Der gute Geschmack und der moderne Genuss „Tatjana“ von John Neumeier ist live und als DVD / Blu-Ray stets ein Abenteuer: mit Kostümen, Licht und Bühnenbildern von Meisterhand

"Tatjana" ist das kostümreichste Ballett von John Neumeier.

„Tatjana“ ist das kostümreichste Ballett von John Neumeier – mit einer von ihm selbst kreierten Vielfalt, die die Jahrhunderte und auch die Stimmungen des Librettos durchzieht. Foto vom Hamburg Ballett: Holger Badekow

Es sind diese gedankenvollen Stimmungen und Situationen, die John Neumeier als „Gesamtkunstwerker“ so fantastisch übermitteln kann. Wenn er nicht nur für die Choreografie, sondern auch für das Licht und die Ausstattung verantwortlich zeichnet – und das ist bei einigen seiner Ballette der Fall – dann zeigt sich, dass Neumeier mit großem Lernerfolg auch Malerei studiert hat, bevor er als junger Mensch endgültig zum Tanz kam. Die Farben und Formen, die er da in seiner Vorstellungskraft zu einer Einheit verwebt, ergänzen und unterstützen die Choreografie, stehen aber auch für sich, mit eigenständigen Ästhetiken. So in „Tatjana“: Da ist das mit einer edlen, gelb gemusterten Tapete ausstaffierte Schlafzimmer von Eugen Onegin. Da ist dieses blaue Licht, das manchmal alles zu durchdringen scheint. Als sei es eine „blaue Stunde“ für die Ewigkeit.

„Tatjana“, John Neumeiers abendfüllendes Ballett von 2014, das von Alexander Puschkins Versroman „Eugen Onegin“ inspiriert ist und das er in allen Details selbst kreierte, vereint in sich so viele modisch-künstlerische Aspekte, das es, wäre da nicht die grandios-tiefsinnige Choreografie, auch als Designerwerk Bestand haben könnte.

Anfang und Ende des Balletts sind bestimmt von dem blauen Schimmer, der von einem Gazevorhang noch diffuser und „streulichtiger“ gemacht wird. Dazwischen liegt ein russisches Frauenleben: gezeigt nicht etwa von Anfang bis Ende, sondern vom Erwachsen der weiblichen Liebesfähigkeit bis zur Beendigung der Beziehung zu dem Mann, der ihre Liebe weckte.

Eine wirklich gelebte oder gar intensiv-kontinuierlich geführte Beziehung war es indes nie, die diese Tatjana mit ihrem Eugen Onegin verbindet – aber die Liebe zwischen beiden ist, wiewohl schwierig und hoch kompliziert, so stark, wie Liebe nur sein kann.

"Tatjana" ist das kostümreichste Ballett von John Neumeier.

Zaretzky ist zu zweit: Marc Jubete und Sasha Riva tanzen mit ausladend großen Schritten und geraden, weiten und rechtwinkligen Armbewegungen diese Partien – faszinierend! Videostill von der DVD „Tatjana“ von John Neumeier, erschienen bei C Major Entertainment: Gisela Sonnenburg

Bebildert ist diese seltsame und gerade darum so moderne Non-Love-Story von einem fast chaotischen, dennoch sinnvoll gegliederten Streifzug durch die Jahrhunderte: vom depressiv-feierlichen zaristischen 19. Jahrhundert über die hoffnungsfrohe Anfangsära der Sowjetunion bis in unsere Gegenwart mit Jeans und Karohemd (die vor allem der junge Komponist Lensky trägt, der damit zeigt, dass er ein fortschrittlicher, kreativer Künstler und kein verschmockter Musikhistoriker ist).

