Das Tanzen will erlernt sein! Die Ballettschule des Hamburg Ballett – die sich aktuell genau so nennt (und nicht etwa „Ballettschule John Neumeier“, was aber auch schön wäre) – steht für sorgfältig ausgewählte Pädagogen, die insgesamt ein breites Spektrum der Tanzkünste abdecken. Prägend ist dabei natürlich der choreografische Stil des Hausherrn Neumeier – und wenn die Schule sich alle zwei Jahre im großen Haus der Hamburgischen Staatsoper unter dem Motto „Erste Schritte“ vorstellt, so ist dieses stets ein Fest aus Brillanz und Tanzfreude.
Das Programm von 2016 beginnt mit dem ausgeklügelten Stück „Wir danken!“ zu schmissiger C-Dur-Sinfonie-Musik von Georges Bizet. Kevin Haigen, ohnehin einer der weltweit bedeutendsten Ballettpädagogen seiner Generation, hat hier mal wieder ein Sahnestück für junge und ganz junge Ballerinen und Ballerini geschmiedet. Es ist sozusagen seine Spezialität – er hat dabei eine eigene Strategie entwickelt – verschiedene Szenen unterschiedlicher choreografischer Herkunft aneinanderzureihen und sie mit hochgradiger Anmut und pointiertem Rhythmusgefühl zu verbinden und zu überformen. Nicht umsonst ist Haigen seit 2011 auch Künstlerisch-Pädagogischer Leiter des Bundesjugendballetts sowie schon seit 2006 Erster Ballettmeister von John Neumeier – und somit dessen rechte Hand im Ballettsaal.
Wenn Kevin Haigen choreografiert, so tut er dieses allerdings nicht, wie etwa Neumeier, aus dem Schaffensdrang heraus, subjektiven Ausdruck zu finden, sondern (so sagte er es mir mal selbst) er tut es, um den Tänzerinnen und Tänzern Möglichkeiten zu geben, sich auszuprobieren und weiter zu entwickeln.
Dieser nicht kunst- und sach-, sondern personen- und tänzerbezogene Ansatz hat den großen Vorteil, dass die spezifische Energie der jeweiligen tänzerischen Interpreten vollauf mit in die Choreografie eingebunden werden kann.
Unterstützt wurde Haigen im Fall von „Wir danken!“ durch fleißige und auch begabte choreografische Arbeit von seinen KollegInnen Gigi Hyatt (die zugleich seine Vorgesetzte an der Schule ist), Carolina Borrajo, Ann Drower, Leslie Hughes, Janusz Mazon, Christian Schön und Anna Urban (geborene Polikarpova – unter diesem Namen kennen viele die schöne Lichtgestalt, die bis 2013 als Hamburger Primaballerina reüssierte).
Zu Beginn steht ein kleines Mädchen im hellblauen Trikot mit dem Rücken zum Publikum in einem Lichtkreis. Um diese helle Insel herum ist die Bühne tiefblau angestrahlt – Neumeier betonte später, dass das Technikteam der Staatsoper bei der Inszenierung dieses Abends ganze Arbeit geleistet hatte und die Sache ebenso ernst nahm wie eine Premiere mit erwachsenen Darstellern.
Das Mädchen jedenfalls dreht sich um, geht einige Schritte auf uns zu macht einen höflichen, aber würdevollen Knicks.
Damit ist der Auftakt da, das Thema des Balletts ist bereits in ein signalhaftes Zeichen, den Knicks, umgesetzt: Es geht um den Dank der Tanzschüler an ihre Zuschauer und Lehrer, aber auch um den Dank der Künstler an ihr Publikum, an ihre Musen, an ihre Geldgeber, vielleicht sogar an ihre Kritiker.
Jedenfalls flattern weitere Ballettschülerinnen herbei, etwas ältere, und sie formieren zur satt-pompös, dennoch temperamentvoll schimmernden Musik Bizets wechselnde Reihen, die mit geradlinigen Tanzbewegungen ausgefüllt sind.
