Ein Triebschicksal für Liebende Das Hamburger Kino Passage zeigte noch einmal John Neumeiers „Die Kameliendame“: mit Svetlana Zakharova aus dem Bolschoi-Theater

"Die Kameliendame" ist unverwüstlich.

Svetlana Zakharova auf der Couch: Als „Die Kameliendame“ begeistert sie im Bolschoi wie im Kino. Foto: Damir Yusupov

Ich beschloss, als Teenager, nach einer Vorstellung der „Kameliendame“ (und es war nicht die erste „Kameliendame“ von John Neumeier, die ich sah) spontan meine tatsächliche spätere Berufswahl: „Kritikerin!“ So steht es in meinem Tagebuch aus jener Zeit. Ob mir die Tragweite dessen damals bewusst war? Keine Ahnung. Jedenfalls wollte ich nicht nur öffentlich herummäkeln, sondern ich wollte vor allem auch verkünden, wie großartig gerade dieses Ballett sei und warum es das sei. „Die Kameliendame“, das hatte ich früh erkannt, ist etwas Besonderes, ein absolut hochrangiges Stück, dem „Schwanensee“ mindestens ebenbürtig. Ich wollte denn auch unbedingt lernen, sprachlich und schriftlich fasslich zu machen, was daran so faszinierend sei. Mehr noch: Ich las und schrieb ohnehin viel, und jetzt wollte ich eigene Kriterien für die Vermittlung und Bewertung von Kunst herausfinden und sie, etwa durch das Schreiben, auch selbst praktizieren. Journalismus ist schließlich auch ein Stück Kultur. Das war schon damals meine Überzeugung. Das Kino Passage in Hamburg, das mit den Veranstaltern von „Tanz im Kino“ regelmäßig Ballett aus dem Moskauer Bolschoi-Theater zeigt, hat mich an dieses alte Versprechen, das ich mir selbst damals gab, erinnert.

Gezeigt wurde am letzten Sonntag noch einmal „Die Kameliendame“ in einer Aufzeichnung vom 6. Dezember 2015, in der Moskauer Premierenbesetzung vom 20. März 2014: mit einer atemberaubend schön leidenden Svetlana Zakharova in der Titelrolle. Man versinkt nur zu gern in den angenehm geräumigen und nachgiebigen Sitzpolstern des Kinos, um so etwas zu genießen.

"Die Kameliendame" ist unverwüstlich.

Noch einmal: Frau auf Sofa sprich Lady Zakharova als „Die Kameliendame“ von John Neumeier im Bolschoi-Theater auf dem Diwan. Eine Erbauung! Foto: Damir Yusupov

1978 in Stuttgart mit Marcia Haydée uraufgeführt und 1981 in Hamburg zur heutigen Version überarbeitet, ist das Ballett „Die Kameliendame“ zweifelsohne das bedeutendste Werk von John Neumeier, vielleicht sogar des 20. Jahrhunderts überhaupt. Brigitte Lefèvre, einst Ballettdirektorin der Pariser Opéra, formulierte es mal so: „ ‚Die Kameliendame’ ist die ‚Giselle’ des 20. Jahrhunderts.“ „Giselle“, dieses große romantische Ballett von 1842, hat allerdings keine Luxusnutte zur Hauptperson, auch wenn es ebenfalls einen sozialkritischen Hintergrund hat.

Es ist schon unerhört frivol, Ballette in romantischem Outfit rund ums Thema Hurenliebe zu kreieren! Neumeier war aber nicht der Erste. 1963 führten Rudolf Nurejev und Margot Fonteyn den Einakter „Marguerite and Armand“ auf, von dem englischen Choreografen Frederick Ashton (1904 – 1988). Ihre Kostüme darin werden von Jürgen Rose in Neumeiers „Kameliendame“ zitiert, ebenso wie viele choreografische Details in den Pas de deux von Neumeier. Die literarische Grundlage beider Ballette ist dieselbe: „Die Kameliendame“, der Roman von Alexandre Dumas fils, 1848 erstmals publiziert.

Zwischen Ashtons und Neumeiers Beitrag lag aber noch ein anderes Event in der Ballettwelt, das die Liebe zu einer Prostituierten zum Thema hat: 1974 fand die Uraufführung von Kenneth MacMillans „Manon“ nach dem entsprechenden Roman von Abbé Prévost (1731) statt. Auch hier geht es um ein käufliches Mädchen, das den Luxus schätzt – und um einen jungen, naiven Mann, der in Liebe zu ihr entbrennt.

