirkt. Wunderbar.

Da die Sprünge kontrapunktisch zur Musik gesetzt sind, wirken sie zudem vorwitzig und keck, aber auch selbständig und wie ein Keim eines Blatts, das sich entrollt, ohne nach dem Stand der Sonne zu fragen.

Man kommt beim Anblick der im Trio springenden Damen auf solche synästhetischen Vorstellungen.

Auch der „Vogelsprung“, den die Jungs hier vollführen, verliert bei dieser Musik und in der Inszenierung dieses 5. Satzes seine aggressive Angespanntheit und gewinnt eine coole Lockerheit, die im Werk von John Neumeier tatsächlich noch eine Novität darstellt.

Man könnte sagen: Die Vögel verlieren ihre Angst und lernen das Glücklichsein.

Eine tolle Arbeit, und wer sie gesehen hat, kann es kaum erwarten, das ganze Stück zu sehen!

John Lennon hatte wohl Unrecht, als er auf dem „Weißen Album“ sang: „Happiness is a warm gun“ – da muss es noch was ganz Anderes geben als die pure (sexuelle) Befriedigung, die im Popsong gemeint ist.

Weil Glück aber ohne Liebe nicht denkbar ist, wird das letzte Kapitel dieser „Ballett-Werkstatt“ der Entwicklung von Liebe, also wie Liebe entsteht, gewidmet. Als Beispiel für einen Verliebtheits-Paartanz zu klassisch-romantischer Musik, nämlich zu der von Frédéric Chopin, wird kein geringeres Stück als der „Spiegel-Pas-de-deux“ aus der „Kameliendame“ gegeben.

Turangalila bedeutet göttliches Liebesspiel.

Sie ist die moderne „Kameliendame“: sehr melancholisch, manchmal lieber kantig als zu smart, sehr selbstbewusst und doch auch sehr feinfühlig: Anna Laudere vom Hamburg Ballett. Das Bild entstammt dem „Jahrbuch 2012“ und ist von Holger Badekow.

Anna Laudere und Edvin Revazov tanzen dankenswerterweise diese Weltballettszene. La Laudere ist in meinen Augen ja die modernste Besetzung dieses Stücks: Sie könnte direkt aus einer der überkandidelten heutigen Metropolen stammen und den Rüschenrock nur noch aus Nostalgie tragen.

Sie läuft herein, wie gehetzt, sie bleibt erst rechts außen, vorn an der Rampe, stehen. Sie atmet schwer, sie hustet stumm, die „Kameliendame“ ist ja schwer lungenkrank, sie ist sogar todkrank, und Anna Laudere schafft es, mit diesen Atmern und Hustern im Grunde die ganze Krankheitsgeschichte dieser Frau zu erzählen.

Anna nimmt sich hier mehr Zeit als andere Ballerinen, um die dargestellte Marguerite zur Ruhe kommen zu lassen. Es sind vor Spannung aufgeladene Sekunden, man hat den Eindruck, die dort stehende Tänzerin könnte auch gleich tot umfallen, so ernst ist ihre Situation.

Dann fängt sie sich und geht langsam zum Spiegel im Hintergrund, beginnt beim Anblick des zurück geworfenen Bildes von sich zu zittern und legt, sich dem Publikum wieder von vorne zeigend, die Hände vors Gesicht. Das Leben, das Nochleben, das Überleben von Tag zu Tag ist ihr ein Graus geworden – und das Leiden an Einsamkeit und die Angst vor dem Alter, auch vor dem Tod, liegen in diesen Bewegungen.