Der Stil von George Balanchine, der auch Kevin Haigen prägte, ist hier besonders fein aufgenommen und „verlängert“ worden. Die Tradition von Balanchine wird so zugleich bewahrt und weiter entwickelt.
Wenn sieben fesche Jungs die Bühne entern, absolvieren sie ein Programm aus munteren kleinen und großen Sprüngen, meist aus dem Stand heraus. Manche Mädchen glänzen hingegen mit edlen Arabesken und zielstrebigem Lauf. Auch Piqué-Pirouetten meistern sie so leichtfüßig, als seien sie bereits perfekte kleine Künstlerinnen.
Sogar ein akkurat-passioniertes Grand pas de chat aus dem Stand heraus ist für diese feinen jungen Damen kein Problem!
Weiter geht es mit Spagatsprüngen und Paartänzen – ein Adagio-Pas-de-deux bildet dabei einen unübersehbaren, atemberaubend schönen Höhepunkt.
Schließlich stehen acht Paare auf der Bühne, die Damen in Dunkelrot, die Herren in klassischem Schwarzweiß – und berücken mit technischen Finessen, ohne den Ausdruck der Eleganz und Treue vermissen zu lassen.
Dass die fast erwachsenen Jungs ihre Tours en l’air nachgerade hinzaubern (synchron!) und die Mädchen die Pas de bourrés in Spitzenschuhen „durchschweben“, steigert da nur den Genuss.
Die schwierigen Fouetté-Drehungen an der Hand des Partners meistern die jungen Damen denn auch ohne Stottern oder Zagen.
Bis zur ersten Hebung ist es nicht mehr weit – voilà! Federleicht scheinen die Mädchen zu sein; es ist erstaunlich, wie gut schon so junge Buben die Tänzerinnen zu partnern wissen.
Mal sind es dann 18 Jungs, mal 14 Mädchen und 7 Jungs, die in wechselnden Kombinationen der Lust an der Klassik frönen.
Die Mädchen haben die Dutts auf halber Höhe am Hinterkopf festgesteckt, auch die in dunkelblauen Trikots. Es ergibt sich also, die verschiedenen Farben und Körpergrößen betreffend – hier tanzen alle Ausbildungs- und Theaterklassen zusammen – eine heterogene Gruppe junger Menschen, die, gerade weil sie sich nicht ähneln wie ein Ei dem anderen, unwiderstehlich positiv und solidarisch wirken.
Der Zusammenhalt auf der Bühne muss ja da sein, sonst funktioniert so ein Corps überhaupt nicht! Und die Schülerinnen und Schüler, die Studentinnen und Studenten in Hamburg zeigen, dass sie das ebenso drauf haben wie fleißig an der eigenen Technik zu feilen.
Am Ende bildet sich aus einer Reihe von Tanzenden ein Knäuel, eine Rosette, aus deren Mitte das kleine Mädchen vom Anfang empor gehoben wird. Die Musik von Bizet spiegelt eine solche Bewegung mit einem mächtigen Tusch: Bravo!
Nach diesem gelungenen Auftakt kommt John Neumeier auf die Bühne und moderiert die kommenden Stücke der Gala im voraus. „Da sieht man, was der Aufbau dieser Schule gebracht hat“, schwärmt der alerte Meisterchoreograf, der die Ballettschule 1978 ins Leben rief. Dass er an dieser Stelle ganz allgemein allen Geldgebern dankt, hat seinen Grund: „Sonst könnte sich die Schule hier so nicht präsentieren.“ Zumal ein großer Teil der hoch Begabten aus dem Ausland angelockt werden muss, unter anderem von Stipendien mit nicht ganz geringen Zahlungen.
Als Highlight der „Ersten Schritte“ 2016 ist das Jugendballett „Yondering“ von John Neumeier zu erwarten, welches er vor zwanzig Jahren für die Ballettschule des Kanadischen Nationalballetts in Toronto kreierte. Ganz neu wurden jetzt die Kostüme angefertigt, freilich nach den bewährten Entwürfen, die mit Hosenträgern für die Jungs und hellen Kleidchen für die Mädchen mittlerweile Kultcharakter haben. Wie übrigens das ganze Ballett „Yondering“ (dessen Titel sich von „yonder“ für „drüben, auf der anderen Seite“ ableitet): Es ist wahrscheinlich das absolut beste Ballett überhaupt für Minderjährige, vielleicht zusammen mit den „Jubiläumstänzen“ von Kevin Haigen.