In „Manon“ begleitet der Geliebte seine Flamme in die Strafkolonie, wo sie in seinen Armen an Entkräftung stirbt. In der „Kameliendame“ trennt sich die edelmütige Hure von ihrem Liebhaber, weil dessen Vater sie dazu moralisierend nötigt. Sie glaubt dabei, im Interesse des jungen Mannes zu handeln, bevor sie vereinsamt an Lungentuberkulose stirbt.

Beide Mädchen sterben jung und angeblich noch schön – natürlich sind es gloriose Kitschgeschichten, die dennoch von sexueller Hörigkeit, von wahren Gefühlen und von gesellschaftlichen Tabubrüchen erzählen. Ihre Faszination, darüber sollte man sich nicht selbst belügen, beziehen diese Geschichten aber natürlich aus der Dialektik der käuflichen und der rein menschlichen Liebe.

Unser Wirtschaftssystem macht diese Storys topaktuell. Der Kapitalismus degradiert jeden Menschen zur Ware und zum Konsumenten, in welcher Hinsicht auch immer. Zudem fluten Bilder von erkaufter Sexiness unsere Gehirne ebenso wie die von verkaufter Sexiness. Man(n) kann der Prostitution zudem kaum noch aus dem Wege gehen, in solcher Häufung tritt sie (auch dank unersättlicher Nachfrage) auf. Und: Man muss sich mit ihr auseinandersetzen, man muss eine Haltung zu ihr finden.

Feministen wissen, dass es ohne Huren noch mehr Vergewaltigungen und sexuelle Unterdrückung geben würde. Andererseits macht die allgemeine Käuflichkeit jede Frau ein Stück weit zur Nutte, solange sie nicht dieselben Möglichkeiten zur beruflichen und persönlichen Selbstverwirklichung hat wie die Männer.

Diese wiederum sind von käuflichen Frauen ungleich faszinierter als Frauen es von käuflichen Männern sind. Ob das nur am Unterschied der Portemonnaiegröße liegt? Ob jemand, der Sex als Dienstleistung ausübt, nun wirklich „besser“ im Bett ist als ein „Laie“, ist sicherlich auch Geschmacksache.

Tatsache aber ist, dass die unter religiösem ebenso wie unter kommerziellem Druck entstandende Einschränkung der sexuellen Aufklärung, mit der wir es in vielen Parzellen unserer Gesellschaft zu tun haben, ein sehr großes Problem darstellt. Dabei gibt es so viele konkrete Fakten rund ums Thema Sexualität, die es wert wären, allgemein bekannt zu sein! Aber die verordnete Heuchelei, mit der sich die meisten kommerziellen Medien umgeben, läuft da eher kontraproduktiv gegen an.

„Die Kameliendame“ jedenfalls, nach den Blumen benannt, den die Hauptperson Marguerite stets bei sich trägt, ist von ihrem ersten Auftritt an vom Mysterium des Sexus als Beruf umgeben.

"Die Kameliendame" ist unverwüstlich.

Svetlana Zakharova – eine Traumbesetzung der „Kameliendame“, wenn auch nicht die einzig brillante in unserer Tanzgegenwart. Hier mit Edvin Revazov in John Neumeiers „Kameliendame“ am Bolschoi. Foto: Damir Yusupov

Svetlana Zakharova meistert das lässig– ohne auch nur den Hauch eines Problems. Diese ungekrönte Königin des zeitgenössischen Balletts, eine Jahrhundertballerina der Präzision, die so ziemlich alles getanzt hat, was wichtig ist, musste diese Rolle auch einfach haben, es hätte ihr sonst ein funkelndes Juwel in ihrem Repertoire gefehlt. Im letzten Sommer sah das Publikum der Nijinsky-Gala in Hamburg als Kostprobe den „Schwarzen Pas de deux“ aus der „Kameliendame“ mit ihr und Edvin Revazov – es war hinreißend, zumal die Eleganz und die hohe Intelligenz der Zakharova in jeder ihrer Gesten spürbar waren, auch wenn Revazov sich auffallend zurückhielt.