Weitere Einlagen sind fantasievoll frei kreiert, wie die Vorstellung-in-der-Vorstellung von „Kleopatra“. Das Theater-im-Theater-Element ist ja ein beliebter Baustein in Neumeiers Ballettkunst, und tatsächlich hat er nie ein Ballett „Kleopatra“ gemacht, hatte es aber sehr wohl mal geplant, bevor er dann stattdessen 1978 „Die Kameliendame“ schuf. Xue Lin tanzt – live wie auf der DVD – mit koketter Grazie ganz liebreizend die Kleopatra, die eine der sinnlichen Liebe ganz und gar verfallene Monarchin ist: im goldblauen Outfit, ägyptisch ohne Zweifel, dennoch so chic und cher anmutend wie eine maßgeschneiderte Ausgehrobe.

Die Kostümvielfalt ist in „Tatjana“ jedenfalls enorm – höher als in jedem anderen Neumeier-Ballett – und reicht von den besagten Jeans zum Oberhemd über Unterrock und Nachthemd bis hin zu großartig ausgeschmückten Abendkleidern und „Lametta“-behängten Gala-Uniformen.

Da sind aber auch die hauchzarten, feinen, schwingenden Jungmädchenkleider mit Blümchenmuster in der A-Linie; da sind die kostbaren, eleganten Ballroben mit Glanz und Gloria; und da sind auch die bäuerlichen Kopftücher und weiten Röcke der Bäuerinnen, die Neumeier auf der Grundlage von historischen Fotos entwarf.

Jetzt erschien die entsprechende DVD / Blu-Ray, auf der man auch das ausgiebig studieren kann: mit einer sorgfältigen Aufnahme von Thomas Grimm sowie auch mit sehenswertem Bonus-Material von Reiner E. Moritz.

Darin sitzt dann der rund 200-fach ausgezeichnete, geehrte und preisgekrönte Choreograf Neumeier, der mit Abstand der bedeutendste unserer Zeit ist, auf der weißen Parkbank. Sie ist Teil seines Bühnenbildes. Aber wenn Neumeier darauf sitzt, locker ein Bein über das andere geschlagen, im weißen Hemd mit Stehkragen zum taubenblauen Anzug, um seine Absichten mit der Verfilmung von „Tatjana“ zu erklären, dann hat diese Szene etwas von einem weiteren neuen Kunstwerk. Thema: der Schöpfer und sein Werk im Fokus digitaler Verbreitung.

Neumeiers rechte Hand geht hoch, zart, aber bestimmt – und er erklärt die Beziehung von seiner Bühnenfigur Tatjana zu ihren Plüschtieren. Sie tanzt nämlich, als junges, aber bereits bewusst denkendes Mädchen, gern mit einem großen Teddybären, was aber keine Infantilität ist, sondern der Ausdruck ihres Wunsches nach einem Seelenverwandten.

"Tatjana" ist das kostümreichste Ballett von John Neumeier.

Briefe können fast töten, auch wenn junge Menschen das oft nicht glauben wollen – so auch in „Tatjana“ von John Neumeier. Hier Edvin Revazov als Eugen Onegin, eindringlich kummervoll mit einem Brief… Videostill von der bei C Major Entertainment erschienenen DVD „Tatiana“: Gisela Sonnenburg

Die Aufnahme kann, wenn man zurückspult und den Film neu laufen lässt, wieder und wieder belegen, wie eng hier die Figurenzeichnung mit der Choreografie einerseits, aber auch mit den Details von Bühnenbild und Kostümen einher gehen.

Wenn sie im weißen Nachthemd zu Anfang aus einer dunklen Männerkutte kriecht, so ist das die Geburt des weiblichen Wesens; das Kind Tatjana wird erwachsen, spürt die Wirkung der Hormone, rollt als werdende Liebende ans Publikum heran.

Wenn Tatjana später ein lindgrünes, hemdchenartiges Kleid trägt, wird somit ihre Jugend, ihre Unerfahrenheit, vermischt mit ihrer Hoffnung sichtbar.

Und wenn sie später eine weiße, hoch elegant mit Pailletten besetzte Ballrobe trägt und dazu ein goldenes Collier am Hals, ist klar, wie sehr sie sich seit Stückbeginn entwickelt hat: aus dem jungen, unsicheren Ding – früher sagte man: „nicht Fisch, nicht Fleisch“ – wurde eine souveräne, sehr feminine Frau.