Im Juli, während der Ballett-Tage, wird „Yondering“ bei der Wiederholung der „Ersten Schritte“ von sechs verschiedenen Ballettschulen interpretiert, zur Feier des Stücks, wegen seines 21. Geburtstags, darunter ist natürlich die Schule aus Toronto, die es einst als Auftragswerk bei John Neumeier bestellt hat.
Doch zunächst zeigen Schüler der Theaterklasse VII aus Hamburg den „Exodus“ von Stacey Denham aus New York. Sie ist schon seit längerem in Hamburg Gastlehrerin, unter anderem lehrt sie die moderne Horton-Tanztechnik, und sie hat auch als Choreografin schon einige Meriten. Ihr Stil ist flippig, aber nicht chaotisch, und stets gibt sie der Persönlichkeit der Tanzenden eigenen Spielraum. Ihr „Exodus“ beginnt mit stehenden Tänzersilhouetten vor einem Sunset-Horizont – die Tänzer lassen sich zunächst fallen und stehen wieder auf, fallen hin und stehen wieder auf, solange, bis sich aus dieser Spannung etwas Neues, nämlich der Drang nach aktiver Bewegung entwickelt hat.
Und dann geht hier die Post ab! In Jogginghosen und Schlabbershirt gurren die Jungs und Mädchen durcheinander wie die Tauben, allerdings sind es hier Contemporary-Schritte, die zur klassisch-strengen Musik von Ludwig van Beethoven (aus der Sinfonie Nr. 3 in Es-Dur) einen reizvollen scharfen Kontrast darstellen.
Ein Leitmotiv schält sich heraus: Das Sich-mit-den-Händen-auf-das-Brustbein-Trommeln. Wenn dann souliger Gesang einsetzt und der Beethoven so richtig schön passé ist, wirkt auch dieses Hand-auf-Brust-Gemenge zunehmend weniger aggressiv, eher wie eine Lockerungsübung zur Ich-Stärkung. Ganz schön fit!
Fit sind auch die jungen Damen in fließender, blaugrausilbriger Seide, die im „Russischen Tanz – Mädchenträume“ nach Balalaika-Klängen als Corps den Wiegeschritt und leicht geführte, stolze Port de bras (vor allem nach oben) zelebrieren. Man kennt die russische Folklore ja oft als Hau-druff-Lustigkeit, mit wilden Sprüngen und stampfenden Schnellschritten. Hier aber wird das lyrische, empfindsame, weibliche Ich zelebriert, wie Feen wirken die Mädchen! Wunderschön!
Die Gastlehrerin Victoria Zaripova setzt hier die Schülerinen der Ausbildungsklassen II und III in Szene – sie kommt aus Russland und wurde in Perm zur Profi-Ballerina ausgebildet. Schmeichelnde Wohltatsgesten gehören da ebenso zum folkloristischen Tanz wie dynamisch aufstrebende Kopf- und Armneigungen. Wirklich eine Erbauung.
Und dann kommt mal was ganz anderes: Zu moderner Musik kann man nämlich auch klassisch-romantisch tanzen! Das beweist nun „Tirolese“ von Carolina Borrajo und Christian Schön, beide langjährige, dennoch junge Lehrkräfte in der Neumeier-Schule.
Benjamin Brittens „Soirées musicales“ op. 9 bilden den klanglichen Hintergrund, und bis auf den abrupten Schluss der Musik (der die Tänzer ein bisschen um den Applaus bringt) passt hier ein flottes, klassisches Allegro, das wie vom Corps aus „Giselle“ im ersten Akt inspiriert ist, zu den sehr modern barmenden Violinenklagen.
Heiter und fetzig tanzen dazu je zwei Mädchen mit einem Jungen, bis sie je zu dritt in eine neckische Schlusspose gehen: Cancan-Anklänge, aber nur ganz brave, und eine anmutig-frohlockende, sehr wohl aber auch erhabene Volksfeststimmung machen aus diesem Stück ein wahres Juwel.