Svetlana Zakharova – sie ist zu Recht ein Superstar des Balletts, eine vielseitige und anpassungsfähige Tänzerin, von großer technischer Virtuosität und feinfühlig geschliffenen Ausdrucksmöglichkeiten. Sie ist übrigens zudem die einzige Ballerina, die während ihrer aktiven Tänzerzeit ein politisches Amt ausfüllte, sie war für eine Legilasturperiode als Abgeordnete in der Duma für Kultur zuständig. Das Pendeln zwischen Ballett- und Politbühne muss aber sehr anstrengend gewesen sein; letztlich überwog ihre Liebe zum Tanz, von der sie lediglich für die Geburt ihrer Tochter mal eine Pause nahm.

Jetzt ist sie schon seit Jahren wieder „nur“ Vollzeit-Tänzerin, zum Glück ihrer zahlreichen Fans. Offiziell ist Zakharova 36 Jahre alt, aber sie tanzt mit einer Erfahrung und Reife, mit der man sie im positiven Sinn auch für um die 40 halten könnte.

"Die Kameliendame" ist unverwüstlich.

Träumt von mehr als von Luxus: Svetlana Zakharova als „Die Kameliendame“ im violetten Kleid. Foto: Damir Yusupov

Im ersten Pas de deux der „Kameliendame“, dem „Spiegel-Pas-de-deux“, auch „Violetter Pas de deux“ oder „Blauer Pas de deux“ (nach der Farbe ihres Kleides) genannt, charmiert und kokettiert sie, dass es eine Wonne ist, ihr zuzusehen.

Marguerites stummes Leiden sowohl unter der Tuberkulose als auch unter der Oberflächlichkeit der sich selbst feiernden Halbwelt, in der sie sich bewegt, formuliert sich in lang ausgestreckten Port de bras, in vornehm hin- und hergerückten Füßen und in edel kontrollierten Gesichtszügen.

Schon, wie sie sich, in der Rolle erschöpft, gleichsam lebensmüde, auf die Chaiselongue lagert, verströmt eine Intensität, die ihresgleichen sucht. Die Entwicklung ihrer Figur ist akkurat, glasklar, sie wurde offensichtlich strikt konzeptgerecht erarbeitet und durchgestylt: Durch die Liebe zu einem nicht gerade vermögenden jungen Mann erwacht in dieser mondänen Nobelschlampe eine Freiheit und eine Moral, die sie beide vorher nicht kannte.

"Die Kameliendame" ist unverwüstlich.

Im „Weißen Pas de deux“ in der „Kameliendame“ werden Armand und die Titelheldin endlich ein passendes Paar. Foto: Damir Yusupov

Der „Weiße Pas de deux“ im zweiten Akt ist denn auch selten so anrührend getanzt worden wie von Svetlana Zakharova. Er ist der Höhepunkt des Balletts, was glückliche Verliebtheit angeht, und seine Hebungen und Solo-Passagen lassen einen nachgerade mit in die Luft gehen vor Happiness.

Dennoch ist hier auch die Verlustangst, die Furcht, dieses Glück sei bedroht, mit enthalten. Eben darum ist es so eine fantastische choreografische Arbeit: Sie feiert den Moment nicht, als wenn er ewig wäre, sondern mit dem Wissen um seine Vergänglichkeit.

"Die Kameliendame" ist unverwüstlich.

Ein Paar ist verliebt, aber es ahnt, dass sein Glück nicht von Dauer sein wird: Edvin Revazov als Armand und Svetlana Zakharova als „Kameliendame“ in John Neumeiers gleichnamigem Ballett. Foto: Damir Yusupov

Viele hervorragende Tänzerinnen und Tänzer haben mit diesem Stück Tanzkunst schon brilliert. Allein Roberto Bolle tat es mit diversen superben Partnerinnen, von Alessandra Ferri über Julie Kent bis zu Hélène Bouchet. Alina Cojocaru wiederum bot mit Alexandre Riabko ein schlüssiges Paar. Anna Polikarpova, Lynne Charles, Marianne Kruuse, natürlich auch Marcia Haydée, vor allem aber Lucia Lacarra sind weitere legendäre Kameliendamen. All jene von Brigitte Lefèvre in Paris aufgestellten Primaballerinen sowieso, von der eher schlichten Agnes Letestu bis zur hoch kapriziösen Isabelle Ciavarola.