Hélène Bouchet, die ursprüngliche Tänzerin der Tatjana, die auch auf der DVD diese Partie inne hat, erklärt, dass Neumeier seine Ballette aber immer mit echten Emotionen kombiniere: „Er lässt dich du selbst sein.“

Man könne sich, sagt sie, mit dieser Arbeit jeden Tag neu entdecken.

Und Bouchet weiter über Neumeiers Tatjana: „Der stärkste Moment ist, wenn sie realisiert, dass alles, wovon sie geträumt hat, was sie sich gewünscht hat, in sich zusammen bricht. Damit hat sie nicht gerechnet.“

Es ist eine Herausforderung, das zu tanzen – und die komplizierten Abläufe in der Seele einer jungen, durch Schmerzen reifenden Frau so stark sichtbar zu machen, wie es in der Tanzkunst nun mal notwendig ist.

Edvin Revazov, der den Eugen Onegin tanzt (in der Premierenbesetzung in der Hamburgischen Staatsoper und auch auf der DVD), strahlt rollengemäß jene tief- und untergründige Arroganz aus, die nicht wenige Arrivierte der Gesellschaft wie eine zweite Natur angenommen haben. Revazovs Onegin ist zwar ein Suchender, aber er sucht vor allem sich selbst – und nicht etwa sein Heil in einer Sache, durch die er sich anderen mitteilen, anderen etwas geben könnte.

ONEGIN IST EIN NARZISS, TATJANA EINE LIEBENDE

Onegin ist dem Narzissmus verfallen, so sehr, dass ihn die Liebe der jungen Tatjana nicht wirklich erreichen kann.

Revazov tanzt das großartig, ist mit jeder Geste und jedem Schmunzeln über die Flausen der jungen Dame vor ihm ein ignoranter Macho, ohne dieses selbst zu bemerken.

Wie sehr er Tatjana kränkt, entgeht ihm ebenfalls. Und er verletzt sie enorm, weil er mit ihr spielt, ohne ihr eine reelle Chance zu geben.

„Das Bild des Bären als das schützende Element in ihrem Leben“, so sagt dann John Neumeier über Tatjana,„entwickelt sich nach der schrecklichen Enttäuschung mit Onegin.“

Denn Tatjana träumt, nachdem auf Anhieb klar wird, dass ihre große Liebe zu Onegin zunächst so gar nicht von ihm, dem Zyniker und Dandy, erwidert wird, von einem großen Braunbären, der für sie unübersehbar eine stark erotische Konnotation hat. Mit ihrem Teddybären hat er übrigens nur sehr entfernt Ähnlichkeit…

Auch Schuldgefühle, die Tatjana entwickelt habe, weil Onegin ihren Beinahe-Schwager Lensky im Duell erschoss, spielen laut Neumeier bei der Findung dieser „Bärenszene“ eine Rolle.

"Tatjana" ist das kostümreichste Ballett von John Neumeier.

Auch eine Orientrobe ist dabei, frivol sieht sie aus wie eine asymmetrisch gewickelte, typisch persisch gemusterte Decke. Videostill von der DVD „Tatjana“, erschienen bei C Major Entertainment: Gisela Sonnenburg

Schließich verändert sich der Bär in der Frauenfantasie von Tatjana, er wird ein Mann und gerade nicht Onegin – sondern der Graf N., den sie dann auch bald ehelicht.

Ihr eigenes Leben geht also gerade noch mal gut. Tatjana, wirklich sehr eindringlich und mit immenser Poesie in den Beinen von Hélène Bouchet getanzt, baut sich mit dem Grafen ein Leben auf, das sie nicht bereuen wird.

Aber ihre Schwester Olga (spritzig, flott, hellglücklich: Leslie Heylmann) verliert durch den Streit ihres Verlobten Lensky (sensibel-lyrisch, denoch kraftvoll-männlich: der bildhübsche Alexandr Trusch) mit Tatjanas Onegin ihre Perspektive. Denn Onegin erschießt Lensky im Duell – ein Lebenstrauma, das das Stück in immer wieder memorierten, aber szenisch stark variierenden Schussszenen durchzieht.