Und dann… Dann kommt „Yondering“, im Jahr seines 20-jährigen Bestehens einmal mehr ein ganz besonderes Jugendballett. Es entstand in Toronto zu Songs des amerikanischen Komponisten Stephen C. Foster.
Foster hatte ein tragisches Schicksal: Obwohl er, 1826 geboren, zunächst zu den bekanntesten Songwritern in den USA gehörte, starb er mit nur 38 Jahren (1864) völlig verarmt und vereinsamt, ganz so, als habe er nie irgendetwas auf die Reihe bekommen. Es ist schon auffallend, wie wenig die jeweiligen Gesellschaften oftmals diejenigen schützen, die ihnen immateriell am meisten zu geben haben.
Da ist John Neumeier (zusammen mit Erfolgstycoonen wie Pablo Picasso oder Yuri Grigorovich) die große Ausnahme im internationalen Kanon der Künste. Aber Vincent van Gogh (der mit dem abgeschnittenen Ohr), Franz Schubert (der an Hungergeschwüren im Magen starb) und Heinrich von Kleist (der sich und seine Freundin Henriette Vogel wegen definitiver Geldnot umbrachte) waren weder die ersten noch die letzten Kreativen, die von ihrer Mitwelt einfach im Stich gelassen wurden.
Das galt und gilt übrigens auch für viele Journalisten – nicht nur die Nazis haben linke oder unbestechliche Kritiker durch Armut und unberechtigte Verfolgung vernichtet. Und auch aus der Gegenwart kann ich Namen von begabten Journalisten nennen, die durch grobe Ungerechtigkeit aus ihrem Beruf gedrängt wurden, während dank Protektion, Korruption oder andere unsachliche Qualifikationen oftmals die Falschen an den Hebeln sitzen.
Ob Musikwelt oder ein anderer Bereich: Den Salieris gehört die Welt, während die Mozarts oft genug damit beschäftigt sind, überhaupt zu überleben.
Wenn mir dann einer mit dem öden selbstzufriedenen Spruch „Qualität setzt sich durch“ kommt, könnte ich kotzen – und auf all den Schund verweisen, der teuer gehandelt wird, wiewohl er vor allem den guten Leuten die Handelsplätze wegnimmt.
Ein Ballett zu dieser Thematik steht noch aus – vielleicht traut sich in Hamburg ja mal jemand an ein trauriges Künstlerschicksal, Franz Schubert wäre da vielleicht gar nicht mal uninteressant.
„Yondering“ hingegen stammt ja von Foster, aber man könnte ihn glatt als amerikanischen Schubert bezeichnen. Denn die Songform, der er frönte, und die in unseren Ohren so jung klingt, ist ja tatsächlich eine amerikanische Erfindung. Das Populäre, Massenwirksame gehört hier mit zum künstlerischen Credo (damals noch ohne den ballastartigen Anhang der alles bestimmen wollenden Musikindustrie).
„Oh! Susanna“ – dieser Song ist auch heute (dank der Beliebtheit der den Gesang begleitenden Gitarre) sicher einer der bekanntesten Ohrwürmer überhaupt. Und er entstand nicht im 20., sondern im 19. Jahrhundert, aus der Feder von Stephen C. Foster.
Sieben andere seiner Songs bilden das musikalische Gebälk zu „Yondering“.
„Yondering“ wurde, wie Kevin Haigen auch in einem Trailer des National Ballet of Canada ausführt, aber nicht nur von den Melodien von Foster, sondern auch von ihrer Interpretation durch den Bariton Thomas Hampson angeregt. Der Klang seiner Gesangsstimme, natürlich und ausgebildet zugleich, ging Neumeier bei der Kreation gut ins Ohr, in den Körper hinein, und bis heute wird „Yondering“ niemals zu neu interpretierender Live-Musik, sondern stets mit dieser Einspielung, in der Hampson singt, dargeboten.