Der „Weiße Pas de deux“ ist, ebenso wie die beiden anderen großen des Stücks, zudem eine äußerst beliebte Gala-Nummer, und wer Alban Lendorf, der heute beim American Ballet Theatre in New York tanzt, und Ida Praetorius, die weiterhin in Kopenhagen brilliert, damit sah, wird es niemals vergessen können: kindhaft, dennoch erwachsen, auf gleicher Augenhöhe, aber ohne aufgesetzte Affektiertheit boten sie eine aufregende und erfrischende Interpretation an.

Svetlana Zakharova ist da natürlich ein anderes Kaliber. Ihre Marguerite ist niemals naiv, eher cool. Diese Kameliendame hat gelernt, ihre Gefühle zu beherrschen, und wer ausgesprochen dramatische Darstellunsgweisen liebt, wird von ihr sogar etwas enttäuscht sein. Dafür präsentiert sie exzellente Linien, obwohl ihr die Kostüme mit dem tiefen Taillensitz überhaupt nicht stehen.

Man sollte aber auch endlich aufhören, sich an den Originalkostümen für dieses Stück von Jürgen Rose so festzuhalten – und lieber Kleider entwerfen lassen, die die Stärken der jeweiligen Protagonisten betonen. Die Tänzerkörper waren vor dreißig Jahren andere, sie waren weniger schlank und weniger hoch gewachsen, dafür kurviger und weniger „bügelbrettartig“. Svetlana jedenfalls wäre ein Neuentwurf sehr zu wünschen gewesen.

Und, leider, auch ein anderer Partner. Der Jüngling Armand, der sich in sie Knall auf Fall verliebt, sollte eigentlich jugendliche Kraft mit stürmischer Verliebtheit in sich vereinen. Wenn er erstmals Marguerites Hand ergreift und sie küsst, sollte das nicht aussehen, als sei er im Bordell bereits Stammgast und im anzüglichen Handküssen so etwas wie ein selbsternannter Weltmeister. Genau das passierte aber bei der Aufzeichnung.

"Die Kameliendame" ist unverwüstlich.

Wenigstens die Hebungen stimmten: Edvin Revazov vom Hamburg Ballett konnte als Armand in „Die Kameliendame“ mit Svetlana Zakharova den Koryphäen vom Bolschoi Ballett nicht das Wasser reichen. Foto: Damir Yusupov

Als Svetlana Zakharovas Armand war nämlich nur wieder Edvin Revazov vom Hamburg Ballett zu sehen – wie die Moderatorin betonte, ist er einer der „Lieblingstänzer“ von John Neumeier: ansonsten wäre sein Einsatz auch kaum zu erklären gewesen. Mit den ausdrucksstarken Bolschoi-Tänzern hielt er jedenfalls nicht gut mit, er wirkte blass, eindimensional, ohne Brillanz. Drei Stunden lang zeigte er dasselbe einstudierte „beseelte“ Grinsen im Wechsel mit einem ebenso eintönigen „verbitterten“ Gesischtsausdruck. Am Anfang spielte er, wenig schlüssig, vor Trauer eine Art Übelkeit, am Ende ein maskenhaftes Entrücktsein. Grimassenhaft war das. Gruselig. Wenig ergreifend. Immerhin klappten die schwierigen Hebungen, Revazov war zudem sehr musikalisch im Takt – und als Interpretation eines netten Jungen von nebenan mag sein Armand so gerade noch durchgehen.

Mit all den Hochkarätern, die diese Rolle auch schon tanzten, mag man ihn aber nicht mehr in einem Atemzug nennen.

Etwa mit Artem Ovcharenko, einem in voller Blüte stehenden, wild-dramatischen, dennoch auch lyrisch-poetischen Star des Balletts, der in Moskau ebenfalls den Armand tanzt.

"Die Kameliendame" ist unverwüstlich.

Auch eine tolle Bolschoi-Ballett-Besetzung des Hauptpaares in der „Kameliendame“: Vladislav Lantratov und Evgenia Obraztsova, hier im „Weißen Pas de deux“. Man würde sie gerne mehr sehen! Foto: Damir Yusupov

Auch Vladislav Lantratov, ebenfalls ein schillernd brillierender Star, tanzt am Bolschoi den Armand, mit der in Rollen wie Tatjana und Marguerite mitreißend pathetischen Evgenia Obraztsova, die ganz heimlich meine russische Favoritin ist.