Truschs Lensky stirbt dabei stets erst einige Schritte nach dem Schuss – mal mit der Waffe in der Hand, die ihm gerade noch abgenommen werden kann, bevor er sich an die verletzte Brust fasst und fällt, mal, indem ihm seine Notenblätter mit seinen Kompositionen (Herzblut steckt in ihnen!) langsam aus den Fingern fallen. Es ist stets das Gegenteil eines typischen Erschossenentodes: Es ist ein Ableben wie in Zeitlupe.

Bei den Live-Vorstellungen sind diese Schussszenen natürlich noch schockierender als auf der Mattscheibe. Dennoch herrscht im Stück stets eine hohe Spannung vor, so dass man dauernd das Gefühl hat: Es könnte etwas geschehen, das einen Wendepunkt bringt.

Die Kostüme und das Bühnenbild betonen das durch ständigen Wechsel.

Da sind die Roben und Festkleider, aber auch die Uniformen der Herren und das Bäuerinnen-Outfit der jungen Damen.

Zaretzky, eine Art zweigeteilte Schicksalsmacht – eher sogar eine verdoppelte Schicksalsmacht – steht zu all der Buntheit von prächtigen, lebensfrohen Farben mit Tiefschwarz in großem Kontrast. Marc Jubete und Sasha Riva tanzen diesen seltsamen Zwilling, der einerseits an den „Mann mit den Luftballons“ aus Neumeiers Ballett „Liliom“ erinnert, andererseits aber auch den Tod an sich verkörpern könnte. Nicht den Tod, der sich verdrängen und vergessen lässt und der nur kommt, um tatkräftig zuzugreifen und sich Leben zu holen. Sondern jenen Tod, der stets bei uns ist, der in allem ist, wie Rainer Maria Rilke es empfunden hat – und der ab unserer Geburt heimlich die Hauptrolle in unserem Leben spielt, und zwar, ohne dass wir das wissen.

Schwarz ist aber auch die Kluft der Amme von Tatjana, mit komisch-skurrilem, dennoch realistischem Impetus von Niurka Moredo getanzt.

Deren schlichter Bescheidenheit im Äußeren stehen die opulenten Gewänder der Festtagsgesellschaften gegenüber.

Rot und schulterfrei, quecksilbrig und raffiniert als Neckholder gewickelt, schlicht zweigeteilt und bronzefarben – da ist vieles dabei, das ohne weiteres auf den Laufsteg könnte!

"Tatjana" ist das kostümreichste Ballett von John Neumeier.

Auch die Kulissen haben einen ganz bestimmten Stil, vermitteln sowohl Märchenflair als auch Realismus. Videostill von „Tatiana“ aus der gleichnamigen DVD, die bei C Major Entertainment erschien: Gisela Sonnenburg

Der moderne Genuss des Balletts erschließt sich zwar durch die Choreografie und auch die original dafür geschriebene Musik von Lera Auerbach (auf der DVD dirigiert von Simon Hewett, im Theater oftmals von Garrett Keast).

Aber der gute Geschmack von dem Allround-Tanzkünstler John Neumeier kulminiert in den Roben der Damen und Herren, die hier ein für ein Ballett einzigartiges Feuerwerk der Kostümierungen abliefern.

Tatjanas weißes Paillettenkleid, das sie mit dem Goldcollier trägt, ist dennoch das vornehmste von allen. Es ist ein Abendkleid, suggeriert aber zugleich, dass es auch ein Brautkleid sein könnte – mit fast folkloristischem Einschlag.

In einer Alptraumszene wird dann tatsächlich geheiratet: Olga und Lenky schreiten in Tatjanas Fantasie vor den Altar, nach altrussischer Art wird ihnen eine goldene Doppelkrone über die Köpfe gehalten.