Das Stück wird übrigens weltweit gezeigt, an den besten professionellen Ballettschulen, in Hamburg natürlich, aber auch in Paris, in Toronto, wo es entstand, in Wien, in – ach, welcher Ballettschuldirektor hätte es nicht gern im Repertoire seiner Schützlinge!
Zur Einstudierung in Hamburg wurde sogar Marianne Kruuse, die ehemalige Leiterin der Schule und einst Neumeiers Primaballerina, reaktiviert. Aber auch Kevin Haigen, Yohan Stegli (Haigens Stellvertreter und Ballettmeister beim Bundesjugendballett), Carolina Borrajo, Ann Drower, Leslie Hughes, Gigi Hyatt, Janusz Mazon und Christian Schön studierten es mit den Kindern und Jugendlichen ein.
Das Ergebnis: top!
Drei Jungs beginnen das poetisch gesonnene Einstiegslied „Jeanie with the Light Brown Hair“.
Eine sanfte Flötenmelodie bildet den Beginn, bevor der Sänger beginnt, von seiner Jeanie mit dem hellbraunen Haar zu träumen. Drei Jungs tanzen synchron diesen Traum – ihre rechten Hände gehen oft hoch, tatkräftig, poetisch, in einer schlängelnden Bewegung.
Simone Dalè, Marià Huguet und Ricardo Urbina Reyes tanzen dieses melancholisch-drängende Liebeslied, wobei Ricardo U. Reyes, ganz außen links stehend, vom ersten Moment an zu faszinieren weiß. Er ist ein äußerst selbstbewusster junger Mann, ein Absolvent der Schule, der passenderweise bereits fürs Bundesjugendballett verpflichtet wurde. Und er hat eine Geschmeidigkeit, eine Körperspannung und auch, bei aller Lyrik, eine dunkle Energie, die uns sicher noch viel von ihm bestaunen lassen wird. Ein kleines Wunder an Bühnenpräsenz ist er dazu!
Aber auch andere Tänzerinnen und Tänzer, deren Namen leider nicht immer vom Besetzungszettel her den Menschen auf der Bühne zuzuordnen sind, glänzen und brillieren – so in einem Pas de deux, der die Schönheit der jugendlichen Liebe und Zuneigung sozusagen auf den Punkt zu bringen weiß.
Es ist erstaunlich, diese Apotheosen und Hymnen an die Schönheit zu sehen und zu hören – und zu wissen, dass sie Foster zwar unsterblich machen, ihm zu Lebzeiten aber recht wenig halfen.
„Beautiful Dreamer“, ein Pas de trois im Adagio mit zwei Jungs und einem Mädchen, ist eines der Highlights innerhalb von „Yondering“, ist musikalisch wie choreografisch von größter Intensität.
Im Sommer, während der Ballett-Tage, wird „Yondering“ ja von sechs verschiedenen Ballettschulen in der Hamburgischen Staatsoper bei der Wiederholung von „Erste Schritte“ aufgeführt.
Dann tanzt nicht, wie jetzt im Juni, Estelle Sallé in „Beautiful Dreamer“, sondern die kanadische Tanzstudentin Hannah Galway. Sie erzählt, dass sie zunächst, bei der Einstudierung, nur auf die Schritte geachtet hat. Um sie zu lernen: „Es war komplett anders als alles, was ich zuvor getanzt hatte!“ Und: „Zu diesem Zeitpunkt erlaubte ich mir noch nicht, wirklich auf die Musik zu hören. Ich wollte mich nicht davon ablenken lassen, auf die Choreografie zu achten.“
Dann las sie den Text und stellte fest, dass es beim Mondlicht und den dazu beschworenen Meerjungfrauen um ein Streben nach etwas geht, das man vielleicht nie bekommen wird. Hannah beschloss, den Song nicht nur mit ihrer besten technischen Form, sondern auch mit ihrer „tiefsten Seele“, ihrer „größten künstlerischen Verfassung“ zu tanzen. Sie meint, es sei beim Tanzen des Stücks genau so wie im Text. Denn sie wisse, dass sie vielleicht nie so gut sein wird als Tänzerin, wie sie es gern wäre. Aber sie wird, zumal in „Yondering“, alles daran setzen, es zu sein. Ein guter Vorsatz! Hoffentlich wird er die Zuschauer in Hamburg im Juli erfreuen!