Zurück zu den Herren und dazu, warum man sich mit der Besetzung des Armand mit Edvin Revazov nicht abfinden mag. Außer einer wörtlich guten Figur hatte Revazov bei der Aufzeichnungsaufführung nämlich wirklich nicht mehr viel zu bieten. Zeitweise schämte man sich für ihn, wenn man daran dachte, dass er, der aus der Ukraine stammt, für die Länge des Stücks die deutsche Ballettkultur in Moskau verkörperte.

Man wird mir diese harten Worte in Hamburg übel nehmen – aber ich halte es für meine Pflicht, hier die Wahrheit zu schreiben. Jeder, den ich sprach und der sich im Ballett auskennt, pflichtete mir bei.

Soweit ich Videos gesehen habe, tanzte Edvin Revazov bei der Moskauer Premiere 2014 die Partie noch sehr viel besser, und auch bei der letzten Hamburger „Kameliendame“, ebenfalls 2014, brillierte er mit einem sehr differenzierten, expressiven Spiel und hohen, sicheren Sprüngen.

Diese seine Kraft als Primoballerino ist indes vorerst Vergangenheit, so scheint es; vermutlich liegt das an einer schweren Verletzung, die er erlitt und wegen der er auch lange pausieren musste. Seitdem sind nach meiner Beobachtung mit ihm nur noch kleine Partien möglich, also solche, die technisch geringe Ansprüche stellen. Da kann er sich besser konzentrieren und auch wieder ausdrucksstärker spielen, etwa als „Konzeptionist“ in Neumeiers „Liliom“.

Als Prinz oder in einer ähnlich tragenden Rolle aber ist Edvin Revazov, mit Verlaub, eine langweilige Katastrophe geworden, zumindest, wenn man internationale Maßstäbe anlegen will. Auch wenn seine (weiblichen und schwulen) Fans – die vor Begeisterung ausrasten, kaum, dass er auf der Bühne steht – das ganz sicher nicht wahrhaben wollen.

"Die Kameliendame" ist unverwüstlich.

Semyon Chudin, Principal beim Bolschoi-Ballett, war die Sensation in der Kino-Aufzeichnung der „Kameliendame“ von John Neumeier: Chudin tanzte den Des Grieux, die zweite männliche Hauptpartie – mit spielerischer, dennoch eleganter Süße, mit Geschmeidigkeit und sicherer Standfestigkeit. Zum Jubeln schön! Foto: Bolschoi

Dafür gab es im Kino aber mit Semyon Chudin eine sensationelle Überraschung! Der Principal vom Bolschoi tanzte in der „Kameliendame“ die Rolle des Des Grieux, und noch nie in mehr als dreißig Jahren habe ich diese Partie so fantastisch und brillant interpretiert gesehen.

Endlich wurde auch ihr choreografischer Ursprung, die „Manon“ von Kenneth MacMillan, den John Neumeier hierin zitiert, vollends offenbar. Neumeier hat Manon und Des Grieux als Theater- und Traumfiguren von Marguerite und Armand in das Libretto eingeflochten, vom ersten bis zum dritten Akt, wie ein Leitmotiv; ein wirklich beglückender Schachzug, um der sonst etwas flachen Lovestory nicht nur eine Doppelung, sondern auch noch mehr Substanz zu verleihen.

Tatsächlich ist zudem vor allem in dritten Akt an der Manon-Des-Grieux-Choreografie in der „Kameliendame“ in den letzten Jahren noch Einiges geändert worden, durchaus auch zu deren Wohl. Auch wenn das seither gängige Entkleiden der Manon, damit sie, ebenso wie Marguerite in dieser Szene, im Unterkleid die Fantasie anregt, dramaturgisch meiner Meinung nach zuviel ist, denn das suggeriert Gruppensex, den Manon zumindest bei MacMillan nie hatte: Was an Schritten neu kombiniert wurde, ist aber sehr gelungen.

Auch der Pas de trois von Des Grieux, Manon und der sterbenden Marguerite gehört in dieser Bolschoi-Interpretation meiner Meinung nach zum Besten, was in den letzten Jahren in der Ballettwelt zu sehen war!