Tatjana fühlt sich schuldig, weil diese Fantasie wegen „ihrem“ Onegin nicht Realität wurde. Wie Neumeier es im Bonus-Material der DVD erläutert: Sie erträumt sich daraufhin eine andere erotische Kraft als die von Eugen Onegin – und der bodenlange, dabei die Schultern betonende und ausladende Bärenpelz, in dem der in der Tat „bärenstarke“ Carsten Jung dann die Szene entert, ist nachgerade ein Höhepunkt in der Kostümgeschichte des Balletts.

Braun und kuschelig, wild und potent wirkt der Mann darin. Er kommt – als personifizierter Sexualtrieb – durch das Fenster zu Tatjana.

"Tatjana" ist das kostümreichste Ballett von John Neumeier.

In einer grünen Samtrobe, edel und dunkel wie Tatjanas Gemüt, schreitet sie an Eugen Onegin vorbei, nimmt dabei, ohne stehen zu bleiben, seinen Brief entgegen. Videostill von der DVD „Tatiana“, die bei C Major Entertainment erschien: Gisela Sonnenburg

Aber alsbald freunden die beiden sich an, und dann trägt sie seinen Pelz, locker um die Schultern gelegt, als handle es sich nur um eine Stola. Die Frau im Pelz ist ja spätestens seit der Novelle „Venus im Pelz“ von Leopold von Sacher-Masoch (1870) ein stehender Begriff: als Symbol für die Schambehaarung und die unberechenbare Verlockungskraft der femininen Sexualität.

Tatjana sieht sich hier, in diesem Traum, vollends als Weib.

Dieses Gefühl gibt ihr wohl die Kraft, sich von dem sie frustrierenden Onegin zu lösen und eine neue Bindung einzugehen.

Aber dann! Eugen Onegin taucht auf einem Ball auf, den ihr Mann gibt – und Tatjana gerät mächtig in Wallung. Edvin Revazov als Eugen mit munter-gewagtem Blümchenjackett zur Halsbinde oder auch im hautfarbenen Existenzialistenpulli vermag sie nun mal so anzusehen wie kein anderer Mann.

Dass er sich dieses Mal in sie verliebt, da sie eine gefeierte Schönheit wurde (während er sie als junges Mädchen vom Lande verschmähte), ist szenisch nicht zuletzt dem gelungenen Festauftritt Tatjanas zu verdanken.

Es funkt, als die zwei aufeinander treffen – und dass Tatjanas Ehemann in festlich-grauer Uniform dabei ist, erhöht nur die Pikanterie der Szene.

Eugen Onegin (der in einer anderen Besetzung von Carsten Jung getanzt wird) trägt hier einen grauen Anzug und eine Reisetasche in der Hand – kein Hemd, kein „ordentliches“ bürgerliches Requisit, sondern er ist ganz ein schräger Bohemien, ein Lebenskünstler, ein Bonvivant.

Es ist natürlich kein Zufall, dass – kurz bevor Onegin auf der Durchreise zufällig Tatjana auf dem Fest trifft – die junge schöne Frau vom Bären gekapert und regelrecht „abgeschleppt“ wurde.

Zum Zeitpunkt des Zusammentreffens der in ihrem Weißkleid glänzenden Tatjana und dem etwas abgerissenen Onegin tanzt sie verliebte mit ihrem Gatten, dem Grafen N. – ihr Blick fällt auf Eugen Onegin, als ihr Mann ihr gerade in Verehrung zu Füßen sank. Über seine Schulter hinweg entdeckt sie ihre erste große Liebe…

"Tatjana" ist das kostümreichste Ballett von John Neumeier.

Alexandr Trusch ist als Komponist Lensky in „Tatiana“ („Tatjana“) von John Neumeier zuständig für die schwärmerisch-verliebte Liebe, die durch ein Duell mit dem Tod des Liebenden jäh ihre Zukunftsperspektive verliert. Videostill von der DVD „Tatiana“; erschienen bei C Major Entertainment: Gisela Sonnenburg

Unterstützt wird der Symbolcharakter dieser Dreiecksszene vom Ensemble. Damen und Herren stehen in festlich-modischer Aufmachung um die Tanzfläche herum wie um ein modern aufgeführtes Tanztheater.