Während die Mädchen durchaus auch mal dominant sein dürfen in „Yondering“, in aller Zartheit, versteht sich, üben sich die Jungs wie nebenbei in tollkühnen Sprungstücken. Da hüpft einer fast zwei Meter hoch in die Luft, um in einem klassischen Purzelbaum elegant zu Boden zu gehen.
Mit „That’s What’s the Matter“ erreicht „Yondering“ dann einen Gipfel der Zünftigkeit. Wie Handwerkerbuben springen da die Jungs munter umher, Cowboy-Flair inklusive. Violinen kratzen und quietschen wie in bester Western-Saloon-Manier. Dolly, hol den Rüschenrock raus, und Hardy, lass die Klampfe liegen und widme dich der Streicherkunst! Hier geht die Luzi ab!
Und dann springen die Kerls, was das Zeug hält – bis sie ermattet einfach umkippen. Da brauchen sie die Girls, die kommen, um die müden Helden sanft empor zu hieven. Ja, die holde Weiblichkeit gibt Kraft! Und ab in die Kulissen zum Luftholen!
Drei Paare und ein Mädchen bleiben übrig, tanzen die Erholung in sanftmütigen Schritten. Dann sind es vier Paare, dann sechs.
Am Ende zelebrieren sieben tolle Paare zu „Ah! May the Red Rose Live Always!“ ein köstliches Finale, bis sich fast alle am Boden befinden. Nur das eine Mädchen, das die Melodie verkörpert, kreiselt noch lange auch ohne Musik in die Stille hinein, tänzelnd, selbstvergessen, glücklich und beglückend… was für eine Poesie!
Natürlich tost hier der Jubel des Publikums, wie aber schon den ganzen Abend. Die Stimmung bei den „Ersten Schritten“ ist stets sehr gelöst, sehr beifallfreudig – und das liegt nicht nur an den stolzen anwesenden Familienangehörigen, im Gegenteil: Es gibt Leute, die außer zu bestimmten Neumeier-Balletten, auch zu den „Ersten Schritten“ mit Kennermiene eilen, weil sie ein so besonderes Fluidum verströmen.
Es macht halt einfach großen Spaß, den Nachwuchs zu sehen, zumal, wenn er so hervorragend unterrichtet wird wie in Hamburg.
Ein Stück, das diesen Spaß um den Genuss einer typischen, dennoch ganz besonderen Neumeier-Choreografie erweitert, ist „Eine Reise durch die Jahreszeiten“. Es entstand 1988 zu Musik von Alexander Glazunov („Les Saisons“ von 1900) – und enthält überraschend viele Elemente des 2011 entstandenen Neumeier-Balletts „Liliom“. In „Liliom“ geht es um das Jahrmarktgewerbe, in den „Jahreszeiten“ um einen Zirkus. Dennoch erinnern manche Tänzergruppen und einzelne Figuren, manche Dekore und Kostüme an das große Handlungsballett, das Neumeier mit Carsten Jung in der Titelrolle kreierte.
Übrigens tanzte auch Jung mal bei den „Ersten Schritten“, während in diesem Jahr seine beiden Töchter, die auf der Ballettschule sind, hier teilnehmen. Es gibt also auch schon angehende „Tänzerdynastien“ in Hamburg!
Zu Beginn steht die kleine Liv Kukla auf der Bühne, ein Clown mit Gamaschen schläft auf einer Parkbank. Es ist Winter. So auch der Untertitel dieses Einstiegkapitels. Marco Accardi wird den Clown trotz Clownschminke und roter Nase so eindringlich und personalisiert tanzen, dass man von ganz großer Kunst sprechen muss!
Zunächst aber regnet es Schneekonfetti, und ein allgemeines großes Frieren hebt an. Brrrrr! Das kleine Mädchen schaut verloren um sich, irgendwie hat man es wohl vergessen. Tänzer in schwarz-gelb gemusterten Trikots stellen die nackten Äste der Bäume dar und wedeln mit weißen Schleierfahnen (die für Schnee stehen, wie auch in Neumeiers Ballett „Tatjana“ von 2014).