Semyon Chudin tanzt zudem so geschmeidig, lieblich, fast englisch-süß, so nobel und verzückt-verzückend, dass man sich im siebenten Himmel des Balletts wähnt. Er hat wahrhaft Bolschoi-Niveau, obwohl er nicht Kraftmeierei oder Tollkühnheit seine Tugenden nennen muss. Seine Pirouetten, Arabesken und Port de Bras, aber auch seine Fußarbeit, seine Hüftneigungen und Kopfbewegungen sind delikat, dennoch klar; geradlinig und exakt, aber dennoch leidenschaftlich. Chudins Soli waren denn auch die absoluten Höhepunkte der Aufzeichnung, sie toppten sogar noch die zwra begeisterungswürdigen, aber eben auch etwas unterkühlten Darbietungen der Zakharova.

"Die Kameliendame" ist unverwüstlich.

Anna Tikhomirova ist nicht nur eine schöne Frau, sondern auch eine ausdrucksstarke Ballerina – sie tanzte die Manon, das Seelenbild der Titelfigur, in der „Kameliendame“ von John Neumeier, in der Kino-Aufzeichnung des Bolschoi-Balletts. Foto: Bolschoi

Anna Tikhomirova als Chudins Partnerin Manon bot hingegen eine riskante, letztlich aber auch sehr schlüssige Neuinterpretation der Manon. Sie ist eine Aufregung wert! Diese Partie ist nämlich eigentlich als durch und durch lyrisch angelegt. Silvia Azzoni zum Beispiel beherrschte das in ihren besten Jahren par excellance! Aber die Tikhomirova wurde jetzt ganz anders gecoacht. Sie darf die Manon sinnlich-erdverbunden tanzen, mit einer starken, liebevollen Energie in alle Richtungen.

Im ersten Akt wirkt das noch etwas unsicher und darum auch verwirrend aufs Publikum. Tikhomirova gewinnt aber von Auftritt zu Auftritt an Stärke – und im dritten Akt hat sie (wiewohl in den Balancen manchmal etwas wacklig) eine umwerfend charmant-expressive Kraft. Da gibt es herrlich fordernde Tendus und melodisch geprägte Pirouetten en attitude. Tikhomirovas Manon ist nämlich kein entseelter Todesengel, sondern ein Wesen mit menschlichen Gefühlen, das durchaus auch mit leidvollem Neid auf die Titelfigur schaut, weil letztere vor ihrem Tod noch einmal die Süße der großen Liebe und somit auch der fleischlichen Leidenschaft zu zweit auskosten darf.

Denn darum geht es nun mal in der „Kameliendame“: um den Sex, und es wäre Unsinn, all den Rüschen und mittlerweile etwas verschmockt wirkenden Volants in Jürgen Roses Bühnenausstattung zu viel Glauben zu schenken, um hier alles einfach als „Romantik“ einzustufen.

Nein – es geht, knallhart, um die Wonnen durch die sexuelle Liebe. Der Trieb ist hier Kult, nicht die Schwärmerei!

Die Hauptfigur ist denn auch nicht einfach so eine Luxuskurtisane. Sondern die Männer, auch unser jugendlicher Held Armand, verlieben sich in sie, weil sie glauben, sie sei die Beste im Bett. Das ist der Mythos. Prostitution ist nun mal keine Leihbibliothek.

Insofern ist es fast zu verstehen, wenn auf der Homepage vom Bolschoi vor der „Kameliendame“ gewarnt wird: „Adults only“. „Nur für Erwachsene!“

Oje. Besonders aufklärerisch ist das allerdings nicht. Mich hätte man mit 16 Jahren womöglich gar nicht reingelassen! Ob ich dann Kritikerin geworden wäre? Böse Zungen werden jetzt lästern und sofort ein Verbot für Teenager im Publikum  erotisch oder sexuell konnotierter Kunstdarbietungen fordern.

"Die Kameliendame" ist unverwüstlich.