Auf ihrer Recamière angekommen, biegt sich die Kameliendame wie im Aufbegehren gegen ihr Schicksal – Anna Laudere tanzt das so heutig, als sei sie eine zeitgenössische Patientin mit einer seltenen, tödlichen Erkrankung, die die berühmte Frage stellt: „Warum ich?“

Sie legt ihren Kopf dann nicht erschöpft auf die aufgestützte linke Hand, sondern voller Sorgen, voll Bitternis. Die Depression ist ja stets die Begleiterin schwerer Erkrankungen und großer Schmerzen. Als dann Armand kommt und ihre müde herabhängende rechte Hand berührt, zuckt sie zusammen und will ihn zurückweisen. Aber da kommt schon der nächste stumme Hustenanfall…

Und dann wird aus diesem Wrack von Frau eine verliebt-beseelte Königin des Abends…

Das zeigt der folgende Pas de deux. Armand (Edvin Revazov) wirft sich der Angebeteten stürmisch zu Boden – stürmisch, aber auch sehr bewusst, fast kalkuliert, denn er weiß um die Stärke dieser Geste und will seine Dame von sich und seiner Leidenschaft damit überzeugen.

Andere „Kameliendamen“-Darstellerinnen lachen hier über ihn, aber Anna Laudere ist vor allem verwirrt. Sie knüpft so unterschwellig schon ein Band zu ihm, denn sie kann sich seiner ungeschminkten Offenheit nicht entziehen, auch nicht durch spöttische oder auch verlegene Lacher.

Turangalila bedeutet göttliches Liebesspiel.

Anna Laudere als „Kameliendame“. Das Foto ist eine Portraitstudie von Holger Badekow und stammt aus dem „Jahrbuch 2012“ vom Hamburg Ballett.

Ihr späteres Solo innerhalb des Paartanzes ist wie ein Selbstgespräch. Sie will sich klar machen, dass so eine Liebe vielleicht unsinnig wäre und sie eigentlich von ganz anderen Dingen träumte. Armand verharrt derweil am Boden, den Kopf mit dem Gesicht zum Boden. Er zeigt Unterwürfigkeit. Aber er hört ihr auch zu. Und er begreift, dass in ihrer Einsamkeit inmitten ihres turbulenten gesellschaftlichen Lebens seine Chance liegt.

Wenn er sie dann in die Arme nimmt, sie zu sich heran zieht, versucht sie zu widerstehen. Aber wenn er um sie herumläuft und mit rund gemachtem Rücken wieder und wieder darauf beharrt, sie lieben zu dürfen, bleibt sie stehen und sieht ihn an. Vielleicht ist es dieser Moment, vielleicht ein anderer, in dem er ihre Aufmerksamkeit bereits so stark hat, dass man von Verliebtheit sprechen kann.

Spätestens bei der ersten Hebung hat er dann gewonnen. Sie überlässt sich dem Flow der gemeinsamen Gefühle – und sie hofft, dass dieser Junge sie glücklich machen wird. Wie die beiden während ihres Pas de deux den Blick halten, trotz komplizierter Drehungen, Hebungen, Verwicklungen, ist an sich schon eine großartige Kunst!

Am Ende zeigt sie ihm ihr krankes Herz, und er reagiert mit stürmischen Küssen auf ihren Hals. Sie kann nicht anders – sie muss ihre Blume vom Dekolleté pflücken und ihm ans Revers heften (weil die Tänzer Probenkleidung tragen, ist das Blümchen aus Luft, aber dennoch für alle gut sichtbar).

Vor Freude wie trunken gehen beide ab, getrennt, aber im Geist bereits vereint. Und: Sie haben jetzt ein Date!

Natürlich ist das Publikum begeistert.

John Neumeier erläutert zudem den Sinn dieser Szene in dieser Ballett-Werkstatt: „Da sieht man fast in Echtzeit, wie eine Liebe entsteht.“

In „Turangalîla“ spielt das nun eben auch eine Rolle. Aber das Stück ist so viel anders, auch die Zeit, in der es entsteht, ist anders. 2016 ist nicht 1978. Aber immer sind die Tänzer, die mit kreieren, besonders wichtig. Das sind hier Hélène Bouchet und Carsten Jung. Neumeier: „Nur durch die Arbeit mit meinen Tänzern war es mir möglich, auch Liebe ins Bild zu setzen: wie in ein modernes Bild.“

Da ist mitunter das Private doch auch wichtig, denn sowohl Anna und Edvin als auch Hélène und Carsten sind privat liiert.