Jemand kommt, als surreale Figur, in sommerlicher roter Hot Pants, mit Schlittschuhen um den Hals und mit Brennholz auf dem Arm vorbei, es ist Ricardo U. Reyes. Er steht für jemanden, der soviel Sonne im Herzen hat, dass ihm die Kälte an sich nicht viel ausmacht. Ja, es gibt diese Sonnenscheinmenschen, die durch vereiste Straßenzüge gehen und man glaubt, sie seien der Frühling oder der Sommer in Person. Reyes ist da natürlich goldrichtig besetzt.
Der lange Mantel des Clowns Marco Accardi erinnert hingegen an den von Sasha Riva kreierten „Mann mit den Luftballons“ aus „Liliom“. Er ist eine fast jenseitige Schicksalsgestalt, hier wie dort, mit Anklängen an eine göttlich-muntere Vorstellung vom ewigen Leben. Wer weiß, vielleicht ist das Paradies eine Comedy!
Der Sportsfreund (Ricardo U. Reyes) entspricht im Stückvergleich jedenfalls Louis, dem unglücklich-glücklichen Sohn von „Liliom“ – und ein Pas de trois vom Clown, dem Kind und dem Sportler finden sich bereits so viele Elemente des menschlichen Daseins, dass man von einer Urfamilie sprechen könnte.
Vielleicht sind Clowns ja heimlich Göttinnen…
In einem Kinderstück darf die Fantasie jedenfalls viel weiter reichen als in einem Erwachsenenstück, und darum kommt hier auch der „Frühling“ mit ganz real verkörperten Blüten einher. Es ist zum Piepen: Die Kleinsten in bonbonbunten Kostümchen rollen sich am Boden herein, und wenn sie sich entfalten, werden sie gleichsam zu Blumen, mit großen „Blütenrüschen“ auf dem Kopf.
Glazunovs Ballett „Die Jahreszeiten“ wurde einst von Marius Petipa im zaristischen Russland uraufgeführt, die Musik ist theatralisch-cineastisch, man meint jedes Aufblühen einer Knospe zu hören.
Was John Neumeier daraus macht, ist allerdings ein originell-modernes Meisterwerk, das offen lässt, ob es sich um einen seiner eigenen Kindheitsträume handelt oder ob es um ein Märchen über die Natur an sich geht.
Jedenfalls sind der Clown, der Sportler und das kleine Mädchen immer mit von der Partie – es geht im übertragenen Sinn natürlich um die Natur des Menschen, die er in den Abläufen im Jahresverlauf wiederzuerkennen meint.
Mit grünen Strumpfhosen und grünen Handschuhen sind hier die Kleinsten der Kleinen jedenfalls die Stars, wenn es heißt: Frühling, erblühe!
Kleine Schmetterlinge, Kinder in Rot, Orange oder Grün, tanzen herein, halten im Laufen rechts und links weitere Schmetterlinge als Requisiten wie Zauberstäbe in ihren Händen. Hui!
Man frohlockt. Und flugs kommt der „Sommer“, mit seinen Strandschönheiten. Die Mädels in metallisch glitzernden Trikots, die hier als Badeanzüge gelten, die Jungs in weißen Höschen mit Gürtel, erinnern an Alain Delon in „Swimming pool“. Unser Sportler schnappt sich eine süße Maid und tanzt einen köstlich unschuldig-verliebten Pas de deux mit ihr. Oh ja, das klappt gut!
Ihre Soli – vor allem seine Sprungkombinationen – reißen das Publikum dann fast vom Hocker, wow!
Aber alle Sommerfreuden enden mal, der Herbst kündigt sich an. Die Musik pausiert. Trauer kriecht in die Stille. Der Clown zieht sein schwarzes Jackett über die helle Sommerkleidung. Mit den schiefen Klängen einer Blockflöte (wer hasst dieses Zwangsinstrument aus dem Klassenzimmer nicht?) versucht er, das kleine Mädchen aufzumuntern. Na, das geht gar nicht! Sie erklärt’s ihm. Süß und naseweiß. Er muss sich also mehr Mühe geben, dann klingt es ganz passabel, und die Kleine dirigiert dazu.