„Adults only“ – „nur für Erwachsene“. Auch das ist eine Form von Zensur: Wenn Kindern und Jugendlichen ein aufklärendes Ballett vorenthalten wird. Mit Kulturaustauch hat das nichts mehr zu tun, nur noch mit Kulturaufkaufen. Faksimile: Gisela Sonnenburg

John Neumeier hätte meiner Meinung nach jedenfalls dafür kämpfen müssen, dass man seinem Ballett die Offenheit für jedermann, jedefrau und jedeskind lässt. Statt dessen ließ er auch noch zu, dass in einer Szene, in der man einen Tänzer nackt von hinten sehen muss – als Eifersuchtshalluzination des Armand – dieser nackte Liebhaber der Marguerite einen geräumigen hautfarbenen Schlüpfer trägt. Das ist der lächerlichste Moment der Aufzeichnung: Der männliche Held visioniert Eifersuchtswahn im Verbund mit einem bis zum Bauchnabel reichenden Liebestöter. Grauenvoll.

Niveauvolle Aufklärung über Nacktheit und Sex ist derweil gerade für Jugendliche wichtig. Kunst und Kultur können hier ausgleichen, was ansonsten durch stumpfsinnige Erwachsene oder auch durch pornografisch versaute Internet-Medien unmöglich ist. Die Russen sind indes wirklich schlimm geworden, mit ihrem gesetzlich von Putin sanktionierten Hass auf Homosexuelle – und auch mit der übertriebenen Rücksichtnahme auf falsche religiöse Gefühle.

Prüderie ist indes niemals heilsam und auch kein Schutz vor sexuellen Straftaten. Im Gegenteil. Je mehr Tabus diese Welt beherrschen, desto einfacher sind die Schwachen zu missbrauchen. Aber vielleicht will das neureiche russische Patriarchat ja genau das.

Liebe und Sex als Triebschicksal. Wir widmen uns hier mal der Wahrheit. Niemand hat immerzu die ganz freie Wahl des Liebhabers oder der Liebhaberin, auch die „Kameliendame“ und ihr Armand nicht. Wir agieren unseren Prägungen, Sozialisierungen und Traumatisierungen gemäß. Liebe heißt: passende Triebschicksale treffen aufeinander. Manchmal führt das, wie hier, dann auch dazu, dass die Sache gar nicht gut ausgeht.

„Fatalité“ sagen die Franzosen dazu, was ist mit Verhängnis, Determination, Schicksalhaftigkeit zu übersetzen ist. Jedenfalls gibt es kein Entrinnen, zumal nicht, wenn der Mensch höchstes Glück fühlen und teilen will.

Ostern 1978 war der Urlaub im Bayerischen Wald schwer verregnet. Im örtlichen Buchladen gab es ein neues Taschenbuch von Knaur: „Die Kameliendame“ mit Greta Garbo auf dem Titelbild – das kitschige Filmplakatmotiv war allerdings abschreckend. Ich griff dennoch zu, verspeiste ich doch in den Ferien pfundweise Literatur.

Ich las das Buch bis heute gefühlte 22 222 Male. Damals, mit zarten dreizehn Jahren, immerhin: gleich zwei Mal am Stück. Außerhalb der Ferien versuchte ich in jenen Jahren außerdem, die kniffligen Walzer und Nocturnes von Frédéric Chopin am Klavier in den Griff zu kriegen. Eher umsonst. Meine Finger taugten schon immer für so Einiges, etwa zum Schreiben oder um mich an der Barre festzuhalten, aber nicht wirklich fürs Klavierspielen. Meine Schallplatten mit Chopin ließ ich mir aber nicht nehmen, fleißig dudelten die Melodien durchs Jugendzimmer, ob ich dazu gerade ausgelassen tanzte oder nicht. Und meine Klavierlehrerin musste, um mich zum Üben auf meinem „Feuerbach“-Klavier zu motivieren, mir ihrerseits auf ihrem „Steinway“ zuerst einen Chopin vorspielen. Am liebsten hätte ich dann noch einige Ballerinen dazu gehabt.

Ein halbes Jahr später brachte John Neumeier dann die Dinge zusammen: „Die Kameliendame“, das Ballett und Chopins Musik. Ursprünglich hatte er ein Ballett über Kleopatra für Marcia Haydée in Stuttgart kreieren wollen. Aber dann entschied er sich spontan um und nahm sich den Roman von Dumas vor.

"Die Kameliendame" ist unverwüstlich.