Aber: „Turangalîla“ hat eine ganz andere Körpersprache als die „Kameliendame“!

Turangalila bedeutet göttliches Liebesspiel.

Das hier ist aber kein Picasso, sondern ein Foto von Holger Badekow. Es zeigt Hélène Bouchet auf einer „Tatjana“-Probe und es entstammt dem „Jahrbuch 2014“ vom Hamburg Ballett.

„Das ist wie auf einem Bild von Picasso“, sagt Neumeier (und die „Kameliendame“ wäre danach ein Caspar David Friedrich). Zurück zu Picasso: „Man sieht und erkennt zwar die Struktur des Gesichts einer Frau, aber es ist ganz anders organisiert, als man es kennt.“ Nämlich: „Da ist die Nase im Profil zu sehen, obwohl das Auge von vorn gezeigt wird.“ – Diese Schrägheiten, als habe man verschiedene Perspektiven zusammen geschnitten, sind in der Tat ein wichtiges Kennzeichen der Moderne.

Das gilt auch für Neumeiers jüngere Ballette! Schon die „Tatjana“ scheint keine objektive Perspektive zu haben, sondern erzählt die Szenen jeweils aus der Sicht einer der handelnden Personen.

Auch in „Turangalîla“ geht der hochkarätige Choreograf vor.

Der Pas de deux, den Hélène Bouchet und Carsten Jung nun zeigen, zitiert allerdings zu Beginn das Aufeinanderzustreben ein anderes Paar, nämlich den „Weißen Pas de deux“ der „Kameliendame“. Für einen kleinen Moment, in dem beide Partner aus gegenüber liegenden Kulisssen aufeinander zukommen.

„Denken Sie, dass Sie in einer modernen Kunstgalerie sind!“, gibt Neumeier uns als Rezeptionstip mit. Denn nur zu Beginn ist dieser moderne Paartanz noch einfach und „realistisch“ nachzuvollziehen, in Folge, nach den ersten Takten, hat man den Eindruck, sich mit den Tänzern in einer Traumsphäre zu befinden.

Da hebt Jung das linke Bein zu einer „Waage“, während Hélène längs auf seinem Oberkörper liegt.

Da stampft sie mit ihrem Spitzenschuh kurz und heftig auf, während er mit ihr eine Drehung vorbereitet.

Da funken die Trompeten aus der Musik dazwischen, sie ziehen alle Aufmerksamkeit auf sich – da packt er sie am Nacken und dreht sie solchermaßen, sich selbst auch um die eigene Achse.

Turangalila bedeutet göttliches Liebesspiel.

Und noch einmal ein Blick auf Hélène Bouchet und Carsten Jung, wenn sie für „Turangalila“ von John Neumeier proben. Das Foto stammt immer noch von Kiran West und steht auf der Homepage vom Hamburg Ballett.

Es sind wirklich originäre Neuschöpfungen von Pas-de-deux-Elementen, die man hier zu sehen bekommt. Sie sind der inhaltlichen Entwicklung einer Verliebtheit, die sich offenbar aus Freundschaft oder kollegialer Nähe entwickelt, passend nachempfunden.

Am Ende des neuen Paartanzes herrscht Stille. Hélène Bouchet tanzt aber dazu ein Solo (die „Kameliendame“ tanzte ein solches vor dem Pas de deux mit der Recamière). Sie tanzt ganz einfach, auf dem Platz, biegt sich sachte nach vorn, zur Seite nach hinten, ihre Arme vollführen ganz sanfte, sehr anmutige Bewegungen. Oh ja, diese junge Frau ist verliebt! Wir sehen es – sie selbst, sie weiß es vielleicht noch gar nicht.

Wie tief die Liebe in „Turangalîla“ gehen wird, würde man jetzt natürlich gern wissen. Wir werden es erfahren. Versprochen.
Gisela Sonnenburg

Uraufführung von „Turangalîla“: am 3. Juli 2016

www.hamburg-ballett.de

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