Blätter fallen, weiße Pierrots stürmen herein – der Zirkus kommt!
Mit vielen Luftballons (die wieder an „Liliom“ erinnern), mit einer Lichterdeko im oberen Bühnenraum, einem Wagen voller Prinzessinnen und einer Pferdchentruppe, die aus Girls mit Römerhelm und Pferdeschwänzen auf dem Kopf und am Hintern besteht, wird es jetzt nochmal so richtig bunt und turbulent auf der Bühne.
Der Knüller an Komik: Drei „Muskelmänner“, wie man sie von Zeichnungen und Fotos aus der Belle Époque kennt. Sie tragen Anzüge mit Plastikmuskeln drunter und geringelte Sportanzüge sowie die damals modisch unerlässlichen gezwirbelten Schnurrbärte. Und sie geben mächtig an mit ihre aufgeblasenen „Eisen“-Kugeln an Stangen, mit denen sie sich scheinbar im Gewichtheben üben.
Bis das kleine Mädchen kommt und auch eine „Eisenstange“ hebt! Na, das kann doch nicht wahr sein, ein Muskelmann stürmt vor und nimmt ihr das vermeintlich schwere Ding ab, naja, er markiert gleich wieder große körperliche Anstrengung…
Und erst nach einem großen tollen Finaletanz zieht der Zirkus weiter, das kleine Mädchen winkt hinterher. Und ist erstmal wieder ganz allein, bis der Clown zurückkehrt. Er lässt sie nicht im Stich, und zusammen kreiseln sie auf dem Platz, er lässt sie dabei „fliegen“, eine Umdrehung lang und noch eine und noch eine… bis der Vorhang fällt.
Was für eine liebliche, herzensgute Referenz an das Ende mancher klassisch-russischer Ballette, bei denen sich das Liebespaar bis zum Vorhangfallen besinnungslos vor Glück im Kreis dreht!
Man kann das, wenn man sich balletthistorisch dafür interessiert, besonders schön auch auf der „Schwanensee“-DVD mit Roberto Bolle und Svetlana Zakharova aus der Mailänder Scala sehen.
Vladimir Burmeister choreografierte das Stück mit diesem Happy Ending 1953 so, und es ist seine Inszenierung, die auf der DVD zu sehen ist: Sie ist ganz im Sinne einer berauschenden Revue gehalten, aber auch unter Zitierung der altklassischen Richtlinien.
Das Stuttgarter Ballett wird Burmeisters Inszenierung übrigens kommende Spielzeit einstudieren (und damit ganz sicher mehr punkten als mit der jüngsten, ziemlich blutig-peinlichen Uraufführung einer versauten „Salome“ von Demis Volpi, die denn auch von allen Kritikern, die über genügend Herz und Intellekt verfügen, verrissen wurde, vorab bereits schon wegen der unreflektierten Stückwahl im ballett-journal.de).
Zurück in die Hamburgische Staatsoper! Hier tobte der Applaus, und ein wirklich schöner großer Blumenkorb betonte, dank des blumigen Mäzenatentums eines Hamburger Unternehmens, dass auch die Arbeit von noch sehr jungen Künstlerinnen und Künstlern durchaus ernst zu nehmen ist.
John Neumeier wurden denn auch weiße Pfingstrosen (seine Lieblingsblumen) überreicht, und Gigi Hyatt als seine Stellvertreterin und Pädagogische Leiterin der Schule erhielt rosarote Pfingstrosen – Träume von Blumensträußen!
Alle Lehrer, die jetzt auch mal auf die Bühne kommen dürfen, verdienen das Johlen und den Applaus, und natürlich sagt das Publikum damit nun eben das, womit die kleinen Künstler den Abend begonnen hatten: „Wir danken!“
Gisela Sonnenburg
Wieder am 4. Juli 2016 in der Hamburgischen Staatsoper