Svetlana Zakharova vom Bolschoi-Ballett als „Kameliendame“ in den Armen von Edvin Revazov vom Hamburg Ballett als Armand. Foto: Damir Yusupov

Die Ähnlichkeit der „Kameliendame“ einerseits mit „In the Night“ von Jerome Robbins (1970), das ebenfalls zu Musik von Chopin kreiert wurde, sowie vor allem mit dem allerdings viel schwächeren Ballett „Marguerite and Armand“ von Frederick Ashton (1963) ist dabei unverkennbar. Ashton hatte Musik von Franz Liszt verwendet – und mit einigen Paarkonstellationen für Neumeier unwissentlich Steilvorlagen geliefert.

Neumeier zitiert die Ashton-Arbeit vor allem im ersten Kern-Pas-de-deux. Es ist das Liebesgeständnis Armands, vorm Spiegel und auf dem Diwan der Angebeteten, es findet unter vier Augen in ihrem Privatgemach statt, weitab von der hysterisch feiernden Society.

Dieser Tanz voll Demut und Verlangen besticht mit Hebefiguren, die wie hoch gelegte „Fische“ anmuten; mit einem heftigen „Krallen“ des Mannes; mit rhythmischer Fußarbeit der Frau, die sich zu wehren scheint.

Bei Svetlana Zakharova sieht all das schwebend leicht aus. Scherz und Kummer verbinden sich zu einer Art Tapferkeit, die sich zu einer grandiosen Damenhaftigkeit steigert. Wenn Zakharova den Oberkörper beugt, so ist das, als biege der Wind eine Palme – und wenn sie ihre fantastischen Füße ausfährt, so möchte man auf der Stelle niederknien und sich in die getanzte Poesie meditativ versenken. Eine großartige Künstlerin!

"Die Kameliendame" ist unverwüstlich.

Svetlana Zakharova, als Marguerite in „Die Kameliendame“ von John Neumeier im „Schwarzen Pas de deux“ – eine Frau sieht ihren Liebhaber, von dem sie sich seinetwegen getrennt hatte… Foto: Damir Yusupov

Den „Weißen Pas de deux“ habe ich weiter oben schon kurz beschrieben – ihre fast ins Kannibalistische gesteigerten Pendants finden der „Violette Pas de deux“ und der „Weiße“ gen Ende im „Schwarzen Pas de deux“: noch höher fliegt hier die Frau, noch heftiger zerrt der Mann an ihr, noch leidensbereiter gibt sie sich hin, noch inniger verschmelzen sie. Sowas hätte Frederick Ashton nie gekonnt und auch nie gewollt. Amour fou, Amour fatal – fast verschlingen die beiden Liebenden einander, während sie miteinander das Loblied der großen Leidenschaft tanzen.

Allerdings: Wie die damaligen Stuttgarter Stars Sue Jin Kang und Marijn Rademaker diesen „Schwarzen Pas de deux“ tanzten, ist für mich unerreicht. Armands animalisches, dennoch auch respektvolles Verlangen formulierte Marijn mit einer Inbrunst und dennoch einer Akkuratesse, die ans Herz ging, er tanzte wie ein begehrend Versessener, als sei es ein Film von Paolo Bertoluzzi. Und Sue Jin Kang hat einfach die perfekten Proportionen für diese Rolle, zudem eine Leichtigkeit, die immer auch ins Tragische geleiten konnte.

Nur Lucia Lacarra und Marlon Dino vom Bayerischen Staatsballett kommen an diese Intensität meiner Meinung nach noch heran. Am 6. April 2016 werden sie in München wieder damit zu sehen sein – für Ballettfans ein Muss.
Gisela Sonnenburg

Zu Lucia Lacarra in der Titelrolle geht es hier:

www.ballett-journal.de/bayerisches-staatsballett-die-kameliendame/

Zu Alina Cojocaru in der Titelrolle bitte hier:

http://ballett-journal.de/bayerisches-staatsballett-kameliendame-cojocaru/

Zu „Manon“ von Kenneth MacMillan geht es hier:

www.ballett-journal.de/semperoper-ballett-manon-premiere/

Zu „In the Night“ von Jerome Robbins geht es hier:

www.ballett-journal.de/bayerisches-staatsballett-balanchine-robbins-barton/

Und zu den Vorstellungen in München bitte hier:

www.bayerisches-staatsballett.de

www.tanzimkino.de

 

 

 

ballett journal