Doch auch jenseits der großen Festszenen hat das Ensemble gut zu tun. Einige Damen – und auch Herren – stehen in elegantem Weiß für die Schneeflocken, die an besonders erotischen Stellen in freier Natur aus dem Schnürboden fallen. Schlichte Eleganz mit einem Schuss Dekadenz im Stil der 20er Jahre verkünden hier die dezente Aufgeregtheit, die auch Erwachsene beim Anblick einer frisch verschneiten Gegend empfinden.

Dass hinter dem Vorhang zu Beginn des Stücks im blauen Licht ein Birkenwald im Schnee zu erkennen ist, steigert nur noch diese letztendlich doch romantische Auffassung von Natur, die Neumeier in „Tatjana“ durch das Bühnenbild äußert.

Als Gegensatz dazu sind die Innenszenen vor allem von Leuchten und Stellwänden geprägt. Große Lüster behängen die Ballszenen; zwei exqusit designte petrolfarbene Hängelampen mit Glasschirmen zeigen die ländliche Innensphäre.

Tapetenwände, Tore, Holzschuppen, Birken – es genügen jeweils Fragmente, um die Szenerie anzudeuten, damit die Fantasie sie weiter ausschmücken kann. Genial gemacht!

Eine Drehbühne im linken Bühnenbereich besteht aus drei Teilen: aus Eugen Onegins Schlafzimmer (mit den gelb-gemusterten Tapeten); aus Tatjanas Fenster mit petrolfarbenen Samtvorhängen (auf dessen Fensterbank sie, auch am Ende, glücklich-selbstverloren träumt und sinniert); aus einer leeren Ecke, die die beiden Fenster zu Eugen und Tatjana von außen zeigt. Ganz so, als seien sie Nachbarn in einer idealen Welt der Charaktere, und ganz so, als sei nur ein Winken aus dem Fenster notwendig, um die große, die ganz große Liebe zu erfahren. Das ist diejenige, die sonst nie klappt! Und es ist das eine Bühnenbild, das diesen Interpretationsansatz überhaupt ermöglicht.

"Tatjana" ist das kostümreichste Ballett von John Neumeier.

Am Ende träumt Tatjana (die wundervolle Hélène Bouchet) von einem Ideal der Liebe, das Eugen Onegin in ihr geweckt hat, ohne es selbst erfüllen zu können… Foto: Holger Badekow

Onegin? Tatjana? – Zu spät. Sie sind ausgegangen, alle beide, und als er ganz am Ende des Stücks endlich den Mut hat, zu ihr zu kommen, da küsst sie ihn zwar und tanzt mit ihm den Zweikampf ihres Lebens – erst ganz zart, dann ziemlich hart – aber sie verlässt ihn nach dem einen, dem einzigen lüsternen Kuss: ganz so, als wäre Eugen Onegin, der reale Mann, in der Realität nicht ganz so interessant wie in Tatjanas Träumen von ihm.

Und während er an ihrer Lieblosigkeit zerbricht und wie ein von den Furien Gejagter davon strebt, nimmt sie gelassen auf ihrer Fensterbank Platz und staunt die Sterne an, die oben – so hoch oben, dass man sie noch nicht mal sehen kann – Millionen und Abermillionen von Lebens- und Liebesschicksalen pro Sekundenbruchteil planen…
Gisela Sonnenburg

Weitere Beiträge zu „Tatjana“ hier im ballett-journal.de

Termine: siehe „Spielplan“

www.hamburgballett.de

Die DVD / Blu-Ray „Tatiana“ erschien – in der englischen Titelschreibweise, aber, wie für solche DVDs üblich, selbstverständlich mehrsprachig, bei C Major Entertainment, Berlin, 2016. Der Aufführungsmitschnitt von 2014 dauert 135 Minuten, das Bonus-Material mit den Interviews, auf einer zweiten DVD im selben Album, 34 Minuten. Für Neumeier-Fans ist das ein absolutes must have – und auch wegen der allgemeinen Geschmacksbildung unbedingt anzuempfehlen!

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